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Ernst Zahn

Wer ein paar Stationen hinter Flüelen die Gotthardbahn verläßt, findet hart unter einer in schwindelnder Höhe die Schlucht überquerenden Eisenbahnbrücke das Dörfchen Amsteg, eine Siedelung von wenigen Häusern rings um eine schmucklose Kirche. Immer rauscht das Bergwasser, denn der reißende Kaerstelenbach fällt hier in die Reuß, die in raschester Strömung vorbeizieht. Wandert man wenige Schritte nur das Tal entlang, dem Gotthardpaß entgegen, so sieht man noch bis tief in den Sommer Lawinenschnee an den Hängen. Steil geht es im engern Tal des Baches hinan, bis man mit keuchender Brust bei der viel verehrten Antonikapelle stillsteht, von der sich der bequemere Weg ins Maderaner Tal öffnet. Und verfolgt man wiederum die breite Straße, die Reuß entlang, so steigt man über Göschenen zum Gotthard empor, furchtbare Schluchten tun sich auf, Schnee und Eis hemmen früh die Wege, und in großartigster Umgebung entfaltet sich ein karges Leben.

Das ist die Welt Ernst Zahns, der von dem heitern Glanz nichts hat, der seine Geburtsheimat, Zürich am See, umgibt und unverkennbar in den Werken seiner älteren Stadtgenossen weiterlebt. Zahn, der am 24. Januar 1867 geborene, ist ganz der Dichter seiner neuen Lebensheimat geworden, der er nicht nur die Stoffe der Gegenwart und der Vergangenheit, sondern auch Stimmung und Duft seiner Dichtungen dankt. Was ihm die Geschichte bot, sind nicht glanzvolle Kämpfe städtisch ritterlicher Mannen, es sind mühsame, blutige, verbissene Kriege der Bauern dieses harten Bezirks, und was ihm die Gegenwart zunächst an Konflikten 196 darbrachte, auch das entsprang einem herben, schwer aus der Bahn zu bewegenden Empfinden. Mühsam muß, wie die Frucht des Bodens, so die Frucht des Glückes dieser Erde und dieser Umwelt abgewonnen werden. Kaum, daß im Lauf der Jahrhunderte, wie sie Zahns Kunst aufbaut, ein Wandel der Charaktere eintritt – gelangt doch jeder Ton aus der großen Welt erst spät hierher, schwach geworden, halb verweht hinter den riesigen Turmmauern, die, von der Hand eines Ewigen erschaffen, das Land abschließen.

Wie wenig selbst die alten, alles unter sich beugenden Mächte der Kirche die Bewohner solch einsamen Dorfes an den Felsenhängen zwingen, damit setzt der Roman »Erni Behaim» (1898) ein; der milde, alte Geistliche, der bäurisch mit den Bergbauern lebt, wird dem Eiferer des Klosters gegenübergestellt. Aber der Sieg des Fanatikers ist nur scheinbar, und da er selbst von der neuen Wirkungsstätte scheidet, ist auch sein Einfluß dahin, und die Dörfler von 1418 leben in ihrer festen Art weiter, wie sie es dort im Urner Land taten, bevor der Pater Ambrosius den Weiler Abfrutt betreten hat. Es hat etwas von großartiger, ganz unbezwungener Menschengewalt, wie sie ganz auf sich gestellt sind, keinen Richter über sich kennen als den selbsterwählten mitten unter ihnen. Und da wächst Erni Behaim auf, zarter als die andern, von der Mutterseite her fremdes Blut in den Adern; heilkundig ist er und feinen Herzens. Und er erlöst die Mutter, die ihm dafür aus heißem Herzen dankt, von der unsäglichen Qual unheilbarer Schmerzen durch das ihm bekannte Gift weißer Knollen hoch vom Gebirge. Dann aber wird er friedlos, dann aber dünkt er sich ein Mörder, der sühnen muß und doch keine Sühne findet, nicht im Kloster, nicht im Heer, das über den Paß gegen Bellenz (heut nennen wirs Italienisch Bellinzona) zieht, nicht als Einsiedler und hilfreicher Arzt nahe dem alten Heimatort. Hier aber lebt ihm ein Mädchen, dessen Lebenswille und Herzenskraft stärker ist als die seine; und sie zieht ihn zurück, sie stellt ihn in den 197 Ring der Dorfgenossen und fordert den Spruch, Anklägerin und Beistand zugleich.

»Die Mienen der Männer im Ring blieben starr; keiner verriet, was in ihm war. Der Spruch, der jetzt kam, war heilig, nicht Lärm noch geheime Unterredung durfte ihm vorangehn; das Urteil eines jeden mußte unbeeinflußt sein. Nur der Richter hatte Freiheit der Rede.

Du hast eine gute Fürsprecherin, Geselle, murmelte der Hofer, zu dem Behaim gewendet. Dann forderte er die Schar zum Spruch:

Richtet gerecht im Namen des Gerechten! Nach alter Satzung steht für diesen der Tod! Frei oder schuldig? Wer den Behaim freisprechen will von Schuld und Fehle, der hebe die Rechte auf.

Ein Rauschen wie von schlagenden Fittichen! Der Erni starrte ungläubig, kaum fassend, was vorging, in den Ring. Mit erhobenen Händen sprachen sie ihn los von Schuld.«

Ein Rauschen wie von schlagenden Fittichen – welch ein wundervolles Bild, gleichermaßen durch Auge und Ohr empfangen, empfangen in freier Luft. Es ist ebenso feinster Beobachtung entsprungen, wie etwa, wenn Zahn ein andermal von Stürmen des Lebens spricht, die in Menschengesichtern hausen wie Wetter im Weichholz der Hüttenwände.

Aber langsam und spröde, wie alles um ihn, entwickelte sich auch dieser Dichter, trotz allen großen Vorzügen, die schon seine ersten Gaben zeigten. Abgerissen, noch unklar in der seelischen Verknüpfung, oft übertreibend in der Charakteristik, zumal des Bösen und Harten, schuf er die Gestalten seiner ersten Novellen »Herzenskämpfe« (1893) und »Bergvolk« (1896). Immer wieder beschäftigt ihn ein echt bäurisches Problem: die Verbindung zwischen einem altangesehenen Hause und hergelaufenen, in den Augen ihrer Landsleute bescholtenen, minderwertigen Gemeindegliedern. Verbitterung, in diesen jugendlichen Werken noch allzu kraß gezeichnet, umfängt das Herz eines so ohne seine Schuld verstoßenen Menschen (»Der Büßer« in »Bergvolk«), und wieder 198 ist es die heiße, klammerhaft sich anschmiegende Liebe eines reinen Mädchens, die die Einsamkeit des Abgeschlossenen teilt und erhellt. Oder auch wohl es löst sich einmal (»Der Guet!« in demselben Bande) der Mann von Haus und Hof und Ehrenamt, um der geliebten Frau aus ohne ihre Schuld bescholtenem Hause zu folgen, die er doch nicht in das seine bringen kann und bringen will. Breite Gestalten von hohem Wuchs, mit starker Hand, weitsichtigen Augen, alle Genossen überragend – so stehn immer wieder die Männer dieser Erzählungen da, ob sie nun, wie »der Guet«, den Kampf friedlich entscheiden, ob sie, wie in dem Roman »Herrgottsfäden« (1901) sich mit aller Gewalt gegen den Abstieg sträuben und ihrem Hause die äußere Niedrigkeit und die Verbindung mit ihr fernzuhalten suchen. Noch wird stark mit äußern Mitteln gearbeitet, und die Wucht der Person und ihres Eindrucks wird leicht übertrieben, aber immer wieder tauchen einzelne Schilderungen auf, die einen ganzen Dichter verraten. So wenn in »Herrgottsfäden« die Seuche ins Dorf zieht und ein halbverwilderter Bewohner sie in Gestalt eines Fremden den Weilerweg heraufkommen sieht, einer Unbekannten, »aus dessen Augenhöhlen es wie Widerschein des Rots leuchtet, das von allen Bergen zuckt«; und nun wird der feste Tritt des Bauern zum Schleichen, das Gezeter der Weiber zum Geflüster, sie sehn Gespenster am hellen Tage, und des Todes Opfer liegen in den Hütten.

Nicht ohne Sentimentalität wird der immer wiederholte Konflikt zwischen Konvention und Liebe tragisch zu Ende geführt in dem Roman »Kämpfe«, wo die Geliebte durch Selbstmord endet in dem Augenblick, da der Mann es den Elternherzen abgerungen hat und die glücklichste Zukunft vor ihnen leuchtet – es war das allererste Buch Zahns; und erst in einer historischen Erzählung, in »Albin Indergand« (1901) vollendet er diesen Konflikt zu restloser künstlerischer Darstellung Dies Buch ist bei Huber & Co. in Frauenfeld erschienen; die übrigen hier genannten Schriften Zahns als seine »Gesammelten Werke« in zehn Bänden bei der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart und Leipzig. »Die da kommen und gehen« und »Einsamkeit« sind ebenda außerhalb der »Gesammelten Werke« herausgekommen.. Albin Indergand ist auch der 199 Sohn eines verfehmten Hauses, dessen Herr wegen Mordes unter dem Schwert des Henkers fällt. Er aber sühnt in einem harten und guten Leben die Sünde, die auf dem Elternhause liegt. Er zieht, wie Erni Behaim, mit in den Kampf seiner Landsleute, wird ihnen zum Führer und Helfer, den sie doch still anerkennen müssen, auch nachdem der ganze Kampf ohne seine Schuld unglücklich verlaufen ist. Und so löscht er in Arbeit und Treue den Schatten, der über dem Namen Indergand ruht, und gewinnt mit dem höchsten Amt des Dorfes auch die Liebe der Tochter seines Vorgängers, des Dorfaristokraten, der an einem innern Konflikt zwischen seiner Ehrenstellung und heißer Sinnenlust zugrunde gegangen ist.

»Daß einer Meister ist über sich selber, darüber staunen die am meisten, die es nie sind« – zu diesem fein formulierten Grundsatz (»Menschen« 1900) bekennen sich unbewußt alle diese aus dem Dunkel ins Licht strebenden Zahnschen Gestalten; und mehr als einmal zeigt Zahn, wie haltlose Menschen zugrunde gehn, zeigt es so, wie sein Landsmann Jeremias Gotthelf immer wieder auf das Elend der »meisterlosen« Knechte hinweist und ihnen seinen Uli gegenüberstellt. Glück und Frieden einer Familie bricht wie morsches Gebälk an dem Rausch einer Stunde zusammen, da der Starke schwach geworden ist, und fein ist es in dieser Menschenerzählung, wie in dem Augenblick der Katastrophe die Ureigenschaften aller Beteiligten wieder hervortreten, die Gewohnheit und Zusammenleben scheinbar geändert haben. Die Tote ist dahin, und die Lebenden gehn auseinander, ohne sich zu verstehn, da in Wirklichkeit keine Brücke zwischen ihnen bestanden hat. Noch ist Zahn so ganz ausschließlich im Uri daheim, daß ihm Ausflüge ins Weitere nicht recht gelingen, wenn er etwa das Dorfkind Kuni (»Kunis Heilung«) in die Pensionswelt oberitalienischer 200 Seen führt, oder in ähnlicher, um eine gesellschaftliche Stufe höherer Umgebung dem Tod leibhaftig begegnet, dem Herrn »Herr« im Kavaliergewande.

Ernst Zahn war dreiunddreißig Jahre alt, als er diesen Novellenband veröffentlichte; er schließt die erste, gärende Periode seines Schaffens, in der neben Vollendetem Unfertiges und Halbgelungenes liegt. Von nun an ist es, als ob er ganz freien Boden gewonnen hätte mit einer Aussicht, die oft genug schon über die Grenzen des engsten heimischen Bezirks hinausgeht, und er schafft in der Reihe von Werken, die sich ihm seitdem vollendeten, nur noch Gestalten von vollem menschlichen Gehalt inmitten einer ganz echt eingestimmten Umgebung.

Im Gebirg der Bauer spricht: Nicht dort,
Wo im Frühling schon das Gras verdorrt,
An die Lehne düster, kühl und falb,
Baue, Freund, dein Haus, nicht schattenhalb!

Diese Verse geben den Auftakt aus der Natur selbst für drei Erzählungen von der Schattenseite, »Schattenhalb« benannt (1903). Da tritt uns die erste, allseitig gesehene Frauengestalt Zahns, Violanta Zureich, entgegen, die sich, ganz noch unter dem Druck des schmutzigen Lebens bei den verkommenen Eltern, in einer verlorenen Stunde dem Leutnant Marianus Renner hingibt. Aber diese Stunde entscheidet in ganz anderm Sinne über sie, es kommt über das Mädchen wie ein Erwachen, sie streift die Häuslichkeit von sich ab und geht als Magd in ein ehrbares Haus. In stiller, fester, ernster Arbeit, die das Erinnern an jene Stunde nur noch wie ein leichter Schatten trifft, kommt sie innerlich immer weiter empor und schließlich als Frau in das Rennerhaus, als Frau des Bruders jenes Wüstlings, der längst fern der Heimat verkommen umherirrt. Als eine reine und starke Frau und Mutter steht sie da, bis der Schatten wieder Leben gewinnt und Marianus zurückkehrt, geil und gierig wie je. Da er nicht von ihr ablassen will mit 201 Zweideutigkeiten und Bedrängung, tilgt sie den Schatten, indem sie den verlorenen Menschen auf einem Berggang mit fester Hand in den Abgrund stößt. Aber sie tilgt auch sich selbst und geht gefaßt, ihr Geheimnis in der Brust, aus dem Leben und läßt dem Mann und den Kindern das Gedächtnis einer heißen und festen, ehrlichen Liebe.

Ich möchte mit Zahn nicht darüber rechten, ob dieser Ausgang notwendig war, ob Violanta nicht, so hoch, wie sie jetzt innerlich steht, weiterleben könnte – der ganze Gehalt des Werks ist so rein und einheitlich, die herrschende Erscheinung der Frau und die um sie herum sind so echt und voll, daß vor diesem Leben solche Einwände verstummen. Und wiederum aus dem Schatten ins innere Licht, ob auch nach das Äußere entstellenden, unverdienten Leiden, gelangt Lentin (»Lentin« in demselben Bande), der Sohn, der – immer kehrt das alte Motiv wieder – schwere, unbekannte Schuld des Vaters gegen den Nachbarn durch ehrlichen, unbelohnten Dienst bei diesem sühnt, bis an dessen Tod, und der von den verkommenen Söhnen dann als einziges Aufgeld Messerstiche erntet. Und bis zur tragischen Not steigert sich dies Leben schattenhalb in der letzten Novelle des Bandes: »Das Muttergöttesli«; da sehn wir im Hause des Trunkenbolds die Tochter mit dem alten Großvater, und am Schluß des Abendgebets legt sie die beiden Hände über dem Buch zusammen und sagt ganz klar und fest: »Herrgott, laß den Großvater sterben«. Und der gequälte Mann, den der rohe Sohn mißhandelt, wartet schon in der Ecke immer auf diese Worte, »und wenn sie kommen, nickt er so hastig und ungeduldig wie ein Kind, daß noch nicht reden kann und doch um alle Welt ja sagen möchte«.

Es sind immer wieder »Helden des Alltags« (1905), die in solcher Umgebung wachsen; und immer ist Zahns spröder Stil biegsam genug, allen Wegen der Seele nachgehn zu können, die in diesen Menschen kämpfen. Das zeigt sich nun mit einer schlechthin meisterhaften Reinheit in der schönsten Novelle, die er 202 vielleicht geschrieben hat, »Keine Brücke« (»Firnwind« 1906). In ihr tritt er ganz und zum erstenmal nun mit vollem Gelingen aus der Enge der Gotthardtäler in das weitere Leben einer Stadt am See, St. Felix, wo schon die gehaltne Erzählung »Verena Stadler« (»Helden des Alltags«) spielt, und zum erstenmal stehn seine Menschen ganz in freier Luft gegeneinander ohne Mitwirkung der großen Natur. Der Konflikt ist uns bekannt, der alte aus so vielen seiner früheren Romane und Novellen, nur ins Städtische übertragen: die Verbindung zwischen Menschen zweier verschiedener Sphären, zweier Kreise, die sich für gewöhnlich gesellschaftlich nicht schneiden. Der Pfarrer Ludwig Heß, der Sohn einer Patrizierfamilie hat die schöne Tochter eines Weinhändlers geheiratet, die er am Krankenlager des Vaters kennen lernte. Er aber ist so ganz mit allen Nerven ein Sohn seiner alten Kultur, daß ihn immer wieder vieles in Art und Umkreis der Frau und der Ihren empfindlich berührt. Aber nicht das gibt schließlich ganz den Ausschlag, sondern es ist ungemein fein, wie es sich nur als ein unablösbares Element verbindet mit den tiefern Herzenskämpfen der beiden, in denen sich die zarte Kraft des Mannes schließlich verzehrt. In jedem kleinen und großen Konflikt handelt die Frau ganz aus ihrer Natur und Überlieferung heraus, ohne böse Absicht, und kann doch nicht anders, als den wirklich heiß geliebten Mann immer aufs neue verletzen, immer wieder Taten tun, die die eben sich erbauende Brücke zwischen beiden schon bei den ersten Pfeilern niederreißen. Er erlischt, und sie bleibt leben, ohne Ahnung, daß noch ganz zuletzt eine stumm getragene und nie bekannte Liebe mit dem Hauch eines schon nicht mehr irdischen Friedens in das Herz des Kranken eingezogen ist. Und mit echtem, knappem menschlichen Ton werden auch nach dem Tode des Pfarrers zu St. Felix die Konflikte nicht verwischt, sondern was der Schweigsame nie aussprach, darf seine Mutter, da sie gefragt wird von der erregten Witwe, leise andeuten, ohne volles Verständnis zu finden – es gibt keine Brücke. 203

Daß es auch zwischen einer starren, ganz in sich und der Tradition beruhenden Vergangenheit und einer neuen, blühenden Gegenwart unter Umständen keine Brücke gibt, zeigt Ernst Zahn in dem Roman »Die Clari-Marie« (1904). Mit allen, gesetzlichen und ungesetzlichen Mitteln, die aber doch aus einem starken und ehrlichen Charakter entspringen, wehrt sich Clari-Marie, die Hebamme, Ärztin und Beraterin des ganzen Bergdorfes oben am Abhange, gegen die neue Zeit, will ihr Dorf, wie einst der Vorstand in den »Herrgottsfäden«, vor der neuen Zeit bewahren und muß dann erleben, daß sich diese ihr in der Person des Neffen leibhaftig gegenüberstellt. Der junge Arzt macht ihr Wesen zunichte, er hilft mit seiner stillen und ganzen Kunst, wo ihre ebenso stille, halbe, ländliche nicht mehr ausreicht, und sie muß sehn, wie ihr langsam ihr ganzes Leben unter den Fingern zerrinnt – sie verliert Pfarrer und Kirche, weil der Pfarrer sich als ein unwürdiger Mensch entpuppt, verliert die scheinbar so frommen Geschwister, auf denen der Verdacht zweier schwerer Verbrechen ruhen bleibt, und muß endlich durch eigne Schuld die einzige geliebte Verwandte dahingehn sehn, der sie den Arzt zu spät gerufen hat; und ihm hat sie damit zugleich sein Lebensglück zertrümmert. Das Dorf ist wieder still geworden, aber einsam ist's auch um sie. Und dennoch lebt sie in uns ganz von eignen Gnaden als ein starker und ganzer Mensch, fehlbar wie wir alle, aber doch mehr als der Durchschnitt durch die Hingebung an etwas, das sie über sich stellt und halten will. Wozu sich der Schmied Fausch (»Stephan der Schmied« in »Firnwind«) noch zurzeit durchringt: ein Unrecht einzusehn und durch Verzicht gutzumachen, das gewinnt diese Natur freilich zu spät sich ab, aber sie ist von dem Stamm der Menschen, die nichts halb haben können und keine Kompromisse kennen, sondern sich lieber in sich ohne tragische Gebärde mit stummen Lippen zugrunde leben. Heldisch bleibt sie doch, wie Marianne Denier, deren Gerechtigkeit freilich wahre Gerechtigkeit ist, wo die der Clari-Marie nicht immer von 204 Selbstgerechtigkeit fernbleibt, (»Die Gerechtigkeit der Marianne Denier« in »Die da kommen und gehen« 1909). Das tragische Erlebnis der Clari-Marie ist verwandt dem des Pfarrers in »Einsamkeit« (1909), nur daß der umgekehrt scheitert an dem Beharrungsvermögen der Welt um ihn, in die er eintritt mit dem ganzen heißen Eifer einer von jugendlichem Erlöserdrang erfüllten Seele. Er schließt, ob auch nicht mit so starker Silhouette wie andre Zahnsche Gestalten, einen Kreis geistlicher Männer oft recht unerquicklicher Art ab, in seiner lichten seelischen Haltung ein Gegenstück zu dem wundervollen Geistlichen aus »Albin Indergand«. Von beiden gilt, wie von dem Pfarrer Heß in »Keine Brücke«: »er wußte, daß er das zu spenden hatte, was an den Menschen göttlich ist, daß sie den Elenden für verlorene Liebe von eigner Liebe zu geben vermögen«.

Fahle Schatten breiten sich immer wieder über diesen Helden, die schattenhalb wohnen oder erst, wie dieser Pfarrer, im Tode des Firnwinds reinigende Kraft verspüren. Der lichte Widerschein der Höhen aber, der die Schatten überwindet, liegt in vollem Glanz auf der Gestalt Lukas Hochstrassers (»Lukas Hochstrassers Haus« 1907). Wir sehn den Mann, dessen Bau noch einmal jene hünenhaften Helden der ältesten Zahnschen Werke zurückruft, da er, eben Witwer geworden, in bäuerlicher Weise den Kindern sein Erbe übergeben hat. Und Faden für Faden muß er das Werk wieder aufnehmen, da die Söhne haltlos auseinanderstreben, er muß, die noch zu retten sind, wieder einsammeln, die Toten begraben, durch ihre Schuld zersprungenes Glück heilen und führt das alles aus mit der gerechten Kraft eines hellen, festen Menschen, dessen schlichtes Wort die Umgebung zwingt, an ihn zu glauben. Selbst eines jungen Weibes Liebe wird dem Alternden noch ungesucht zuteil, und mit der sonnigen Ruhe seiner vollen, über ihnen allen waltenden Männlichkeit nimmt er sie nicht an und weiß auch da mit gehaltener Fassung ein fruchtbares Weiterleben miteinander zu bereiten, aus dem nun die blühende Jugendkraft 205 der Enkel mit Hoffnung der Zukunft dem Morgen entgegenschreitet; er aber geht zum Abend ein. Ein ungesuchtes Sinnbild bleibt diese Gestalt in ihrer großen Umgebung unter den Schneehäuptern und am Bergsee, über den das Leben der Stadt immer wieder zu Heil und Unheil seine Boten schickt; sie ist ein Sinnbild des nun ganz reifen und männlich freien Schaffens ihres Dichters. Sommerlicher Glanz liegt über diesem schönen Werk, wie er auf Ernst Zahns ganzer Gestalt gebreitet ist. Er hat eines seiner ersten Bücher schlechtweg »Menschen« genannt und ist im Laufe seiner immer höher steigenden Entwicklung dahin gekommen, den alten Wiener Liedvers »Menschen, Menschen san mer alle!« in einem hohen und freien Sinn mit dem tiefen Mitgefühl einer in die Seele dringenden Natur auf einem höheren Niveau lebendig darzustellen.

Es gibt verschiedene Stufen der Heimatkunst. Auf der untersten ist die Schilderung der Heimat an sich die Hauptsache; ihre besondern Volksgebräuche, der intime Reiz ihrer Gefilde sollen dargestellt werden, oft mit der Tendenz, die alles wegwischende Gewalt neuer Lebensformen zu bekämpfen. Jeder deutsche Gau hat heute solche Darstellung, von schlichten Erzählern, deren Werke den Namen Kunst noch nicht verdienen, bis zum freien kulturhistorischen Schilderer.

Erst auf der zweiten Stufe darf man im Grunde von Heimat kunst sprechen, erst da setzt die Dichtung ein, denn nun werden solche Konflikte gebracht, die dieser Heimat im besondren eigen sind, ich möchte sie abgekürzt Deichkonflikte oder Gletscherkonflikte nennen – Kämpfe, die nur unter den besondern Bedingungen von Luft und Licht, Sitte und Leben einzelner Landschaften ausgefochten werden können.

Auf der dritten und höchsten Stufe steht der Mensch als Mensch im Vordergrunde; er ist die Hauptsache, wie er für uns der Erde Mittelpunkt ist. Die Konflikte sind allgemein menschliche, mögen sie tragisch oder humoristisch oder beides sein; und nur die besondre 206 Färbung, die besondre Lebenstreue gehört der Heimat an, versetzt diese Menschen in einen bestimmten Umkreis, dem wir sie als ganz zugehörig empfinden. Auf dieser höchsten Stufe wird die Heimatkunst große Kunst, auf ihr steht Ernst Zahn, auf ihr grüßt er die großen Meister vom Züricher See, Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer, und tritt zu dem andern großen lebenden Dichter seines Landes, dem Meister Carl Spitteler vom Schweizer Jura. Ernst Zahn steht auf einer Höhe mit weitem Umkreis, und wir erwarten aus diesem Umkreis noch viele volle Gaben seiner Kunst. 207

 


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