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Durch den großen Erfolg Gustav Frenssens wurde vielen Deutschen erst wieder die starke Rolle bewußt, die in der deutschen Dichtung der evangelische Pfarrer nicht nur als Dargestellter, sondern auch als Darsteller spielt. Hatten wir unter unsern Klassikern neben dem Pfarrerssohn Lessing den Prediger Herder, so ist im neunzehnten Jahrhundert ein Pfarrer, Eduard Mörike, zum größten deutschen Lyriker der Jahrzehnte von Goethes Hingang bis zu den achziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts emporgewachsen; und unter seinen schwäbischen Landsleuten waren neben dem Kirchenrat Schwab wenigstens zwei deutsche Schriftsteller ersten Ranges, die theologischer Herkunft waren, mochten sie auch den Ornat ausgezogen haben: Friedrich Theodor Vischer und David Friedrich Strauß. Und gleichfalls auf allemannischem Boden, recht ein Gegenstück zu den beiden Württembergern, lebte und schrieb der Pfarrherr von Lützelflüh, Albert Bitzius, der als Jeremias Gotthelf jetzt langsam wieder ein gelesener, großer Volksschriftsteller wird, nachdem man ihn lange vergessen hatte. In der Gegenwart vollends ist die Anzahl der dichtenden Pastoren außerordentlich groß, selbst wenn man den bedeutendsten unter ihnen, Carl Spitteler, nicht mehr in die Fakultät zählt, der er sich früh entzogen hat. Dabei ist aber kaum einer unter all diesen Geistlichen ein frommer Liedersänger, wie es noch der Superintendent Philipp Spitta oder der Geheime Kirchenrat Julius Sturm waren, kaum einer fühlt sich, auch wenn er schreibt, immer als verordneter Diener und Leiter der Gemeinde, wie etwa Emil Frommel oder, auf katholischer Seite, Heinrich Hansjakob. Höchstens 153 etwa bei den Schleswig-Holsteinern Nikolaus Fries und Ernst Evers, oder dem Bremer Otto Funcke kann man solche Tendenz feststellen. Sonst aber werden wir auch diese Dichter und Schriftsteller ganz unabhängig von ihrem Beruf betrachten müssen, wenn auch natürlich die Einflüsse des Milieus und der Tätigkeit bei ihnen genau so gut durchschlagen, wie bei den Offizieren das Kriegshandwerk und bei den Naturforschern unter den Dichtern die gewohnte exakte Beobachtung der Daseinsvorgänge.
Heinrich Steinhausen ist heute wohl der Ältermann dieser Gilde, seiner nicht genug bekannten knorrigen, brummigen Eigenart in manchem verwandt ist Fritz Anders (Max Allihn). Bekannter als beide ist im Süden Richard Weitbrecht, dessen 1904 gestorbener Bruder Karl gleichfalls von Haus aus Theologe war. Und die Namen Gustav Frenssen, Wilhelm Speck, Fritz Philippi, Karl Ernst Knodt, Diedrich Speckmann zeigen den weiten Umkreis der ästhetischen und religiösen Bekenntnisse der stattlichen Schar, in der bei diesem flüchtigen Überblick gewiß noch mancher kleinere Charakterkopf fehlt. Am 22. Januar 1907 ist ihr einer ihrer Besten, Adolf Schmitthenner, durch den Tod entrissen worden. Er war Pfarrer in Heidelberg, nahm seinen Beruf ernst und schwer und hat ein Leben voll großer Arbeit und Mühe geführt. Wie sehr er es verstand, sich trotzdem mit bewußter Energie immer wieder auf kurze Zeit in Träume ruhigerer Jugendtage zurückzuversetzen, hat er in einer seiner Erzählungen als Bericht über einen andern geschildert: »Sie waren keine Brautleute, auch kein Flitterwochenpaar, sondern Ehegatten, die schon ein geraumes Stück miteinander durchs Leben gewandert waren. Aber sie hatten sich die Glut der Leidenschaft bewahrt. Die Hochzeitsreise verteilten sie über ihr ganzes Leben. Auf jedes Jahr kamen ein paar Tage. Diese Tage hoben sie mit langsamen Händen heraus aus der grauen Menge der Geschäftsgenossen, stäubten sie ab und hüllten sie in lauter feuriges Gold. Da gehörten sie einander an vom Morgen bis zum Abend, wanderten durch den grünen Wald, ruhten aus, 154 wo es schön war, übernachteten, wo es reinlich aussah und man sie nicht kannte. So taten sie dem langen Hunger des Herzens Genüge, bald in stiller Zärtlichkeit, bald im ernsten Gespräch, und füllten in ihr Leben einen neuen Schatz süßer Erinnerung.«
Und ich habe das Empfinden, daß er sich so auch mit bewußter Abgrenzung die Stunden und Tage gewann für sein dichterisches Schaffen; ich schließe das daraus, daß er uns nur wenige Bände hinterlassen hat, Bände jedoch, in denen eine lebhaft sprudelnde Phantasie waltet – er muß noch viel mehr Bilder und Gestalten in sich bewahrt haben, hat aber nur Weniges niedergeschrieben und hinausgehen lassen. Und ferner ergibt sich für mich, der ich Schmitthenner nicht persönlich gekannt habe, diese Charakterisierung seiner Schaffensart aus seinen Werken selbst, die wie in einer höheren Luftschicht als der des Tagewerks geschrieben zu sein scheinen. Und überdies besitzen wir ein Selbstzeugnis des Dichters dafür in einem von Richard Weitbrecht mitgeteilten Brief, wo es heißt: »An die andern Menschen, an das Publikum, an den Markt, an die Gemeinde der Gebildeten, an ›mein deutsches Volk‹, denkt der Dichter beim Schaffen mit keinem Gedanken, sondern es quält ihn nur die einzige Sorge, daß ihm die Form zur höchsten Schönheit gelinge. Hat er dies erreicht, so fällt ihm die Verbreitung seiner Ideen und die Einwirkung auf Herz und Gewissen von selbst zu, denn die Sprache der Schönheit wird von jedem mit Lust gehört, von jedem verstanden. Was die Schönheit sagt, wird von jedem ohne Widerstreben geglaubt, die Schönheit überzeugt die Sinne und die Seele. Nicht die Lehren haben die Welt bekehrt, sondern allein die großen Persönlichkeiten und die großen Kunstwerke.« Also es fehlt jede volkserzieherische Tendenz, jede Absicht der Einwirkung auf die Gemeinde, und wir haben das Bekenntnis eines Dichters zur Kunst an sich, wie es im Grunde noch jedem absoluten Dichter vorgeschwebt hat, wenn es auch nicht jeder mit dieser Klarheit ausgesprochen hat. Es ist ja gerade eine der wunderbarsten Erfahrungen der Geistesgeschichte, daß nach 155 ihrem Erscheinen die Kunstwerke am stärksten nach bestimmten Tendenzen hin wirken, bei deren Schöpfung der Künstler solcher Tendenzen sich gar nicht bewußt war: Schiller hat die deutsche Erhebung gegen Napoleon mit seinem »Tell« und andern Dichtungen, hat seitdem weiter jede große politische Erhebung in Deutschland befruchtet und hat auch wahrlich nichts gewollt, als sich in der vollendetsten Form darzustellen – ich möchte meinen, er hätte sich, wenn er die Freiheitskriege erlebt hätte, nicht sehr viel anders verhalten als Goethe.
Ich glaube, daß Schmitthenner sich niemals, auch in seinem letzten Werke, ganz hat aussprechen können. Wie keines seiner größeren die letzte künstlerische Form hat, die er doch so heiß ersehnte und erstrebte, so liegt auch hinter jedem offenbar mehr, als Schmitthenner in ihm gegeben hat. In allen sind Szenen von erstem Rang, aber ein Kunstwerk von erstem Rang als Ganzes ist ihm doch nur einmal gelungen in der hinreißenden Erzählung »Friede auf Erden« (1892). Der ganze Ausklang des dreißigjährigen Krieges, um dessen Auf und Ab Schmitthenners Phantasie überhaupt geschäftig war, dringt aus den wenigen Seiten auf uns ein: Das ungläubige Staunen der Dorfleute darüber, daß wirklich Friede sein soll, die fassungslose Hingebung an das Unerhörte, als es Wahrheit, unwiderlegliche Wahrheit geworden ist; die Verwunderung der im Kriege geborenen Kinder, denen das Wort Friede völlig fremd ist; der ruhige Tod der alten Frau, da sie das Pfand des Friedens in der Hand hält. Was so selten gelingt: den echten Ton der Geschichte nur mit dichterischen Mitteln in uns aufklingen zu lassen, ist Schmitthenner hier gelungen Von Schmitthenners Schriften ist »Das Deutsche Herz« bei der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart, »Das Tagebuch meines Urgroßvaters« bei J. Bielefeld in Freiburg, alles übrige bei Fr. Wilh. Grunow in Leipzig erschienen. Neuerdings sind einige Erzählungen unter dem Titel »Die sieben Wochentage« in einer neuen Zusammenstellung (bei der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart) erschienen.. 156
In seinen größeren Novellen fehlt es Schmitthenner oft an dieser, in den kleinen Werken bewährten künstlerischen Bändigung. Seine Stoffe sind gewöhnlich sehr merkwürdig, liegen durchaus vom Wege ab, behalten aber durch die zu breite Ausführung etwas Seltsames und werden uns nicht recht vertraut. Das ist besonders in dem Roman »Leonie« (1899) der Fall, wo Schmitthenner die Geschichte zweier Frauen erzählt, deren Schicksal in drei Sätzen liegt: »Du aber, Mutter Leonie, sehntest dich, das Kind zu sehen, das du unter dem Herzen trugst, und wußtest doch, daß du an diesem Tage sterben müßtest. Darum schreckte dein Kind vor dem Manne zurück und wußte von keinem andern Verlangen und Sehnen, als ein Kind in die Arme zu schließen. So hat deine zitternde Liebessehnsucht nach deinem Kinde dein Kind in den Tod getrieben.« Wie sich diese Tragödie entwickelt, das erfahren wir eigentlich gleich am Anfang, und das ist immer gefährlich (wir haben es erst kürzlich bei dem zweiten Teil des bekannten Romans »Jettchen Gebert« von Georg Hermann erlebt); es gehört dann schon eine besonders starke Kunst dazu, die Erzählung durchzuführen, ohne daß an irgendeiner Stelle eine Erlahmung eintritt. Und diese Erlahmung tritt in Schmitthenners Werk ein. Die ungemein starke Sinnlichkeit, die es erfüllt, wirkt nicht mehr mit der Gewalt einer Naturmacht, wenn wir zu lange in ihr verweilen müssen, und unser Mitleiden spannt sich ab, wenn es auf eine zu lange Strecke und über zu viel Gleichgültiges hinweg gedehnt wird, eine Beobachtung, die auch auf Schmitthenners größte Novelle »Ein Michel Angelo« (1896) zutrifft. Es hat etwas fast Tragisches, daß der Mann, der die höchsten Anforderungen an die Form stellte, sich so selten dazu durchringen konnte, sie zu erfüllen.
Freilich bleibt, nicht nur in den kleinen Arbeiten, von denen einzelne, z. B. »Tilly in Nöten« (1901), einen feinen und freien Humor offenbaren, immer noch genug, um Schmitthenners dichterische Beanlagung zu erweisen. Er kennt die Natur wie kaum 157 einer und versteht es, ihr immer wieder einen neuen Akzent abzulauschen. Besonders gerade in »Leonie«, wo wir die Umwelt seines geliebten badischen Berglandes zu allen Jahreszeiten erleben, finden sich Stellen von manchmal erschütterndem Reiz. Und man kann sagen, daß Schmitthenner das Profil einer Landschaft, einer Waldecke oder eines Bergabhanges niemals verfehlt, ja, es oft mit Meisterstrichen weit schärfer herausgebracht hat als die Züge seiner menschlichen Gestalten; bei ihm rauscht der Wald wirklich wie das Blut in einem menschlichen Herzen, bei ihm atmen die Bäume als lebende Wesen, und nichts ist ihm da draußen unbedeutend. Und dennoch war er ein viel zu lebhafter Mitmensch unter Menschen, daß er etwa ein badischer Stifter hätte werden können. Die Natur hört in dem Augenblick auf, ihn zu interessieren, da nicht mehr frohe und leidende Menschen durch ihre Bezirke gehen und ihre Leiden und Freuden, ihre Liebe und ihren Haß unter das Gewölbe des Himmels und zwischen die vom Winde bewegten Bäume tragen.
Schmitthenners Liebe zur Menschheit und zum Menschen geht doch noch über die Liebe zur uns umgebenden Natur hinaus; und er, der das Tagebuch eines seiner Urgroßväter aus den Jahren der Revolutionskriege herausgegeben hat, sah die Menschen nicht nur, wie sie der Tag ihm darstellte, sondern er verstand sie dann vielleicht noch besser, wenn er sie sich hineinstellte in eine Vergangenheit, die sein Geist mit der echten Sehergabe des Dichters in sich neu erschuf. Und immer wieder war es die Zeit des dreißigjährigen Krieges, die Schmitthenner so erfaßte, und die er in jener starken Erzählung, in andern kleineren Werken, dann aber am Ende seines Lebens in dem großen Roman »Das deutsche Herz« sich wieder als ein Neuschöpfer zu eigen machte. »Das deutsche Herz« ist ein historischer Roman aus den Anfangsjahren des dreißigjährigen Krieges; er spielt im Neckartal, wo Schmitthenner, der am 24. Mai 1854 in Neckarbischofsheim geboren war, jeden Weg und jeden Steg kannte, und in das er uns gleich im Beginn mit regem Humor 158 und mit vollem Widerhall seiner Heimatnatur einführt. Der Untergang des Geschlechtes von Hirschhorn wird in dem Buche dargestellt, und wenn es denn auch von einzelnen schwächeren Zügen nicht frei ist, die in Schmitthenners Schaffen hervortreten, so ist es im ganzen doch ein ausgezeichnetes Werk geworden, durch und durch das Volksbuch eines Dichters, der keine kulturhistorischen Betrachtungen schreibt, sondern das historische Leben als Dichter durch die Handlung seines Werkes mit herausbringt. Es verschlägt deshalb nicht allzu viel, daß der Held des Buches, eben jener letzte Ritter von Hirschhorn, den die Zeitgenossen das deutsche Herz nennen, nicht stark genug ist, um auch von uns diesen Ehrennamen ganz zu verdienen; er ist vielleicht ein wenig zu klug, zu sehr Wäger, zu wenig Wager, etwas zu sehr freytagsch, etwas zu wenig schillersch. Und auf der andern Seite ist die durch den Hintergrund wandelnde Gegenspielerin etwas zu unmenschlich, zu sehr als personifizierte Sünde gehalten. Und trotzdem bleibt das Buch ein ungewöhnliches Werk in unsern Tagen, in denen doch mancher gute geschichtliche Roman an die Stelle der verbrämten Kulturhistorien früherer Jahrzehnte getreten ist. Es ist auf jeder Seite Leben in dem Werk, jede einzelne Gestalt ist streng in sich durchgeführt, und so außerordentlich spannend alles ist, so sehr handelt doch jeder innerhalb seiner Natur, und der Dichter setzt nicht, wie gerade im alten archäologischen Roman so oft, seine Figuren hin und her, wie es ihm beliebt. Daß das Werk eine so starke Spannung ausübt, gibt ihm ein wertvolles Merkmal mehr; denn es müßte unbedingt neben den breiten, ruhigen Entwickelungsroman, der noch immer die Hauptgattung des deutschen Romans der Gegenwart ist, wieder der stark fesselnde Roman des Gegeneinanderspiels starker Naturen treten. Und so wäre denn auch in diesem Sinne Schmitthenners schönes Werk ein guter Anfang gewesen, während es leider ein jäh abgebrochenes Ende geworden ist. »Das deutsche Herz« wird noch lange bleiben und mit ihm die Sammlung »Aus Geschichte und Leben«, die Schmitthenners 159 beste kleinere Erzählungen umfaßt. Als lebendiger Darsteller deutscher Vergangenheit, als Psychologe der Menschen des dreißigjährigen Krieges, als Darsteller der Waldnatur seiner Heimat lebt Schmitthenner weiter. Er mußte früh die Feder aus der Hand legen, sein Bild aber schmückt ein voller Kranz. 160