Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fritz Stavenhagen

In der Geschichte der deutschen Literatur tritt folgende Erscheinung mit einer gewissen Regelmäßigkeit immer wieder auf: ein Dichter wirft eine Anzahl von Werken hohen Wertes, voll neuen Empfindens in die Welt hinaus. Er findet wenig, vielleicht gar keinen Widerhall. Er stirbt jung, Jahre, Jahrzehnte hindurch ruht Schutt auf den Kunstwerken. Vergessenheit umfängt sie. Und dann, mit einemmal, taucht erst hier, dann dort der Name des Toten wieder auf. Er wird gewissermaßen neu entdeckt, und dieselbe Gegenwart, die vielleicht gegen ein gleichzeitiges Talent ebenso sündigt, hält der Vergangenheit alle ihre Sünden vor. Insbesondere wenn eine neue Bewegung beginnt, pflegt sie vergessene Talente wieder ans Licht zu ziehn, und sogar der jüngste Sturm und Drang, zu dessen hervorragendsten Eigenschaften Pietät ja nicht gehörte, hat versucht, das Andenken Wilhelm Waiblingers etwa oder Daniel Leßmanns neu zu beleben.

Demgegenüber haben wir, und wir in Hamburg ganz besonders, in den letzten Jahren eine Bewegung erlebt, die im Gegensatz zu allen frühern das Ziel hatte, einen Poeten, der eben noch unter uns wandelte, dahin zu stellen, wohin das Urteil der Besten ihn rief. Und man darf wohl sagen, daß vielleicht der am stärksten tragische Zug in diesem Erlebnis, das uns ja allen gemeinsam war, der ist, daß diese Bewegung für Fritz Stavenhagen – denn von ihm spreche ich – eigentlich nur eine Fortsetzung ist des anhebenden Siegeszuges, den er selbst, ein noch Lebender, hier mitten unter uns begann. Viele Jahre hatte er in Druck und Dunkelheit hingebracht, ein Mensch, der eisern zäh gegen die Sorgen 208 und die Nöte des täglichen Lebens rang, ein Dichter, der, vollbewußt seiner großen Begabung, für sein Ideal und kein andres stritt, ohne einen Fuß breit nachzugeben. Und da endlich zeigte sich ein erstes Ziel; ein äußeres, denn der Dichter, der eben einen energischen Buchverleger und in Heinz Wolfradt einen tatkräftigen Bühnenverleger gefunden hatte, war zum Dramaturgen unseres neuen Volkstheaters berufen worden; und zugleich zeigte sich dem Poeten ein andres Ziel, gleich innig zu wünschen: Anerkennung und Lob weithin bei vielen, die es mit der aufsteigenden Entwickelung unseres Dramas gutmeinten. Und da geschah es so, wie Gustav Falke uns allen aus dem Herzen es ausgesprochen hat: »Es sprach der Tod: Ich will es nicht«.

Als kleiner Leute Kind ward Fritz Stavenhagen am 18. September 1876 in Hamburg geboren und hat alle Pein der Armut früh ausgekostet. Er läßt eine seiner Gestalten, den Wilhelm in »Mudder Mews«, einmal von der schweren Arbeit erzählen, die der arme Junge bei halber Nacht vor dem Schulbeginn verrichten mußte. Wir wissen, daß Stavenhagen damit in herbster Rückerinnerung eigne Jugendgeschicke zeichnete. Dann, der Volksschule entwachsen, arbeitete er in einem Drogengeschäft auf der hamburgischen Elbinsel Finkenwärder und kam schließlich nach Berlin. Und hier begann der Poet, der sich inzwischen erkannt hatte, den neuen Kampf. Nun ging es nicht mehr nur um das tägliche Brot, jetzt stießen der Schaffensdrang und der Ehrgeiz dem Reifenden die Sporen in die Seiten. Kleine journalistische Arbeit, hier und da eine Skizze entstand – bis der Dramatiker sich fühlte und die Gestalten der engern Heimat ihm zu neuen Gebilden zusammenwuchsen. In die Heimat kehrte er nun auch zurück. Otto Brahm, damals Direktor des Deutschen Theaters zu Berlin, gab Stavenhagen eine Jahrespension, damit er in Ruhe seinen Gaben leben könne; Carl Heine, der leider inzwischen ausgeschiedene Regisseur des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg, förderte den Dichter künstlerisch so, daß dieser bekannte: er danke Heine mehr als 209 allen anderen Menschen. Immer noch aber war Sorge auf Sorge in die bescheidene Behausung eingezogen, die der Dichter jetzt mit Weib und Kindern teilte. Da berief, zu Anfang 1906, der Direktor des Hamburger Schillertheaters, Meyerer, Stavenhagen als Dramaturgen auf den Herbst des Jahres an seine Bühne und verpflichtete sich, all seine Dramen noch in der ersten Spielzeit aufzuführen, nachdem schon andere Hamburger Bühnen eins und das andere gegeben hatten. Stavenhagen war voller Hoffnung; nur über die paar Monate wolle er noch wegkommen, schrieb er mir im Frühjahr. Dann mußte ihm ja endlich ein heller Tag erscheinen. Da warf ihn ein Gallensteinleiden aufs Lager. Er mußte sich zu einer Operation entschließen. Sie verlief glücklich. Und fünf Tage danach, am 9. Mai 1906, starb der Dichter, dessen Körper die Entbehrungen der Kindheit seiner Widerstandsfähigkeit beraubt hatten, an Herzlähmung.

Und nun brachte jeder Tag neue Beweise dafür, wie man Stavenhagen verstand, daß man ihn recht verstand. Bis nach Wien hin wurden seine Dramen aufgeführt, und immer wieder meldeten uns neue Zeichen, wie sich der Dichter seine Welt erobert. Es gab wohl kaum eine große deutsche Zeitung oder Zeitschrift, die im Laufe dieser letzten vier Jahre seiner nicht gedacht hätte, die Literaturgeschichte geht nicht an ihm vorbei, und schon ist aus der Feder eines angesehenen Literaturhistorikers eine wertvolle Monographie über den Jüngstverblichenen erschienen Fritz Stavenhagen. Eine ästhetische Würdigung von Adolf Bartels, Dresden und Leipzig, C. A. Kochs Verlagsbuchhandlung..

Und das alles, obwohl Fritz Stavenhagen erst am 18. September 1906 dreißig Jahre alt geworden wäre. Und das alles, ohne daß sich auch nur eine ernst zu nehmende Stimme erhöbe und spräche: dies ist zu viel, so viel Kränze hat er nicht verdient, oder: ihr feiert ihn ja nur, weil er so früh gestorben ist. Nein, das sei uns fern und ist uns besonders fern heute, da wir nicht mehr unter dem frischen Eindruck jenes tieftraurigen Tages stehn, und da wir 210 zu abgeklärter Betrachtung fest den Blick auf sein Werk richten können, das uns geblieben ist. Sechs Bände liegen vor uns, fünf Dramen und ein Buch Erzählungen. Sie allein sollen sprechen und sagen, wer Fritz Stavenhagen war. Und was sie uns zu sagen haben, ist wahrlich genug. Wenn wir im Geiste die einzelnen Werke an uns vorüberziehn lassen, mögen wir sie nun auf der Bühne gesehen haben, soweit es Dramen sind, oder nur aus dem Buche genossen: es muß uns in der Erinnerung auffallen, eine wie große Anzahl leibhaft dastehender Gestalten uns im Gedächtnis geblieben sind. Durchschnittsmenschen sind natürlich ein großer Teil all dieser Bauern, Fischer, kleinen Leute, die der Dichter uns gegeben hat; aber jeder von ihnen steht als eine Individualität vor uns! Das Volk, aus dem er zu Hause war, war bei ihm so zu Hause, daß er sich wie der Blinde in altgewohnter Umgebung unter ihm zurechtfand, daß sich auf der andern Seite auch jeder einzelne in seinen Werken sofort wiederfand. Das beginnt schon im »Jürgen Piepers« (1901) Sämtliche Schriften Stavenhagens sind im Gutenbergverlag zu Hamburg erschienen. Unter den Schriften über Stavenhagen sei der an biographischem Material reiche Aufsatz Paul Wriedes im zweiten Jahrgang des Quickborn (Hamburg 1909) hervorgehoben., wo im Gasthof alles durcheinander lebt und webt, ohne daß sich je die Individualität an die Schablone verlöre. Und das geht weiter und erreicht seinen Höhepunkt im »Dütschen Michel« (1905), der für mich die Krone von Stavenhagens Schöpfungen ist. Das Stück beginnt auf dem Schlosse des Grafen Malling in Mecklenburg. Der junge Graf ist von der Schule zurückgekehrt und feiert ein dreitägiges Fest zu seinem Einzug. Auch die Bauern der Herrschaft sind seine Gäste, und vor den Adligen betreten sie die Säle des glänzenden Schlosses. Mit feinster Kunst ist jeder von ihnen eingeführt, allmählich baut sich das Bild auf, und als schließlich eine große Zahl dieser Dorfbewohner zusammen ist, da kennen wir nun schon jeden, da wissen wir den Starren und den Entgegenkommenden, den 211 Lustigmacher und den Schwächling, den Rechthaber und den Spieler auseinanderzuhalten, und da lebt in dem tosenden Wirrwarr, der stellenweise über die Szene hereinbricht. jeder sein eignes Leben weiter als Mensch, den wir kennen. Ich kann, wie ich es bei einer andern Gelegenheit getan habe, auch jetzt nur sagen, daß mir eine gleich große Kunst der Individualisierung von Massen außer in Gerhart Hauptmanns »Webern«, die ich an sich natürlich trotzdem noch weit über den »Dütschen Michel« stelle, in der deutschen Dramatik der Gegenwart nicht wieder vorgekommen ist. Steifer und weniger lebendig wirken demgegenüber freilich die Personen der sogenannten Gesellschaft. Sie waren nicht mit Herzblut geschaffen, sie sind mehr Produkte des Kopfes gewesen. Aber bei ihrer Behandlung im »Dütschen Michel« offenbart Stavenhagen einen völlig neuen Zug, der, wie mir scheint, erst der Anfang zu einer späteren großen Entwickelung ist. Der Graf entflieht nämlich nach einem furchtbaren Zwist mit seinen Bauern, läßt einen toten Bettler in seinen Kleidern zurück und erscheint den Bauern, die jene Leiche als die seine mit höchsten Ehren begraben haben, auf einer Schaubühne, die fahrende Komödianten im Dorfe aufschlagen. Hier spielt er ihnen den Grafen, der sie mißhandelt und mißachtet hat, vor; die Dörfler aber prügeln ihn für diese Verhöhnung ihres Herrn durch und wollen von der Bitte des dargestellten Grafen um Verzeihung nichts wissen. Da liegt der Zug einer echten Tragikomödie, und man kann wohl mit Adolf Bartels hier etwas wie spezifisch niederdeutsche Romantik sehen.

Wie entwickelungsfähig dieses Talent war, das zeigt so recht das Gegenstück zum »Dütschen Michel«, die »Mudder Mews«(1904). Verläuft dort alles ins Weite, trotz der dörflichen Enge, so bleibt hier der Konflikt im Kleinen, ja, wenn man will, im Kleinlichen stecken – sogar einen Zug des Peinlichen wird man vor diesem Lebensbilde schwer los. So erweckt denn insbesondere der Schluß keine reinen Empfindungen in uns. Nicht naturnotwendig erscheint uns der Tod der jungen Frau durch die Nörgelsucht der 212 Schwiegermutter, durch ihr unleidliches Auftreten gegeben, und die Schwäche des Mannes geht uns zu weit, daß sie am Ende tragisches Mitleiden in uns aufkommen ließe. Aber mit lebensvoller Echtheit in Tun und Haben sind auch diese und gerade diese Menschen gegeben, und wer als ein Mann in der Mitte der Zwanzig ein solches Stück schreiben konnte, der konnte auch auf diesem Gebiete mehr und Größeres.

Er konnte mehr und Größeres insbesondere auch für unser an zeugenden Kräften wahrlich nicht reiches Theater. In Stavenhagens ganzem Lebenswerk, auch in dem kleinen Drama »Der Lotse« (1902), auch in der nach meinem Gefühl schwächern Komödie »De ruge Hoff« (1905), ist nicht ein Zug, nicht ein Auftritt, ich möchte sagen: nicht eine Gebärde, die nicht den Gesetzen der Bühne gemäß wäre. Die Motivierung der Auftritte, das Ineinandergreifen der Gespräche und der Szenen, der Aufbau der einzelnen Akte, die intimen Gespräche und der Zusammenprall der Massen – eines ist so bühnengerecht wie das andre, und ein berufener Kenner, eben Carl Heine, hat mir bezeugt, daß ihm eine so angeborne Begabung für die Bühne in der großen Schar ihm bekannter junger Dramatiker nicht noch einmal begegnet sei. So waren also auch für diesen Teil unsres Kulturlebens Stavenhagens Werke ein Gewinn und seine Persönlichkeit eine starke Hoffnung.

Und dazu kam noch eins, was zumal aus seinen frischen Erzählungen und Skizzen (gesammelt unter dem Titel »Grau und Golden«) spricht: ein Humor, den alles schwere Ringen und Kämpfen entbehrungsvoller Jugendjahre nicht unterkriegen konnte. Es war der echte Humor der Wasserkante, treffend, nicht immer frei von einem gewissen großstädtischen Einschlag, im Innersten verwandt der schweren, nicht mit dem Leben spielenden niederdeutschen Eigenart. Und alle diese Gaben standen bereit, sich zum großen Meisterwerk, das uns in der Kette dieser Gaben noch fehlte, zu vereinen, als ein jähes Geschick uns diesen Feuergeist entriß, der in einem geschwächten Körper wohnte. 213

Stavenhagen hat niederdeutsch geschrieben, trotzdem muß ich ihn ausdrücklich eine Hoffnung unsrer großen Literatur nennen. Ich brauche nicht an Gerhart Hauptmann zu erinnern, der vieles von seinem Besten und Reifsten auch nicht in hochdeutscher Sprache, sondern in den Lauten seiner engern Heimat niedergeschrieben hat. Es war wohl diese niederdeutsche Sprache, die unsern großen Bühnen außerhalb Hamburgs die Annahme von Stavenhagens Stücken bei seinen Lebzeiten unmöglich machte. Hatten die Schauspieler und die Regisseure Gerhart Hauptmann zuliebe Schlesisch gelernt und das Publikum an diesen Dialekt gewöhnt, so wollte man wohl ein zweites Experiment nicht machen. Daß man es hätte machen können, zeigen die geglückten Versuche, einzelne Dramen und insbesondere die in plattem Milieu spielende »Mudder Mews« fernab von ihrem eigentlichen Schauplatz aufzuführen. Nein, ein reiner Dialektdichter im engen Sinne war Stavenhagen nicht, wie er sich denn auch einen nirgends wörtlich gesprochenen, idealen Dialekt zurechtgemacht hatte. Er gehört in die große Literatur hinein, wie Klaus Groth, wie Fritz Reuter, denen vielleicht auch nach dem Maße der Leistungen an die Seite zu treten, ein bitteres Schicksal ihn gehindert hat. Stavenhagen ist einer der ganz wenigen Dichter der Gegenwart, die uns im Drama eine neue Entwicklung angebahnt haben, und wenn sich seine Sehnsucht und seine Hoffnungen immer wieder auf die Belebung seiner geliebten niederdeutschen Sprache richteten, so darf darüber nicht vergessen werden, daß seine Werke allgemeine deutsche Geltung beanspruchen können. Ich vermesse mich natürlich nicht, ihn mit Friedrich Hebbel zu vergleichen, soviel Ähnlichkeit ihre dürftige Jugend darböte, aber ich zögere nicht auszusprechen, daß er das stärkste dramatische Talent war, das Niedersachsen, diese jetzt so fruchtbare Provinz deutscher Kultur, seit Friedrich Hebbel geboren hat. War ihm nicht beschieden, sich und sein Werk zu vollenden, so bleibt er eine von den deutschen Persönlichkeiten, die siegreich noch nach ihrem Tode mit den Werken früher Kraft 214 die Volksgenossen bezwangen. Noch ist seine Wirkung nicht zu Ende, er lebt und wird leben Neben der von mir geleiteten Stavenhagenstiftung zur Unterstützung der Hinterbliebenen des Dichters hat sich in Hamburg 1909 eine Stavenhagengesellschaft zur Förderung niederdeutscher Bühnenspiele gebildet, die zunächst Stavenhagens Werke, auch außerhalb der Vaterstadt, mustergültig darstellen lassen will. Ihr Leiter ist Dr. G. H. Julius Scholz. Der Senat hat der Witwe des Dichters eine Pension bewilligt.. Wir aber, unter denen sein irdisches Dasein verlief, hegen in ihm das Gedächtnis an einen jener seltnen Menschen, denen materielle Not den großen Zug künstlerischer Gestaltung nicht lähmte, und von deren Abscheiden heute und immer das Wort der »Achilleis« gilt:

Aber der Jüngling fallend erregt unendliche Sehnsucht
Allen Künftigen auf, und jedem stirbt er aufs neue,
Der die rühmliche Tat mit rühmlichen Taten gekrönt wünscht. 215

 


 << zurück weiter >>