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Lulu von Strauß und Torney

Die Begabung zur Musik und zu den bildenden Künsten stammt gewöhnlich vom Vater oder gar den Vätern her; die Erzeuger genialer Tondichter sind fast immer zum mindesten Organisten oder Kapellmeister, die Väter großer Maler kleine Maler, Stecher oder Zeichner. Dichtung aber ist fast stets Muttererbe, und immer wieder offenbart die Geschichte unsrer größten Dichter, daß sie, wie es nun einmal klassisch heißt, die Lust zu fabulieren von der Mutter empfangen haben. Wenn aber die poetische Anlage auf die weibliche Seite schlägt, so schreibt sie sich vom Vater oder von der männlichen Linie her, und während verschwindend wenige unter unsern Dichtern Söhne mit selbständigen poetischen Leistungen aufzuweisen haben, stammen viele unsrer Dichterinnen von Vätern und Großvätern ab, die ihnen Talent und Art vererbten. Wenn bei Gisela von Arnim, Elisabeth von Heyking und Irene Forbes-Mosse noch männliche und weibliche Vorfahren gleichermaßen als Nährer dichterischer Gaben erscheinen, sind Alice von Gaudy, Isolde Kurz, Frieda Schanz, Marie von Olfers, Dora Stieler, Ernst Rosmer durchaus Dichter- oder doch Künstlerkinder, und auch bei Lulu von Strauß und Torney, die am 20. September 1873 in Bückeburg geboren wurde, weist das Talent zurück auf den Großvater Victor von Strauß und Torney (1809 gleichfalls in Bückeburg geboren, 1899 in Dresden gestorben), wenn auch der Großvater die Enkelin persönlich nicht mehr beeinflussen konnte.

Die Landschaft, in der Lulu von Strauß und Torney daheim ist, und in der sie auch jetzt noch lebt, das Land zwischen dem Teutoburger Wald und dem Deister im Westen und Osten, etwa vom 173 Steinhuder Meer im Norden bis zum alten Kloster Corvey im Süden, hat Franz Dingelstedt ein noch heute nachhallendes Heimatlied, Julius Rodenberg anmutige Jugenderinnerungen entlockt und ist der tief innerlich erfaßte Schauplatz mehr als einer Meistererzählung Wilhelm Raabes; eine ganz deutsche Landschaft, noch voll altgeschichtlicher Erinnrungen, in denen die Gestalt des Freiherrn von Münchhausen nicht fehlt, voll viel unverbrauchten Volkslebens, das sich seiner überlieferten Tracht und Ausdrucksweise freut, mit kleinstaatlichen Gebilden im Norden und Süden und kleinstaatlichen Erinnerungen überhaupt, die erst langsam ins große Deutschland hineingewachsen sind. Aber die, die diese Landschaft besangen und schilderten, verhalfen ihrem Leben nicht so zu klassischem Ausdruck, wie Annette von Droste und Karl Immermann dem Westfalen jenseits der Teutoburger Wald-Grenze. Sie gingen nicht so in ihrem Leben, insbesondere auch in ihrem Kleinleben auf, wollten keine Heimatkünstler sein und waren es auch nicht, von ihren großen Unterschieden einmal ganz abgesehn, in dem Sinne, in dem allein man von Heimatkunst wirklich sprechen darf; daß nämlich jeder Konflikt so durchgekämpft und dargestellt wird, wie er allein aus diesem Boden erwächst und erwachsen kann. Es ist die zweite Stufe der Heimatkunst, zwischen jener im Grunde noch unterhalb der Kunst stehenden Darstellung des bloß Örtlichen und Provinziellen um seiner selbst willen und mit der Tendenz der Erhaltung gegenüber dem nivellierenden Leben und jener andern höchsten Stufe, auf der die Heimatkunst wieder schlechthin große Kunst wird, wie so oft bei Wilhelm Raabe. Gerade in der Anknüpfung an die besten Heimatwerke des Realismus, also vor allem auch an Immermanns für ihre Zeit unübertroffene westfälische Dorfgeschichte, ist ja seit dem Beginn und mehr noch seit dem Ende der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts eine kräftige Heimatkunst emporgeblüht, und ihr gehören auch die ältesten Werke von Lulu von Strauß an, sie erst fand für die besondere Art der Menschen ihres Landes den gültigen künstlerischen Ausdruck. 174

Es waren nicht zunächst Menschen ihrer Herkunft nach Stand und Rang, die sie schilderte – es waren die in Vätertracht gekleideten Bauern des Weserlandes, die sie in ihrem Dorfgeschichtenband »Bauernstolz« (1901) darstellte. Mit völliger Beherrschung des Dialekts schuf sie Bilder aus dem Leben der Dörfer und Höfe. Das hartnäckige Beharren bäuerlichen Stolzes auf dem überkommenen Besitz, den kein Fremder erben soll, gab Lulu von Strauß mehr als einmal das Thema, dann wieder die Standesunterschiede zwischen dem erbgesessenen Bauern und dem in seinem Sinne heimatlosen Tagelöhner, den jener als tief unter sich stehend empfindet. Da heiratet die Tochter des reichen Hofs einen Tagelöhner, aber alle Liebe kann den Stolz der anders Gewöhnten nicht unterjochen, und so wird es eine unglückliche Ehe, bis der Tod die Witwe im Verlust den Wert des verlorenen Gutes erkennen lehrt. Ein andermal freit der längst zum Erben erkorene Verwandte anstatt der plötzlich gestorbenen schönen Hoftochter die verwachsene Schwester; es geht, wie beide es wohl wissen und sich in einer trüben Stunde gestehn, dabei nur um den Hof, aber der Bursche, der die Abneigung bezwungen und die Hilflosigkeit des Mädchens erkannt hat, wird, um den Hof, ein guter und treuer Hüter seiner Frau sein. Immer bleiben diese Menschen wortkarg und sicher, auch wo ein rasch aufloderndes Gefühl sie, etwa »hinter Schloß und Riegel«, entflammt, und wenn Mitleid und Liebe gemeinsam, wie in der Novelle »Schuld«, eins dieser Herzen bezwingen, so äußert sich auch das in einer halbverlegenen Gebärde, tritt nicht aus dem Rahmen, den Erziehung und Gewöhnung, Arbeit und Umgebung diesen Menschen seit Geschlechtern um all ihr Tun gezogen haben.

Rasch fühlt man sich in dieser ländlichen Welt zu Hause, in der nichts verkleinlicht ist und auch gute und schwere Tat wiederum nicht über das zuständige Maß zur Pose verzogen erscheint. Nicht immer im gleichen Grade ist dies in dem ersten Roman vermieden, den Lulu von Strauß 1902 veröffentlicht hat »Aus 175 Bauernstamm« Berlin, Otto Janke; alle andern Schriften von Lulu von Strauß sind bei Egon Fleischel & Co. in Berlin erschienen, nur die Abhandlung »Die Dorfgeschichte in der modernen Literatur« im Verlag für Literatur, Kunst und Musik in Leipzig.. »Eine Hauptschwierigkeit für den Bauernschriftsteller liegt im Charakter des Bauern selbst begründet. So verschieden die deutschen Volksstämme in Nord und Süd auch unter sich sind, so geht doch ein gemeinsamer Charakterzug durch die bäuerliche Bevölkerung aller Landstriche: das ist das Mißtrauen, das Sichabschließen gegen den Andersgearteten, Höherstehenden, Gebildeteren«. Diese Sätze aus einer Abhandlung der Dichterin über die moderne Dorfgeschichte geben eins der Motive für den Roman. Ein Bauernsohn, der der Theologie entlaufen und Schriftsteller geworden ist, findet in dem literarischen und gesellschaftlichen Leben Berlins niemals recht die gesuchte neue Heimat und fällt, da er endlich zu den ausgesöhnten Eltern zurückkehrt, ganz wieder dem Bauerntum anheim, verliert aber dadurch die Frau, die er sich aus ganz anderm Umkreis des neuen Lebens geholt hat. Die beiden finden sich wieder, und er kehrt nach Berlin zurück, schließlich doch enttäuscht und von der Eifersucht des brüderlichen Anerben aus dem Hof vertrieben. Aber das Thema ist nicht mit vollem Gelingen durchgeführt; denn dieser Bauernsohn verkörpert innerhalb eines bestimmten dekadenten Teils der großstädtischen Gesellschaft nicht den reinen Menschen, der seine Lebensrichtung aus der gesunden Überlieferung einfacher Verhältnisse ableitet, sondern er wird mehr als einmal zum Theaterbauern, der seine reinere und schlichtere Moral in seiner Tonart beteuert, die solchem Bekenntnis den allein zum Herzen gehenden Klang des Echten nimmt. »Was wird, wird still« – dies unvergängliche Raabe-Wort hat Ernst Ralving, oft genug ein brutaler Egoist ohne die vom Thema geforderte Typisierung, noch nicht erfaßt; und erst aus dem nächsten größeren Werk seiner Schöpferin, dem Roman »Ihres Vaters Tochter« (1905), leuchtet etwas von dieser 176 Weisheit. Wiederum galt es Lulu von Strauß hier, einen Dichter zu schildern, nicht wie er selbst noch lebt und schafft, sondern wie sich seine Person und sein Werk im Gedächtnis der Tochter erhalten und spiegeln. Sie hat als einzige Gefährtin des Einsamen Jahre und Jahre mit ihm nicht nur in äußerer Gemeinschaft gelebt, sondern auch an seinem Schaffen und seinem Innenleben ganz und gar teilnehmen dürfen. Nach seinem Tode aber bricht ihr alles zusammen, da sein Nachlaß sie auf des Vaters Bilde einen häßlichen Fleck kennen lehrt, den sie nun nicht vergessen kann. Und erst da sie selbst, »ihres Vaters Tochter«, schuldig wird, den Mann der Freundin liebt und gewinnen will, wie einst der Vater die eigne Frau um einer andern willen verlassen hat, gewinnt sie in doppelter Selbstüberwindung wieder die volle Liebeshöhe menschlichen und weiblichen Gefühls. »Man mußte das Leben lieben, auch wo es schwer war und man es nicht verstand, weil es jeden, der sich nur tragen lassen wollte, vorwärts trug wie ein starker Strom, immer größeren Zielen entgegen.« – Das Werk entgeht nicht dem Fehler so vieler Tagebuch-Romane, der bequemen Form hier und da die letzte künstlerische Gestaltung zu opfern und allzu breit zu werden, es wird auch gelegentlich ein wenig romanhaft im spezifischen Sinn, aber die Entwicklung der Tochter vom Vater hinweg und dann wieder zum liebevollen Verständnis des Vaters zurück, auch da, wo er gefehlt hat, ist sehr reizvoll und wahrhaft gegeben, ebenso wie die Entwicklung der Frau aus der alles überflutenden Leidenschaft in eine tapfere Mütterlichkeit zu einem hilfsbedürftigen Kinde und dann in eine warme Liebe zu dieses Kindes Vater hinein. Das Milieu freilich, das in den ältesten Prosawerken der Dichterin so stark wirkte, tritt hier zurück, wird farbloser, hier und da, wie schon in »Aus Bauernstamm«, konventionell.

Mit um so stärkerer Erfassung gewann Lulu von Strauß aber gerade dies zurück in den beiden Erzählungen, die sie 1906 erscheinen ließ, »Der Hof am Brink« und »Das Meerminneke«, bisher den Meisterwerken ihrer Prosa. Die geschichtliche 177 Anteilnahme, die aus den ersten Bauerngeschichten sprach und die Handlung immer wieder fest im Boden des langsam Gewordenen verankert erscheinen ließ, erfüllt diese beiden Geschichten ganz und gar. Man hat den Eindruck, als ob Lulu von Strauß hier einmal ihre ganze Kraft an die selbstbegrenzte Aufgabe setzen und alles zur Seite weisen wollte, was nicht unbedingt dazu gehörte. So ergab sich bei ihr freilich eine gewisse Kälte. Wo in »Ihres Vaters Tochter« schon die breitere, läßliche Form zum Ausspinnen des Psychologischen gelockt hatte und oft genug den Rahmen überschritt, bleibt hier alles knapp innerhalb des Vorwurfs, der historischen Darstellung. »Der Hof am Brink« ist eine Geschichte aus dem dreißigjährigen Kriege. In dem von den Schweden immer wieder gebrandschatzten Dorf sind nur der Brinkmeier und sein Hof vor allzu schlimmer Not, vor Hunger und Brand bewahrt geblieben, und der Verdacht, der Bauer habe auf nächtlichem Schleichweg fremde Habe in sein Haus geholt, ist nur zu sehr begründet. Als mitten unter die durch marodierende Mordbrenner ihrer Hofstätten und all ihrer Habe beraubten Dörfler der eine Sohn tritt, geschwellt von Hochmut und die Tasche voll erbeuteten Goldes, da heult die Volkswut auf, und der Brinkmeier und die Seinen fallen unter den Streichen der Rasenden, die in ihrer Rachewut blind und taub alle alte Schuld auf einmal strafen wollen. Kaum freilich, daß der Rausch vorbei ist, tragen sie auf ihren Schultern den letzten, noch überlebenden Sohn sorglich vom Hof. »Die Sonne stand tiefer. Aber sie schien noch immer heiß über dies Dorf ohne Höfe, das Land ohne Ernte. Und über diese Männer mit den blonden Bauernschädeln und den breiten Schultern, die schweigend vor sich auf den Weg sahen und geduldig, mit gleichmäßigem Schritt, ihre Last weiterschleppten.« So voll, wie in dieser Erzählung die historische Luft des dreißigjährigen Krieges, weht in der andern, »Das Meerminneke«, die des holländischen Lebens im Beginn der Reformation, nur daß, dem behaglicheren Dasein einer mannigfach bewegten holländischen Handelsstadt entsprechend, hier auch der Humor zu seinem Rechte kommt, der 178 unter den verschüchterten, verelendeten Bauern der Kriegszeit keine Stätte haben durfte. Das Meerminneke, ein aus einem Schiffbruch gerettetes spanisches Judenmädchen, wird zur Christin, aber freilich nicht, wie der Eifer der Dominikaner in der bis dahin erzkatholischen Stadt es wünscht, zur Papistin, sondern durch einen unvermerkt für die neue Lehre gewonnenen Prädikanten, des Bürgermeisters Sohn, zur Protestantin. Da sie sie brennen wollen, um aufs neue mitten unter dem Einsturz des Alten die Macht der Kirche aufzurichten, ist sie unter Anwendung weiblicher Schliche gerettet worden, und dem Dominikaner, der von den Stufen des Rathauses die Verräter, die Ketzer fassen lassen will, bricht plötzlich aus der Ansammlung des ganzen Volks ein Schrei der Empörung entgegen; es ist vorbei mit dem Alten, und auf den Stufen steht jetzt der Prediger der neuen Lehre und warnt die Landsleute, nicht ungerecht Blut zu vergießen. »Gottes Volk soll nicht kämpfen mit eisernen Schwertern und mit fleischlichem Zorn! Es hat heiligere Waffen, die den Sieg über alle Feinde vom Himmel herunterholen! Herr Gott, unsre Sache ist Deine Sache, erbarme Dich unser!«

Seitdem ist die Erzählerin Lulu von Strauß im Geschichtlichen geblieben, immer wieder zum Boden der engern Heimat zurückgekehrt, immer wieder über ihn hinausgewandelt. Aber stets fand sie im engern Bezirk das Letzte. So schuf sie gewissermaßen in Parallele zum »Hof am Brink« eine Erzählung aus der Franzosenzeit »Auge um Auge« (in dem Bande »Sieger und Besiegte« 1909). Wieder liegt alles in dem halben Brandglanz eines vernichtenden Krieges, wieder geht es nicht nur um Geld und Gut, sondern um Leib und Leben selbst, und unvergeßlich bleibt das Bild des Schulzen, den sie jetzt Maire titulieren, seitdem westlich der Elbe die Napoleons herrschen, das Bild dieses Bauern, der hinten in der Bibel Buch führt über alles, was die Franzosen ihm getan, der triumphiert, da nun, Auge um Auge, der französische Kapitän tot am Wege liegt. Nicht der Schulze selbst hat das Wild erlegt, aber 179 es war die Tat von seinen Gedanken, und so stellt er sich als Täter dem Gericht, und während er erschossen wird, marschiert der schuldige Sohn unter dem französischen Adler nach Osten.

Auch das religiöse Element taucht wieder empor, das im »Meerminneke« schon so groß mitsprach. Aus ihm ist der Roman »Lucifer« (1907) erwachsen. Er spielt im dreizehnten Jahrhundert. Der Held der Erzählung, Burkard, trägt einen echten Junkerschädel auf den Schultern. Wider Willen wird er, um Blutschuld des Vaters zu sühnen, vom Edelhof weg in die Klosterschule und dann ins Kloster selbst gesteckt. Den Eckigen, Wortkargen fängt der glänzende magdeburger Domprobst, der Graf von Schaumburg, ein, Burkard wird sein Begleiter, der mit ihm, bewehrt und bewaffnet, in den Kreuzzug gegen die Stedinger zieht. Und da der Herr dem Jüngling wortbrüchig wird und Weiber und Kinder, denen er das Leben und freien Abzug versprochen hat, niedermachen läßt, weil Ketzern gegenüber das Wort nicht gilt, wirft Burkard dem Grafen das Kreuz vor die Füße und ist verschwunden. Bis dahin hat der Roman einheitlichen Guß, und die Entwicklung dieses Edelings, der durch junges Unglück, Leiden und Enttäuschung hindurchgeht, sehn wir restlos aufwachsen. Der zweite Teil, der viele Jahre später spielt, ist mehr ein Anhang als ein Fortgang der Erzählung, aber Lulu von Strauß berichtet doch auch hier höchst eindrucksvoll, wie der Ketzer, den sie das erste Mal befreiten, das zweite Mal der Flamme anheimfällt, im Ringe der betenden Geistlichkeit, weil die Menge, hypnotisiert, geblendet, das Wunder nicht vom Himmel schweben sieht, das sie zur Errettung ihres Heiligen erwartet. Der Heilige aber ist Burkard, der lange unter den Stedingern, dann auf einer Nordseeinsel gelebt hat, dem sie Weib und Kind erschlagen haben im Glaubenswahn, und der nun den gestürzten Lucifer verkündet, den vierten in der Gottheit, den unschuldigen Gott. Derselbe Schaumburger, an dessen Seite er einst geritten ist, muß ihn verderben, nicht sich zur Ehre, sondern für 180 seine Kirche, die der Eisenkopf, nun weiß geworden, über sich stellt und stellen muß.

Die Töne, die zwischen diesen immer wieder heimatlich gefärbten Kompositionen aufklingen, etwa in der heitern Geschichte »Das Tanzliedchen« oder in der »Legende der Felsenstadt« (beide in »Sieger und Besiegte«), mahnen an die weitere Welt der Versdichtungen ihrer Verfasserin (»Balladen und Lieder« 1902 und »Neue Balladen und Lieder« 1907). Auch mit diesen steht Lulu von Strauß in einer breitern literarhistorischen Entwicklung, die wiederum vornehmlich aus ihrer engern niedersächsischen Heimat befruchtet wurde. Denn in Göttingen, wo einmal schon die Balladendichtung eine Neugeburt erlebte, wuchs sie auch um die letzte Jahrhundertwende neu empor, und Lulu von Strauß steht ganz in der Nähe des Dichterkreises der Göttinger Musenalmanache, deren begabtester Balladenschöpfer ihr Adelsgenosse Börries von Münchhausen ist. Auf Strachwitz, der fünfzig Jahre nach seinem Tode erst recht wieder bekannt geworden ist, zeigt diese Entwickelung zurück. Was Lulu von Strauß in ihren ersten Balladen bot, war denn auch vielfach adlige Erinnrung aus norddeutscher Vorzeit, wie in »Der Reventlowen Ehre«, war aber auch bäuerliches Schicksal, das sie sonst so oft gegeben hatte, wie in »Des Braunschweigers Ende«. Starke Bilder von düsterm Reiz gaben ihre schwer einherschreitenden Balladen. Nicht immer gelang es ihr, so einen letzten, lang nachhallenden Ton festzuhalten, wie am Ende von »Noachs Urteil«:

Ein andrer richtet. Die Zeichen drohn – –
Ich höre die Brunnen der Tiefe schon . . . . .!

Da schweigt das Urteil des greisen Volksführers, der schon die große Flut rauschen hört, von der die andern noch nichts ahnen. Vertieft erscheinen die Balladenklänge in spätern Dichtungen. Denn hier noch deutlicher als in der Prosa spricht die Einsamkeit eines in verhaltenen Kämpfen zur Höhe geschrittenen Lebens. 181 Reizvoll verflicht sich der Klang eines alten kirchlichen Wiegenliedes mit dem Sehnsuchtston der greisen Nonne, die an die sechzig Mal im Gang der Jahre die Wiege mit dem hölzernen Jesuskinde schwingen mußte. Wie scharfes Reiten klingt es oft genug aus den Versen, denn immer wieder befruchten Krieg und Kampf die Phantasie dieser Dichterin. Dann wieder läuft dasselbe Lachen, das wir im »Meerminneke« spürten, um die Dächer der alten holländischen Stadt, wenn Lulu von Strauß denselben Stoff ähnlich noch einmal in der »Jungfer von Haarlem« bringt:

Doch um die Dächer, doch in den Grachten,
Winde und Wellen lachten und lachten!
Der Schrei der Möwen, der weißen, schnellen,
Kam schrill und jauchzend aus grauer Höh,
Und das Lachen lief weiter mit Wind und Wellen
Bis ins Haarlemer Meer und die Zuidersee!

Wie öfters, so kann man freilich auch hier (bei der Gleichheit des Stoffes) beobachten, daß Lulu von Strauß in ihren Erzählungen zumeist das Künstlerische reiner herausholt als in ihren Balladen, mögen diese nun beschwingten oder, was der Dichterin besser ansteht, den schweren Ton langsamerer Erzählung haben, die oft, wie auch etwa die Novelle »Auge um Auge«, zu spät abbricht. Oft findet sie ein neues, ungesuchtes Bild, so, wenn der Seefahrer unten am Meeresgrunde unter Wrackholz und Mastensplittern alle sieht, die gingen und nicht wiederkamen:

Ich sah sie alle. Schemenhaft und blaß
Sah ich sie ziehn, wie durch betautes Glas,
Mir nah vorüber.

Und dann die Rettung, da der Spalt aufreißt und im goldnen Fluten das Licht des Lebens in die nasse Gruft bricht. Mehr als einmal gelingt ihr der echte Ton einer Chronik ohne äußern Schwung, wie ihn diese Handhabung des Verses eben fordert, und doch mit innerer Beseelung: 182

Über des zweiten Hofes Schutt schoß Diestel und Dorn empor,
Und da der Bursch an den dritten kam, eine Leiche grinste am Tor.
Da griff ihn ein wildes Grauen an, er wandte sich jäh und lief
Und stand erst stille am letzten Hof und horchte, was hinter ihm rief.

Auch die Lyrik von Lulu von Strauß hat wenig leichte Klänge, ist schwer, voll mutig bekannter und dann wieder voll leise nachzitternder Schmerzen, denen ein großes Mitleid entspringt.

Durch alle Straßen möcht ich rufend gehn
Und Schwesterarme jedem Schmerze breiten,
Ich möchte hell in alle Dunkelheiten
Die Lichter meiner großen Liebe sän.

Ich schaue tief in alles Leidens Sinn,
Denn sein Geheimnis ward auch mir verliehn, –
Und wie ein Kleinod nehm ich auf den Knien
Die Last und Gnade meines Schmerzes hin.

Wenn man Lulu von Strauß mit der jüngeren, aber gleichzeitig aufgetretenen Agnes Miegel vergleicht, so findet man mannigfache Verwandtschaft, aber man hört aus den Versen der Bückeburgerin die sichere Prosadichterin wohl heraus, die es immer wieder zur Form der Erzählung hinzieht. Sie hat in ihrer Ballade das schwerere Teil, ist auch da ganz niedersächsisch, während Agnes Miegel, in deren Adern ja mit dem ostpreußischen hugenottisches Blut fließt, mehr Tanzrhythmus, mehr Gesang, mehr Lyrik hat. Wenn sie sich einmal in Prosa versucht, so leuchtet immer wieder der Drang zum Verse durch, der ihr der allein gemäße Ausdruck der Lebensbezwingung ist.

Es ist bezeichnend, daß die schwere Natur von Lulu von Strauß und Torney, deren dichtender Ahne »die Überzeugung von der Unhaltbarkeit und Bodenlosigkeit des Rationalismus« in einer rationalistischen Zeit mutig und aufrecht bekannte, ihren Gott nach leidenschaftlichem Suchen zwischen letzten Garben des Herbstes gefunden hat. Unter den blühenden, purpurroten Sommernelken hat sie vergeblich in graue Leere geschrien. 183

In gelbe Lindenwipfel stößt nun der nasse Wind,
Ich gehe stille Wege, die menschenferne sind.
Die Stirne, die ich senkte in Tränen und in Traum,
Streift wieder eines Gottes dunkler Mantelsaum.

Und zwischen letzten Garben, die goldner Herbst beschert,
Im Dampf gepflügter Scholle, die junger Saat begehrt,
Das strenge Haupt erhoben in frischer Winde Wehn
Seh ich mit starken Füßen den Gott der Arbeit gehn!

Ihm gilt ihr Gebet, und das heißt ihr vor allem Mühe, ihm ihre Andacht, »und Andacht ist die Tat!« Ganz weiblich, ich möchte sagen, fraulich, einsam suchend, aber unresigniert und tapfer, geht diese Dichterin durch unser heutiges Schrifttum, im engen Kreise, aus dem sie ihre ersten Gaben gewann, selbst nicht eng geworden, immer künstlerisch und menschlich an sich arbeitend, sparsam in ihren Werken, aber ihrer besten Kraft sich durchaus bewußt. Und wie sie vom engen Boden der geliebten Heimat her immer neue Bezirke innerer Wirkung eroberte, schreitet ihre Kunst zu immer neuer Wirkung fort. 184

 


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