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Wilhelm von Polenz

Wilhelm von Polenz war am 14. Juni 1861 auf Schloß Obercunewalde in der sächsischen Lausitz geboren und ist dort am 13. November 1903 gestorben. Wenn fünf Jahre nach seinem zu frühen Tode seine gesammelten Werke in einer wohlfeilen Ausgabe (Zehn Bände, bei F. Fontane & Co., Berlin) erschienen, so handelte es sich dabei – man darf mit einiger Bitterkeit vielleicht sagen: ausnahmsweise – nicht darum, einem Verkannten oder doch nicht genug Geliebten und Geschätzten endlich die verdiente Ehre anzutun; sondern diese Ausgabe soll nur der allgemeinen und berechtigten Liebe, die Wilhelm von Polenz genießt, gerecht werden, soll seinen Verehrern die Möglichkeit bieten, seine Werke handlich und unzerstreut beieinander zu haben und sie so denen weiterzugeben, die ihn noch nicht genügend kennen. Gewiß ist Wilhelm von Polenz viel zu früh gestorben, ein Mann in der Blüte gesunden, frischen, offnen Wesens, ein Deutscher, der eben noch ausgezogen war, jenseits des Ozeans das Land der Zukunft zu studieren und seinen Volksgenossen darüber zu berichten. Und dennoch war sein Fortgang in jene Bezirke, aus denen er uns nimmer wiederkehren wird, nicht zu früh in dem Sinne, daß er sein schriftstellerisches Lebenswerk noch nicht vollendet hätte. Wilhelm von Polenz hat den Rahmen, den die eigne Begabung ihm spannte, in ruhiger, jeder Nervosität barer Arbeit ausgefüllt, mit sichrer Hand Werk an Werk gereiht und uns eine Anzahl von Bänden hinterlassen, aus denen nun ein ganzes, gern und mit Ernst gelebtes Leben zu uns spricht. Ein deutsches Leben, das verlief in 105 gärenden Zeiten unruhiger Kämpfe. Zum Bewußtsein erwacht in der Zeit des jüngstdeutschen Sturmes und Dranges, fühlte diese Begabung sich völlig einig mit den Altersgenossen, unbefriedigt wie sie von der matten Poesie, die um die Wende der siebziger und achtziger Jahre noch das literarische Leben beherrschte und die wirklich großen Dichter der Zeit und der jüngsten Vergangenheit nicht zur Geltung kommen ließ; unbefriedigt von dem politischen Gang der Zeit und zugewandt den neuen sozialen Verheißungen, die der alte Kaiser und Bismarck eben verkündigten; unbefriedigt von dem Materialismus der Gesellschaft auf dem Lande, der Geburtsscholle, und in der zweiten Heimat, der Großstadt, und bald auch wider nicht befriedigt durch die Wurzellosigkeit eines großstädtischen Literatentums, das neue Wege gehen wollte; nicht ausgefüllt durch eine Kirchlichkeit, die dem jungen Herzen durch unverständige, lebenslose Lehren nahegebracht worden war, voller Sehnsucht nach dem Born echten Christentums.

So war der junge Polenz, und so entwickelte er sich allgemach in den dreizehn Jahren seines Schaffens. Er begann wie seine Altersgenossen, bis auf Kleinigkeiten herab. Er widmete in einem seiner ersten Bände jede Novelle und jedes Gedicht einem seiner literarischen Kampfgenossen, wie einst Otto Erich Hartleben, und er weihte sein Drama »Andreas Bockholdt« »den Menschen, die es ihm gegeben hatten«, wie Gerhart Hauptmann seine »Einsamen Menschen« denen, »die dies Drama gelebt haben«. Aber er blieb nirgends, äußerlich nicht und erst recht nicht innerlich, im Revolutionären stecken, sondern drang über die meisten Gleichaltrigen zu positiver Auffassung und Bezwingung des Lebens als eines Ganzen vor. Sein sehr ungleichmäßiger erster Roman »Sühne« (1890), der im Titel und ein wenig auch im Problem mit dem fast gleichzeitigen Werk seines Freundes Georg von Ompteda »Die Sünde« verwandt ist, zeigt schon ganz den sozial empfindenden Menschen, der das Proletariat studiert, den Mann voll religiöser Kämpfe und den anteilvollen Beobachter seelischer Konflikte. 106 Kein Wunder, daß ein Ehebruch inmitten der Handlung steht, und an dieser Tat wird nichts verschönert, es wird auf der andern Seite auch nicht moralisiert, aber so wenig der Verfasser Partei nimmt, so wenig erläßt er seinen Helden die vollen Konsequenzen ihrer Tat. Mit Naturnotwendigkeit gehn die beiden zugrunde, weil ihren Beziehungen der tiefe, sittliche Gehalt einer letzten großen Neigung fehlt, weil sie nur in dem Sturm einer vorüberbrausenden Sinnlichkeit wurzelt. Und das Schlußgelöbnis des alternden, verlassenen Ehemanns, das Kind dieses ungeweihten Bundes »zu einem tüchtigen, christlichen Manne zu erziehn«, weist schon in die Richtung hin, die Polenz dann fortschreitend einschlug.

Freilich hatte er noch manchen Pfad zu begehn, bevor er zur Meisterschaft emporsteigt. Fast fremd wirkt die stark zugespitzte Novelle »Die Versuchung« (1891) innerhalb von Polenz' Schöpfungen; er war für diesen Stoff, den Heimfall eines jungen Theologen in ein unreines Verhältnis, nicht recht organisiert. Ihm fehlte die Grazie, mit der Guy de Maupassant, an den Adolf Bartels in seiner vortrefflichen Einleitung der Gesamtausgabe mit Recht erinnert, die Grazie, mit der dieser Gallier und auch mancher Deutsche einen solchen Vorwurf behandeln und über das Peinliche hinweg zur Poesie tragen konnte. Und auf der andern Seite fehlte ihm die Gabe des Dramatikers, um seinem Drama »Heinrich von Kleist« (1891) und dem spätern, verwandten »Andreas Bockholdt« (1898) den wirksamen Bau zu errichten. Es sind beides psychologische Stücke, aber Polenzens Kunst ist auf der einen Seite nicht fein genug, daß er die volle Differenzierung erreichte, die so schwierige Konflikte verlangen: einmal Kleists Stimmungen hart vor dem Todesgang und das Gegenspiel der Henriette Vogel, dann die Geschichte eines Gefängnisarztes, der die Arbeit vieler Jahre, seine Familie, seine ganze Seele an ein falsches Idol der Bekehrung seiner Pfleglinge hingeopfert hat. Und dann fehlt Polenz, der immer breit, geräumig erzählt, die Schlagkraft, die das Drama verlangt: er besaß hierfür zu wenig von Wildenbruch oder 107 Sudermann, für das Übrige zu wenig von der intimen Versenkung Gerhart Hauptmanns. Und so bleiben diese Dramen, wie das letzte »Junker und Fröhner« (1901), nur bezeichnende, aber nicht ausgeglichene und in sich dauerhafte Werke. Es geht ihm da genau so, wie ich es für das gleich energische, wenn auch in vielem sonst ganz anders geartete Erzählertalent Jakob Julius Davids hier ausgeführt habe.

Nun aber kam, 1893, der erste große Volksroman »Der Pfarrer von Breitendorf«. Mit ihm trat Polenz erst ganz auf den Boden, auf dem er nun zu Hause blieb: Zur breiten Darstellung von Konflikten, die nicht in der Zeit, sondern in der Tiefe der Menschenbrust und in der Tiefe des Volkstums wurzeln, der liebevollen Schilderung deutscher Zustände, in denen er, dem Großen und dem Kleinen aufs treuste zugewandt, mitlebte und mitlitt. Der »Pfarrer von Breitendorf« gibt den Roman eines jungen Geistlichen, der lockende Aussichten auf eine große städtische Laufbahn ausgeschlagen hat, um in der neuen Welt eines Dorfes gleichgültige und abgewandte Seelen wieder der Kirche und dem Glauben zu gewinnen. Und dieser Pfarrer Gerland gelangt dabei selbst vom Glauben der Kirche hinweg zu einem unkirchlichen oder doch unkonfessionellen Christentum, einem Christentum der freien Luft. »Das eigne Ich zur Geltung bringen, auf die Innenstimme lauschen, die unsterbliche Seele zu Gott entwickeln, das war die neue Anschauung, die täglich in ihm an Kraft gewann.« Und da er das in den »verklausulierten Lehren der Professionstheologie« nicht findet, zieht er den Pfarrerrock aus, um ein Volkslehrer zu werden. Sicherlich also ein Konflikt, der immer wieder durchlebt wird, und den in jenen Zeiten der Mann an der eignen Seele durchmachte, dem Polenz das Buch dankbar gewidmet hat: Moritz von Egidy. Es leben hier neben den innern auch äußere Zusammenhänge, denn Egidy war ja Stabsoffizier des Königshusaren-Regiments in Großenhain, dem Polenzens Freund Ompteda, dem der Christusmaler Fritz von Uhde angehörten. Aber dennoch will es mir 108 scheinen, daß Polenz sich weder mit Egidy noch mit seinem Pfarrer von Breitendorf ganz gleich setzte, denn er stellte seinem Helden in einer sehr reizvollen Mädchengestalt die Tochter eines erklärten Atheisten gegenüber, die zu einem ganz positiven, kirchlichen und dabei durchaus lebensvollen Christentum gelangt. Und wer wollte leugnen, daß die Ansicht Gerlands von der Professionstheologie schief und ungerecht ist und sein muß, weil ihm, wie seinem unglücklichen Freunde, dem Selbstmörder Diakonus Fröschel, das Pastorenamt fast nur in kraftlosen, formelstarren Bekennern entgegentritt.

Ich nannte Gerland den Helden des Buches; das ist freilich nur in beschränktem Maße richtig, denn schon hier fällt es auf, daß Polenz in den Mittelpunkt seiner Werke im Grunde niemals heldische Menschen stellt, sondern, darin ganz der Sohn der naturalistischen Bewegung, sozusagen gewöhnliche Menschen, keine Ausnahmenaturen, sondern guten, aber feinfühligen Durchschnitt. So diesen Pfarrer Gerland, so später den Gutsbesitzer des »Grabenhägers«, den Schriftsteller von »Wurzellocker«, den Büttnerbauern, Thekla Lüdekind und wie sie alle heißen. An solchen Beispielen zeigt Polenz Klassen, Stände, Entwicklungen. Und daß ihm dennoch fast nichts und in den reifsten Werken gar nichts im beschränkten Naturalismus stecken bleibt, dankt er der Innigkeit und Wärme, mit der er sein Volkstum im ganzen umfaßt und durchdringt. Mit leidenschaftlichem Schmerz sieht er es schon im Beginn seiner Arbeit tief gespalten, und man fühlt, daß er gleich seinem Pfarrer gern mit seinem Leben die Brücke schlagen möchte zwischen den einander verständnislos gegenüberstehenden Schichten. »Mehr und mehr erkannte er, welcher Abstand zwischen ihm, dem Gebildeten, und diesen Unkultivierten bestand. Sie waren anders geartet, standen auf einer tiefern Stufe, fühlten, dachten, urteilten anders als er, sie hatten ihre besondre Sittenlehre, Rechtsanschauung und Religion. Bei tausend Anlässen drängte sich ihm diese Bemerkung auf, die er anfänglich als vermessen weit von sich 109 weisen wollte. Das gab ihm viel zu denken. Hier war Mensch und Mensch, Christ und Christ, und dennoch grundverschiedne Wesen – ein größerer Unterschied als der, den Rasse, Nation und Konfession begründen – ein Unterschied im Fundamente.« Man denkt an die beiden Nationen Disraeli-Beaconsfields.

Dem »Pfarrer von Breitendorf« folgten 1895 und 1897 der »Büttner-Bauer« und der »Grabenhäger«, Polenzens bedeutendste Dichtungen, zugleich zwei der größten Werke, der besten Romane, die wir überhaupt in diesen Jahrzehnten empfangen haben. In diesen beiden vor allem wird der Schriftsteller Polenz, dessen Verwandtschaft mit Jeremias Gotthelf Bartels glücklich hervorhebt, zum Dichter. Er schreitet über die Scholle, der seine Kindheit und dann wieder seine reifen Mannesjahre zu eigen waren, und findet auf ihr den Ertrag, den er dann in die Scheuer bringt. Gustav Freytag hatte liebevoll, aber doch als Städter, als Bürger das Land geschildert und die Mächte der Zerstörung, die dem schlecht wirtschaftenden Gutsbesitzer drohen; bei Polenz kam dies Empfinden aus der Herzenstiefe eines gebornen und überzeugten Landedelmannes, der freilich nicht genug harte Worte finden konnte für den brutalen Klassenegoismus vieler seiner politisch geeinten Standesgenossen. »Diese lachenden Fluren; – Gottes Segen schien auf ihnen zu ruhen. Der Acker wollte seinem Pfleger so gerne zurückerstatten mit Zinsen, was er an Liebe auf ihn verwendet. Der Boden wollte dem die Treue halten, der ihm treu gewesen war. Halm an Halm drängte sich. Konnte der, dem solche Ernte in die Scheuer lachte, nicht guten Mutes sein? Durfte es dann wirklich eine Macht geben auf der Welt, die ihm diesen Erntesegen, den der liebe Gott doch für ihn hatte wachsen lassen, streitig machte? Es kam wie ein großes, dunkles Gespenst über die Felder gehuscht, ohne Beine und doch schnellfüßig – der Schatten einer treibenden Wolke. Es löschte allen Glanz von den Ährenwellen, es wischte die Farbenpracht der bunten Fluren aus, es legte sich wie ein düstrer Ton über alles. Der Schatten eilte über Haus und Hof, über die Feldmark 110 in ihrer ganzen Breite, dem Walde zu.« In solcher Darstellung lebt die tiefe Anhänglichkeit des Landkindes an das Vatererbe, dem es Gefahr drohen sieht, und aus solcher Empfindung hervorgequollen, wirkt nun die Geschichte Traugott Büttners mit starker Eindringlichkeit. Ein Bauer mit allen Vorzügen und allen Fehlern seines Standes, wieder kein heldischer Charakter, sondern ein guter, dabei ganz individuell gegebener Vertreter des reinen Typus, fällt der eignen Ungewandtheit, seinem altväterischen Beharren, der Überschuldung und der Ausbeutung durch schurkische Ehrenthals zum Opfer, die nun fünfzig Jahre jünger sind als die Wucherer Gustav Freytags, aber nicht menschlicher, nur geschickter geworden sind und das Recht auf ihrer Seite haben. Der Selbstmord des verzweifelten, ganz einsam gewordnen Bauern im Frühling, angesichts der eben sich frisch begrünenden Felder, ist poetisch wohl Polenzens Meisterleistung.

Meisterlich auch, wenn auch mehr ein kleiner als ein großer Zug, wie dieser Bauernstamm sich zur Stadt stellt, wie der junge Büttner mit weitaufgerißnen Augen die proletarische Agitation der Großstadt in sich aufnimmt: »Gustav hatte das Bewußtsein, etwas Großes erlebt zu haben. Eine Ahnung war ihm aufgegangen, daß es Kämpfe gab in der Welt, von denen er daheim, wenn er hinter den Pferden einhergeschritten war, sich nichts hatte träumen lassen. Ein Vorhang war weggerissen worden vor seinen Augen, der ihm eine ganze Welt verborgen gehalten hatte.« Wie unter andern ländlichen Verhältnissen, in einer andern Gegend diese sozialpolitische Agitation, die der junge Versammlungsbesucher anstaunt, ihre Wellen auf die Güter und die Dörfer hinausrollt, wie gleichzeitig das mobile, rasch erworbene Kapital in alte Herrensitze einzieht, das gibt nun der »Grabenhäger«, rein ästhetisch genommen, Polenzens bestes Werk, ohne die Stärke des »Büttnerbauern«, aber vielleicht noch abgeschliffener. Es fehlen die ganz großen, drastischen Szenen, wie jener Selbstmord, aber es liegt eine zusammenhängende Reihe von Bildern vor uns, deren 111 Ausmalung überall gleichmäßig die Hand eines feinen Poeten verrät. Wieder tönt das Wort »Pflicht«, wie so oft bei Polenz, durch die Zeilen. Der junge Rittergutsbesitzer von Kriebow lernt erkennen, daß er die lange vernachlässigte und durch skrupellose Geldausgaben verschuldete väterliche Flur nur halten kann durch eigne, nimmermüde Arbeit. Und er erkennt, daß er verantwortlich ist auch für die, die ihm bei der Arbeit helfen, die nicht seine Fröner sind, sondern seine ihm anvertrauten Mitarbeiter. Nicht auf Verwischung der Unterschiede geht Polenz aus, aber auf Hervorhebung dessen, was über jene vom Pfarrer von Breitendorf empfundne Kluft Menschen und Volksgenossen einigt. Was der freiherrliche Held der Dorftragödie »Junker und Fröner« als Sohn einer längst vergangnen Zeit nur dunkel ahnt, wird in Erich von Kriebow lebendig. Er streift die Anschauung ab, die den Menschen halb unbewußt nach adliger Abkunft und äußerer Korrektheit bewertet, und tritt mit dem einfachen, armen Landedelmann und dem bürgerlichen Besitzer der Nachbarschaft arbeitend in eine Reihe. Dabei aber hilft ihm seine Frau, eine Gestalt von großer Feinheit, die in einer weichen, aber ganz reinen Seele ihm zu Liebe vieles überwindet und den Äußerlichen zur innern Glückseligkeit zurückführen hilft. Neben ihr steht hier nun auch der Pfarrertypus, den Polenz wohl als den endgültigen Geistlichen seines Herzens empfand, der treue Sohn der Kirche, der aber aus ihr eine soziale Kirche machen will, nicht im Sinne einer Herrschermacht, sondern im Sinne einer Dienerin nach den Worten unseres Heilands.

Man darf nicht sagen, daß Wilhelm von Polenz sich mit diesen beiden Werken ausgegeben hätte; aber er hat sie nicht wieder übertroffen oder erreicht. Seine andern Romane geben alle kein restloses Bild, und in ihnen zeichnen sich die Schwächen von Polenzens Darstellungskunst sehr viel deutlicher ab. In ihnen tritt wieder, wie in dem ersten, eine ungefüge Breite hervor, sie zeigt sich etwa in der unnötigen Aufrollung vieler Lebensläufe, die für die 112 eigentliche Verflechtung der Handlung kaum von Interesse sind und abführen, anstatt weiterzubringen; er fühlte sich eben in diesen neuen Problemen nicht so zu Hause wie in jenen der beiden Meisterbücher. »Thekla Lüdekind« (1899) ist ein liebenswertes Buch, aber die Heldin macht uns nicht recht warm. Die eigentliche Frauenbewegung, deren Grenzen und deren Berechtigung Polenz wohl sah, wollte er nicht gestalten; aber die Konzentration auf ein Herzensschicksal ist auch wieder nicht voll gelungen; es fehlt Thekla von Lüdekind der ebenbürtige Gegner, ebenbürtig in seiner menschlichen, nur anders gewandten Kraft und ebenbürtig in der dichterischen Bezwingung durch seinen Darsteller. Und ebenso fehlt in dem Literatenroman »Wurzellocker« (1902) der Mann, der uns wirklich nahekommt. Der Dichter Fritz Berting ist nicht über den auch von andrer Seite so oft dargestellten Typus der Menschen hinaus gelungen, die, wie Fontane sagt, das Moralische aus dem ästhetischen Fonds bestreiten. Wir glauben nicht recht, was wir doch glauben sollen: daß er wirklich ein bedeutender Künstler ist, und verstehn im Grunde nicht, warum Heinrich Lehmfink, sein positiver Gegenspieler, eine prächtige Gestalt, den Mann so ernst nimmt. Auch kommt es der Schilderung des Literaturtreibens, in dem einzelne glänzende Typen auftauchen, wie der Journalist Silber-Karol, nicht zugute, daß Polenz es nach Dresden verlegt hat. Ich meine, er fühlte nicht die Kraft und die Sicherheit in sich, es in Berlin oder München, in dem ganzen Strudel jener tollen Jahre zu gestalten, in denen auch seine schriftstellerische Arbeit begann. Aber wiederum lebt eine warmblütige und reizvolle Mädchengestalt in diesem Milieu, Bertings Geliebte Alma; und da ist es denn freilich für Polenz bezeichnend, wie echt und voll er diese Frau gibt, weltenfern jener Verhältniständelei, die wir sonst so oft, zumal in den Romanen und Dramen Wiener Schule unerfreulich genug, in ewiger Wiederholung, auftauchen sahen. Nicht der seiner Pflicht vergessene Liebhaber, sondern sie behält noch im Tode das letzte Recht, ein Abschluß, der ebenso 113 dichterisch wie ethisch ganz positiv und gerade in diesem Roman »Wurzellocker« wurzelecht wirkt.

Der unvollendete Roman »Glückliche Menschen« (1905 erschienen) hätte über diese Arbeiten hinaus vermutlich wieder ein Meisterbuch ergeben. Man fühlt ordentlich, wie Polenz das Herz schlug, wenn er hier wieder seine Liebe zur Scholle ganz ausströmen lassen konnte: »Ernst hatte es früher nicht so gewußt, daß der ganze Beruf des Landmanns auf Glauben gestellt ist. Der Mann, der vom Erdreich das Wachsen und Gedeihen seiner Früchte verlangte, mußte an viele, viele verborgne Dinge glauben, die er nicht erklären konnte; er mußte hoffen können, während er im herbstlichen Nebel lebte, daß die Sonne wieder scheinen und daß sie aus der braunen Scholle das Wunder der grünen Halme erst und der wogenden Ährenfelder später hervorzaubern werde. Nichts stärkte den Glauben an die Kraft des Lebens und an den Reichtum der ihm innewohnenden, unerforschlichen Keime so innig wie das langsame, aber unaufhaltsame Emporsteigen der jungen Ernte aus den kahlen Feldern . . . Nun erschienen sie alle wieder, die alten Bekannten, von denen wir in den trüben Wintertagen glaubten, sie seien auf Nimmerwiedersehn verschwunden . . . Das war die erste rührende Kindesschönheit des Frühlings, die alles verheißt und leicht an das Größte glauben macht.« Wieder sollte hier, wie im »Grabenhäger«, das Leben eines persönlich freilich anders gearteten Rittergutsherrn geschildert werden, und wir haben den Glauben, daß es der Hand gelungen wäre, die die Feder zu früh niederlegen mußte.

Polenzens spätere Novellen, Dorfgeschichten, sind lockere, nicht ohne Laune gegebene Skizzen. Dörfliches Kleinleben können wir verfolgen, bäuerliche Starrheit und Verschlagenheit, dann aber wieder kurz gegebene Geschicke von schwerer Trübe, Lebensausschnitte aus dem Dasein armer Sachsengänger, das Schicksal Verstoßener, wie es schon die ersten Novellen an andern Stoffen gegeben hatten. Plastisch tritt aus dem Kreise der kleineren 114 Schwestern die 1899 erschienene Novelle »Wald« hervor. Hier handelt es sich nicht um Standestypen, um große, breite Lebensschilderung wie in den Romanen der Reife, sondern um zwei Menschen, die in der Abgeschlossenheit einer riesigen Forst mit Naturnotwendigkeit über die Schranken einer liebeleeren Ehe hinweg durch ihr Blut zueinander getrieben werden. Mit feiner Kunst spinnt Polenz seine Gestalten und uns mit ihnen in das Schweigen und das lautlose Werden des Waldes ein, der dieses Geschickes Werden und Fallen umgibt. Ganz unsensationell, ohne die Zuspitzung seiner ersten Novellen verläuft der Konflikt bis zu einem Ende, das unvermittelt erschiene, wenn es nicht wie aus dem Walde selbst herausgeschritten käme; denn als Opfer des Waldes fällt der Held der Erzählung von der Hand eines Wilddiebes, fällt, da er eben seine Pflicht erkannt hat und ausgegangen ist, seine Schuld durch männlich offne Tat zu sühnen. »Wald« ist eins der schönsten unter den Werken, die dieser Dichter uns hinterlassen hat, zugleich das mit den stärksten lyrischen Reizen.

Wilhelm von Polenz war kein Poet wie etwa Detlev von Liliencron oder Carl Spitteler, weder so groß, noch so ganz absoluter Dichter. Mit Gotthelf war er verwandt, aber doch nicht Volksschriftsteller wie dieser, sondern weit mehr Kulturschriftsteller, weniger naiv, wie es der große Schweizer trotz seiner umfassenden Bildung immer blieb, aber darin freilich ihm und Gustav Freytag nahe, daß er die Wirkung auf sein Volk immer im Auge hatte. Er war in jeder Zeile echt und wahr, unromantisch und schon darum nicht gut Zola an die Seite zu stellen, mit dem ihn Bartels zusammenhält. Er sah ja das Leben, soweit es sich ihm auftat, viel klarer und echter als der große Franzose. Und ich empfinde nicht recht, warum Bartels diese Parallele überhaupt gebraucht. Ich meine, es genügt zu sagen, daß Polenz ein großer Schriftsteller, ein bedeutender Lebensdarsteller, vor allem ein ganz natürlicher Schriftsteller war, wenn auch selten ein naturalistischer, was nicht immer dasselbe ist. Er hat von den Gesetzen der Flur gesagt: »Stille 115 sein in Frömmigkeit lehren sie uns, aber auch jenen unbezwinglichen Optimismus, der Glauben gibt, Glauben an das Leben, den Mut, es auf uns zu nehmen, das Bewußtsein unsrer Kräfte und den Willen, sie zur Entfaltung zu bringen.« Ein echt deutsches Bekenntnis im Sinne jenes tiefen Raabischen Wortes, das da beginnt: »Was wird, wird still, eine Blume, die sich entfaltet, macht keinen Lärm.« Und so bedeutet denn Wilhelm von Polenz gerade in Zeiten, da die Dichter dem politischen Leben, den täglichen Nöten unsres Volks abgewandt dastehn, eine kaum zu überschätzende Kraft. Er kann uns da selbstverständlich viel mehr sein als große Ausländer, mögen sie ihn auch poetisch überragen. Und er hat durchaus das Zeug dazu, mit seinen besten Werken, auch rein auf das Dichterische hin angesehn, noch sehr lange zu leben. Auch sein »Büttnerbauer« ist, wie Gotthelfs erstes Werk, ein »Bauernspiegel«, freilich ästhetisch größer und für uns, insbesondre uns Norddeutsche und Jüngere, wertvoller und vertrauter. Wir haben, wie ich oben sagte, an ihm erfreulicherweise nichts gutzumachen, aber wir wollen dafür sorgen, daß sein Gedächtnis und seine Werke unverstellt und unverschüttet weiterleben. 116

 


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