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Ernst von Wildenbruch

Am 3. Februar 1845 schrieb der königlich preußische Generalkonsul in Beirut, Louis von Wildenbruch, an die Familie Boguslawski: »Ernestine hat diesen Brief nicht beendigen können, indem sie heute früh (3. Februar) rasch und glücklich von einem starken Jungen entbunden wurde.« Dieser Knabe war Ernst von Wildenbruch. Sein Vater war der Sohn des Prinzen Louis Ferdinand von Preußen und seine Mutter eine Tochter des Capitains (Hauptmanns) von Langen, der bei Jena gefangen genommen wurde; Ernestine, die gleich nach der Geburt mutterlos geworden war, kam dann ins Haus des Regimentskommandeurs ihres Vaters, des Obersten von Boguslawski, und ging aus diesem, zweiundzwanzigjährig, im Jahre 1827 als Hofdame in das der Fürstin Radziwill, Prinzessin Luise von Preußen, der Schwester des Prinzen Louis Ferdinand, über. Hier blieb sie, bis sie im Jahre 1837 den um zwei Jahre älteren Neffen der Fürstin, eben Louis von Wildenbruch, damals Premierleutnant im Gardekürassier-Regiment, heiratete. Der Gatte ging dann zur Diplomatie über, und sie lebten zunächst in Beirut, später in Athen, zuletzt in Konstantinopel, wo Wildenbruch Gesandter bei der Hohen Pforte war. Zu den ersten Eindrücken der Kindheit gehörte für Ernst von Wildenbruch die Revolution von 1848, weil er mitten unter ihr im Radziwill-Palais, dem jetzigen Wohnsitz des Reichskanzlers in der Wilhelmstraße zu Berlin, jene ernsten Wochen zubrachte, während sein Vater in nicht eben glücklich verlaufener besonderer Sendung als Begleiter des Generals von Below nach Malmö abging. Von 1852 ab aber eröffnete sich dem Knaben, dessen Sprachbegabung die Mutter in 46 Briefen an die Freunde früh rühmt, die Natur und die Welt von Konstantinopel; »Arnautköi – wer von denen, die dies lesen, kennt den Ort? Denen, die ihn nicht kennen, darf man raten: Seht ihn euch an, er verdient's«. Und die Eindrücke des Orients, die Ernst von Wildenbruch früh empfing, sind dann in Balladen und an manch andrer Stelle wieder zutage getreten, wie denn auch die Akropolis, unter der ein Teil seiner Kindheit sich abspielt, ihn nie ganz aus ihrem Bann gelassen hat. Die Mutter starb früh, und die Erziehung des Jünglings vollendete sich in Deutschland. Er hat wohl selbst einmal gesagt, geboren worden wäre er erst im Jahre 1866, nämlich im Gewirr und Getöse der Schlacht von Königgrätz, die er, der zwei Jahre aktiv gewesen war, als Reserveoffizier mitkämpfte. Erst nach dem Kriege bestand er das Abiturienten-Examen, wurde Jurist, lebte als Referendar in Berlin und Frankfurt a. d. Oder, wo ihm Eduard Simson, sein Präsident, ein gütiger Berater war. Dann kam er als Assessor nach Berlin und ist hier bald ins Auswärtige Amt eingetreten, dem er bis 1900, zuletzt als Geheimer Legationsrat, angehörte. Sein Dezernat betraf vornehmlich die Suche nach verlorengegangenen Deutschen im Ausland, und er hat selbst gelegentlich gestanden, daß diese Tätigkeit seine Phantasie anrege und befruchte. Seit 1900 lebte Wildenbruch im Ruhestande und teilt das Jahr zwischen Berlin und seiner Villa »Ithaka« in Weimar; am 15. Januar 1909 ist er – uns Allen viel zu früh – in Berlin plötzlich gestorben, Weimar birgt sein Grab!

Man kann es in Wildenbruchs Roman »Schwesterseele« (1894) nachlesen, wie der Referendar in Frankfurt ein Dichter ward oder vielmehr sich als Dichter durchrang; und welchen Eindruck der über einen ganz engen Kreis hinaus noch unbekannte damalige Assessor von Wildenbruch denen machte, die ihm näher kamen, hat Berthold Litzmann mit dem vollen Nachhall einer unvergeßlichen Jugenderinnerung geschildert: »Es war im Sommer 1878.Wenige Tage nach jenem grauenvollen Attentat auf unsern alten Kaiser. Noch zitterte in uns allen der namenlose Schmerz und die wilde Empörung, daß 47 solch ein Frevel, unter unsern Augen gewissermaßen, sich hatte ereignen können. Wir fühlten uns als Mitschuldige, denn der Mörder war ein Deutscher wie wir. Der dumpfe Druck, der auf uns lastete, ließ auch in unsern geselligen Zusammenkünften die natürliche Ungezwungenheit und harmlose Fröhlichkeit nicht aufkommen.

So saßen wir auch an einem schwülen Juniabend wortkarg beisammen, ein Kreis junger Leute. Kein Lied, kein Scherz wollte durchschlagen. An das, was alle innerlich beschäftigte und erregte, wagte keiner zu rühren. Es war eine wunde Stelle. Da kam noch in später Stunde in unsern Kreis ein Gast, der, obwohl er viel älter als die Mehrzahl von uns, doch gern und häufig bei uns jungen Leuten einsprach: der Assessor von Wildenbruch. Ich kannte damals so gut wie nichts von ihm, und was mir andere mit großer Begeisterung von seinem ungewöhnlichen dramatischen Talent gesprochen, hatte ich mit lächelnder Skepsis aufgenommen. Das Wenige, was ich von ihm gelesen, hatte keinen nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht. Wir begrüßten ihn freudig. Denn, wie er an Jahren, Erfahrungen und Geist uns allen überlegen war, so brachte er immer in unser Zusammensein Leben und Bewegung. Aber heute schien auch er zu versagen. Die Unterhaltung stockte wieder und wieder. Wortkarg vor sich hinbrütend, wie mit den Gedanken anderswo beschäftigt, saß er in unserer Mitte. Plötzlich erhob er sich: ›Meine Freunde, wir wissen alle voneinander, was einen jeden innerlich beschäftigt; mich wie Sie alle. Ich möchte einige Verse sagen, die in diesen Tagen entstanden sind, vielleicht habe ich damit auch ausgesprochen, was Sie empfinden; es ist kein politisches Gedicht.‹ Dann sprach er ein Gedicht, das heute längst vergessen, im Wind verweht ist, von dem mir aber die Eingangsstrophen unauslöschlich im Gedächtnis geblieben sind:

Ein Denkmal wird errichtet,
Wo Heldentat geschah,
Ein Mahner und Verkünder
Zukünft'gen steht es da. 48

Auch diesem Tag ein Denkmal,
Ein Zeichen ernst und schwer,
Ein Grabmal deutscher Treue,
Ein Brandmal deutscher Ehr.

Nehmt nicht Metall und Marmor,
Nicht kunstgefügten Block,
Nehmt unsres Herrn und Kaisers
Zerschoßnen Waffenrock.

Und hängt ihn stumm und einsam
An dunkle Pfeilerwand,
Schreibt nichts dazu als dieses:
Getan von deutscher Hand.

Dann schweigt, denn furchtbar reden
Wird dies zerrißne Kleid –
Zürnend wie Richters Stimme,
Zermalmend wie das Leid. . . . Ich gebe den Text nicht nach Litzmanns »Deutschem Drama in den literarischen Bewegungen der Gegenwart«, sondern in der Fassung der »Letzten Gedichte«, die Ludwig von Wildenbruch 1909 herausgegeben hat.

Das Weitere ist mir entfallen. Aber diese Worte gruben sich für immer in mein Gedächtnis: als ein monumentaler, in seiner Schmucklosigkeit um so tiefer ergreifender Ausdruck der Gefühle, die damals Millionen Herzen durchzuckten, und zugleich als Zeugnis eines dichterischen Gestaltungsvermögens von ungewöhnlicher Energie und Anschaulichkeit des Bildes. Ein Meisterstück poetischer Suggestion, die Phantasie zu bannen an das Bild: Der zerschossene Waffenrock des greisen Helden als Denkmal der Schmach an dunkler Pfeilerwand vor uns aufgerichtet!

Das Gefühl, das mich damals durchzuckte, als wir in atemlosem Schweigen lauschten: Das ist ein Poet, der anders wie alle andern zu uns zu sprechen und uns die Herzen zu bewegen weiß, das Gefühl hat mich nicht getrogen.« 49

Dies Jahr 1878 sah Wildenbruch also noch angewiesen auf den studentischen Kreis, der ihn bereits als einen Führer liebte und verehrte, und dem er solche Anhänglichkeit als Dichter vergalt.

Nicht zum Tändeln, nicht zu Spiel und Tanzen
Zogen einst vor Jahren wir hinaus,
Einen Garten gingen wir zu pflanzen
Und zu bauen gingen wir ein Haus.

In der Welt des dürren Straßenstaubes,
Der erlösungslosen Alltagspein
Sollte noch ein Fleckchen grünen Laubes
Für des Waldes süße Sänger sein.

Deutscher Dichtung obdachlosem Haupte
Bauen wollten wir ein schirmend Dach,
In der Welt, die nicht an Götter glaubte,
Sollt ihr Stätte bleiben und Gemach.

Das waren Verse, die entstanden in Erinnerung an das jugendfrohe und ernste Streben jener um Wildenbruch gesammelten studentischen Schar, einer Schar, die zusammentrat noch inmitten des Niedergangs der siebziger Jahre. Und der ganze Geist dieser siebziger Jahre verschuldete es dann auch, daß Wildenbruch Handschrift auf Handschrift im Schubfach häufen durfte, ohne daß die doch wahrlich nicht mit neuen, kräftigen Werken gesegneten Bühnen sich einer von ihnen annahmen. Erst am 6. März 1881 wurden Wildenbruchs »Karolinger« zum erstenmal aufgeführt, und zwar durch den Herzog Georg von Meiningen. »Mein Gott, mein Gott,« so jubelte damals Schottenbauer-Wildenbruch, Schottenbauer ist der Held des vielfach selbstbiographischen Romans »Schwesterseele« (1894). »es gibt also doch noch Orte auf der Welt, wo der Mensch nicht aufhört, zur Kategorie der ›Vernünftigen‹ zu zählen, wenn er was andres will, als am großen Mühlrade des praktischen Lebens mitdrehen! Einen wenigstens gibt's, und den habe ich heute kennen gelernt, und er 50 ist hier; denn hier steht die Sache umgekehrt, hier fängt der Mensch erst mit dem Künstler an! Und Künstler ist dieser Herzog – ein Künstler – Maler und Dichter, Leiter des Ganzen und Beobachter des Kleinsten – alles so zusammen, daß man meint, die dramatische Kunst müßte vom Himmel heruntersteigen und die Arme um ihn schlingen: ›Sei du mein Verkünder!‹ Glauben Sie ja nicht, daß ich übertreibe; es ist so. Ich spreche so, weil ich begeistert bin, weil ich liebe, aber es ist die Nüchternheit, welche die Liebe verleumdet, wenn sie behauptet, daß sie blind mache. Nein, es ist nicht wahr! Liebe macht das Herz weich, so daß sich das Bild des geliebten Gegenstandes darin abdrückt wie in weichem Wachs, mit allen geraden und krummen Linien.«

Nachdem die »Karolinger« noch im selben Jahre auch in Berlin aufgeführt worden waren, schritt Wildenbruch von Erfolg zu Erfolg. Nicht nur die längst fertigen älteren Stücke, sondern auch jedes neue gingen über viele Bühnen, und jahrelang war Ernst von Wildenbruch der berühmteste deutsche Dramatiker, insbesondere, bis um das Jahr 1890 zuerst »Die Quitzows« und dann »Der neue Herr« ihren Weg machten, wobei freilich »Der neue Herr« einer übeln, von törichter Sensationslust eingegebenen falschen Deutung manches von seinem Erfolg dankte. In den seither verflossenen Jahren hat dann die Kurve seiner Erfolge oft geschwankt, zuletzt aber wieder, mit der »Rabensteinerin«, eine seltene Höhe erklommen.

Trotz solchen Erfolgen und trotz der sich über alle möglichen Kreise ausdehnenden persönlichen Verehrung, die Wildenbruchs goldklare, reine Menschlichkeit genoß, ist das Urteil über ihn keineswegs fest, und wo es fest ist, fast immer nicht richtig. Man hält Wildenbruch einmal gewöhnlich nur für einen Dramatiker, dessen Prosadichtungen nebenbei abgetan werden, und man gibt ihm eine viel zu einfache Linie, die den ganzen Umfang seines Wesens nicht umschreibt. Ja, man spielt da, wo komplizierte Probleme nicht beliebt sind, den »einfachen« Wildenbruch gegen spätere Dichter aus, und man mißachtet ihn eben um dieser Geradheit wegen auf 51 der andern Seite. Nun meine ich: Wer Menschen und Kreise nach kurzem Eindruck so sieht und so schildern kann, wie Wildenbruch, ist denn doch nicht eine auf so einfache Formel zu bringende Persönlichkeit. An derselben Stelle, wo jene Charakteristik steht, kommt ein Telegramm vor, das der junge Dichter von der ersten Probe aus Meiningen nach Frankfurt sendet: »Das Stück schlägt seine Augen auf«. Eine ungemein bezeichnende Wendung: Immer wiederholt sich gegenüber Wildenbruch, auch wo er nur ohne dichterische Absicht schilderte, dieser Eindruck, daß plötzlich etwas Großes die Augen aufschlägt, die es uns bisher verschlossen hatte. So, wenn Wildenbruch Max Maria von Weber, seinen Schwiegervater, vor uns erstehen läßt In den von Maria von Wildenbruch herausgegebenen Weberschen Aufsätzen »Aus der Welt der Arbeit«. Berlin 1907.: »Nur zweimal, solange er lebte, und dann immer nur für Augenblicke bin ich ihm begegnet, dem eigenartigen, dem ganz besonderen Manne, dem Sohne Karl Marias, des großen Musikdichters, Max Maria von Weber. Nur zweimal, und beidemal so kurz, daß man das Zusammentreffen kaum ein Begegnen nennen, daß von einem Erschließen von Persönlichkeit zu Persönlichkeit nicht die Rede sein konnte – wenige Tage nach dem zweiten- und letztenmal, bei dem er mich aufgefordert hatte, ihn in seinem Hause zu besuchen, riß ihn unvermutet der Tod hinweg – und dennoch, so flüchtig der Blick gewesen war, mit dem ich in seine Augen gesehen hatte, unvergeßlich sind sie mir geblieben, diese warmen, beinah heißen, aus stillen Tiefen aufglühenden Augen, nie verlassen hat mich das Gefühl, daß ein bedeutender Mensch in mein Dasein getreten war, und der Kummer darüber, daß ein böses Schicksal es mir verwehrt hat, vertraut mit ihm zu werden.« Oder, wenn es sich – immer außerhalb seiner Dichtungen – um eine Person der Historie handelt. Oder kann man Ludwig XIV. besser von allen Seiten sehen, als Wildenbruch ihn gesehen hat? Aus Liselottes Heimat. Ein Wort zur Heidelberger Schloßfrage. Berlin 1904.: »Und von Chalons wird es dann weitergehen, 52 bis daß Liselotte in St. Germain ankommen wird, in der prunkvollen Löwenhöhle, wo dieser Mann, dieser zweiunddreißig Jahre alte König rastlos hin und her geht, mit den lautlosen, weichen, geschmeidigen Bewegungen eines in der Blüte seiner Kraft stehenden prachtvollen Katzen-Raubtieres, dessen Haupt unter der majestätischen Lockenperücke wie der mähnenumwallte Kopf eines Löwen aussieht, der von Beutezügen siegreich heimgekehrt, die ruhelosen Augen nach neuen Beutezügen ausschickt. Um ihn her werden seine Großen stehen, seine Minister, mit den kalten, klugen, berechnenden Augen, seine Marschälle und Generäle, mit den selbstbewußten, heldenhaften Gesichtern, seine Höflinge in flimmernden Gewändern, die nur einen Gedanken und eine Sorge kennen, ob sie morgen früh beim Lever und morgen abend in den Appartements zugegen sein werden, an seiner Seite an ihn geschmiegt, in hoheitsvoller Bescheidenheit ein wunderbar schönes Weib, Frau von Montespan, seine Geliebte. Und hinter diesen allen, diesem Planetenkreise, der die Sonne zunächst umkreist, wird das ganze Frankreich, werden alle Bewohner Frankreichs, alle französischen Menschen stehn, ihrer aller Augen auf den einen einzigen Mann dort gerichtet, lautlos, weil sie wissen, daß er ungeheure Pläne in seinem Kopfe wälzt, die nicht gestört werden dürfen, so daß ein ungeheures Schweigen über ganz Frankreich lagern wird, das erwartungsvolle Schweigen einer ganzen Nation, die auf ihren Helden, ihren großen Mann blickt, von dem sie ahnt und fühlt und weiß, daß er alle ihre Fähigkeiten in seiner Person vereinigt und sie daher zu einer Weltstellung führen wird, von der herab diese seine Nation auch zu einer Sonne für die übrigen Völker des Erdkreises werden wird.«

So sah Wildenbruch die Welt und die Menschen, und mit diesem Leuchtblick schaute er in das Herz des eignen Volks. Der Alternde stellte ihm freilich ein schlechtes Zeugnis aus, wenn er den Deutschen von heute immer wieder mahnend sagte: »Ihr seid keine Idealisten, euer dekadentes Lächeln war schon einmal da, vor 53 hundert Jahren, und dann wurde Heulen und Zähneklappen daraus!« Aber noch vor zwanzig Jahren konnte er mit der großen Mehrzahl aller, die nicht der Hof oder die Partei verblendete, in der schwersten Schicksalsstunde des Reichs sprechen, er, der Hohenzollernenkel:

Du gehst von deinem Werke,
Dein Werk geht nicht von dir,
Denn wo du bist, ist Deutschland,
Du warst, drum wurden wir.

Was wir durch dich geworden,
Wir wissens und die Welt;
Was ohne dich wir bleiben,
Gott seis anheimgestellt. –

Als Dramatiker hat Wildenbruch begonnen; und wie er das Drama, die Aufgabe des dramatischen Dichters ansieht, hat er selbst mehr als einmal ausgesprochen. Er nennt da von allen Dichtungsarten die dramatische die nationalste, diejenige, die sich am wenigsten von dem Volke trennen läßt, in dem sie entsteht. Und er vergleicht dann sehr fein, im Gegensatz zu der üblichen Parallele mit der Bildhauerei, die dramatische Kunst mit der Architektur Das deutsche Drama, seine Entwicklung und sein gegenwärtiger Stand. Leipzig, Verlag für Literatur, Kunst und Musik 1906.: »Wie sich im Drama der Gedanke des Dichters von Akt zu Akt emporbaut, bis er am Schicksalsschluß des Helden angelangt ist, so steigt vor mir, indem ich ein Bauwerk ansehe, der Gedanke des Baumeisters in bewegter Linie empor von Stockwerk zu Stockwerk, bis daß das Dach darauf gesetzt ist, und nun das Ganze vor mir steht, als ein geschlossener Organismus, ruhevoll, aber nicht starr, gegliedert, aber übersichtlich. Scheinbar ganz verschieden, in Wirklichkeit nahe verwandt, sind die Materialien, mit denen der Baumeister arbeitet und der dramatische Dichter, Steine und Tatsachen. Solange die Steine verstreut am Boden liegen, sind es tote Blöcke, die mir nichts sagen; sobald sie, von 54 der Hand des Architekten zusammengefaßt, ein Gebäude geworden sind, werden sie lebendig; sie sprechen zu mir, und ich verstehe den großen Gedanken, den sie aussprechen. Solange die Tatsachen unverbunden, eine neben der andern, mir aus dem Weltraume des Geschehens entgegentreten, haben sie keine Bedeutung für mich, erscheinen mir wie Zufälligkeiten; sobald sie dagegen, von der Hand des Dramatikers zusammengefaßt, zum kunstvoll gegliederten Drama geworden sind, erkenne ich einen weisheitsvollen Zusammenhang zwischen den Dingen, erkenne, daß jede dieser scheinbar zufälligen Tatsachen ein Gedanke des Weltgeistes ist, sie sich gegenseitig bedingen und von Anbeginn der Dinge an die Stunde regieren, in der ich augenblicklich lebe. Steine und Tatsachen, Bauwerk und Drama werden von einem und demselben Gesetze umschlossen und regiert, von der Linie, die ihnen den Umriß vorschreibt.« An diese Betrachtung knüpft Wildenbruch noch die, daß in der Seelenart des Deutschen Elemente seien, die ihm die vollendete dramatische Kunst beinahe unmöglich machen; denn dem Deutschen, und nicht nur dem Deutschen, sondern dem Germanen überhaupt, sei der Gedanke der künstlerischen Linie von Natur aus fremd. Daß der Engländer den Weg zur dramatischen Kunst fand, verdankt er nach Wildenbruchs Ansicht zum guten Teil seinem normannisch-romanischen Blut, das dem Deutschen ebenso fehlt, wie die ganze Linie einer sich stetig entwickelnden nationalen Geschichte. Und daß innerhalb Deutschlands ein Dramatiker wie Schiller aufstehen konnte, erklärt sich Wildenbruch so, daß der Deutsche immer wieder einmal über seine Art hinweg verlangt und Fähigkeiten entwickelt, die ihn darüber hinaustragen. Und nun gibt es nichts, das bezeichnender wäre für Wildenbruchs Anschauung vom deutschen Drama, als daß ihm seit Schiller nur einer ein großer Dramatiker in Deutschland zu sein scheint, nämlich Richard Wagner. Hebbel, Ludwig, Anzengruber schiebt er beiseite, und nur der große Kleist bleibt in dunkler Gewalt für Ewigkeiten stehen. 55

Es klingt wie Ironie und soll doch nur die rein sachliche Darstellung einer unleugbaren Tatsache sein, wenn ich behaupte, daß diese einheitliche große dramatische Linie Wildenbruchs eigenen Dramen in der Tat fast überall fehlt. Die meisten von ihnen haben hinreißende Eigenschaften, ein aufglühendes Feuer und einen starken Drang zum Ziele, aber selten werden die Charaktere so ganz und rund geschaut und gegeben, wie Wildenbruch doch sonst Menschen im großen darstellen und uns wieder einprägen kann. Man merkt fast immer, warum Wildenbruch dies oder jenes Drama dichtete, das heißt bei ihm nicht, in welcher Tendenz er sie schuf, sondern, da Wildenbruch ein Tendenzdichter nicht ist, welche Idee, welcher große Seelengedanke ihn bei der Konzeption zu dem ergriffenen Stoffe trieb. Oft und oft, wie in »Väter und Söhne« (1881) oder im »Mennoniten« (1881), der große Gedanke des Vaterlands, der in Zeiten des Druckes und der Not alle Bedenken und alle Schranken, selbst anscheinend ehrwürdige, niederreißen soll und muß. Dann wieder, wie im »Christoph Marlow« (1884), die Tragödie des zweiten neben dem ersten, des überwundenen Mannes oder, wie im »Generalfeldoberst« (1889) und den andern Hohenzollern-Dramen, das in ihm schon von Blutes wegen lebende Gefühl, dem geeinten deutschen Volk die Vergangenheit wieder ins Blut zu bringen. Auch darin liegt bei Wildenbruch keine Tendenz, und die Roheit, mit der der Pöbel vieler Sorten ihn zum Hofdichter stempelte, erweist nur, ein wie kurzes Gedärm die Herren haben, die einem Dichter so wenig folgen können, daß sie eine echte Begeisterung und ein aus den Tiefen des Herzens glutvoll hervorquellendes vaterländisches Gefühl, eine innere Not also, verwechseln mit der durch äußern Anlaß geborenen Fanfaronade der lohnsuchenden Mittelmäßigkeit. Der tiefe Ernst, mit dem zum Beispiel in dem »Generalfeldoberst« der deutsche Hohenzoller von kräftiger Mannesart, Johann Georg von Brandenburg-Jägerndorf, seinem Neffen, dem schwächlichen Kurfürsten Georg Wilhelm gegenübergestellt wird, zeigt ja deutlich, aus 56 welcher Quelle die vaterländischen Dramen Ernsts von Wildenbruch geflossen sind. Und wenn es ihm, in den »Quitzows« (1888) zum Beispiel und auch in dem besten dieser Stücke, einem der schönsten, das ihm je gelang, im »Neuen Herrn« (1890), nicht beschieden wurde, gerade die beiden Hohenzollern dieser Dichtungen ganz lebendig zu machen, so lag das nicht daran, daß er sie mit Absicht in übertreibender Hoheit darstellen wollte, sondern, daß ihm die mehr problematischen Charaktere der Gegenspieler, also Dietrich Quitzow, Adam Schwarzenberg, Moritz Rochow, unter den Händen emporwuchsen zu interessanteren und reicheren Gegenständen seiner Poesie. Aber wie stürmt gerade in diesen drei preußischen Dramen, zu denen man als viertes »Väter und Söhne« (1881) stellen muß, während der schwache »Mennonit« ausfällt, – wie stürmt in ihnen ein Temperament von bezauberndem Reiz über solche Schwächen hin und reißt immer wieder mit sich! Wir besitzen ja auch von Dichterhand mehr als eine Darstellung Friedrichs V. von der Pfalz, des gekürten Königs von Böhmen, der am Beginn des dreißigjährigen Krieges steht. Aber wenn wir August Sperl, Adolf Schmitthenner, Adolf Stern reden lassen, so übertönt sie doch die packende Darstellung des Schwächlings und seiner in Ehrgeiz brennenden Frau, wie sie Wildenbruch im »Generalfeldoberst« geschaut und gegeben hat. Und es ist bedauerlich, daß die großen Erfolge seitdem nur zum Teil einem großen Werk Wildenbruchs, seiner Heinrich-Tragödie, zum andern aber einem so schwachen Stück zugefallen sind wie der »Rabensteinerin« (1907) und nicht »Der Tochter des Erasmus« (1900), in der doch eine ganz andre Entwickelung eines Frauenherzens und eines Frauenschicksals vor uns auflebt und lebendig wird, als in dem rasselnden, aber nicht lebensvollen Schauspiel von Bersabe, der Rittertochter. Hier, in der »Tochter des Erasmus«, findet sich alles zusammen, was Wildenbruch im Drama kann: Die stürmische Leidenschaftlichkeit zweier Menschen, die aneinander emporbrandet und beide zusammen fortreißt, und der große Aufbau eines nationalen Schicksals, 57 das beide emporhebt und zusammenführt in einem Augenblick, da die Stimme der neuen Zeit durch die Persönlichkeit des gewaltigsten Deutschen jener Tage zu ihnen und zu uns spricht. Luther redet in diesem Schauspiel kein Wort, aber er ist doch nicht nur Staffage, sondern um die uns allen bekannte Gestalt, die sich nur zu zeigen braucht, gipfelt das Stück sich zum Höhepunkt. Und nicht schöner konnte ein Dichter diese Szene vorbereiten, als durch die unübertreffliche Schilderung des Herzogs von Alba, der nur wenige Worte spricht, aber in ihnen bereits die furchtbare Not ankündigt, die über das religiös gespaltene Reich von Spanien her hereinbrechen soll. An keiner Stelle paßt auf Wildenbruch jenes gegenüber andern so berechtigte spitze Wort Fritz Mauthners:

Prophezeien gelingt den meisten schwerlich
Hinterher ist es minder gefährlich.

Denn wenn seine Gestalten prophetisch erscheinen, so sind sie es durch sich selbst.

Freilich bleibt Wildenbruchs Charakteren so oft das vorenthalten, was wir ein in sich gesteigertes Interesse nennen möchten, und was bei den Trägern der Handlung oft viel mehr fehlt als bei episodischen Figuren. Aber dieser Mangel ist tief verwurzelt mit dem großen Vorzug, der Wildenbruchs Stücke aus der deutschen Dramatik, ja, vielleicht aus der gesamten Dramatik seiner Zeit, mit Ausnahme des von ihm hoch verehrten und warm gefeierten Björnson, hervorhebt: mit Wildenbruchs hinreißendem Pathos. Einem Pathos, das man nicht damit abtun kann, daß man immer wieder von Schiller-Epigonentum spricht. Denn so einfach liegt die Sache wieder nicht: Wildenbruch hat an jener Stelle, wo er von Schiller sprach, weiter gesagt, daß gerade die Begabung zum Aufbau des Dramas, zur Führung der dramatischen Linie ihn geradezu einzig erscheinen lasse, und er stellt nach dieser Richtung hin mit vollem Recht die Wallenstein-Trilogie über alles, 58 was wir an dramatischer Weltliteratur sonst besitzen Besonders fruchtbar wird diese Ausführung Wildenbruchs, wenn man sie mit Otto Ludwigs Beurteilung des »Wallenstein« zusammenhält. (Studien, Sternsche Ausgabe I, 298 f.). Und wenn man damit vergleicht, was Wildenbruch über sein eignes Schaffen sagt, so ergibt sich, daß er zwar vor Schiller kniet, der ihm vor Goethe der Herzenspoet ist, daß aber seine Dichtung doch einen andern Ausgangspunkt hat als Schillers. Auch er schlug, was wir heute leicht vergessen, in den siebziger Jahren der Zeit ins Gesicht, die ihn dafür vor den »hermetisch verschlossenen Toren ihrer Schauspielhäuser« harren ließ; aber sein Pathos und sein Rhythmus sind sehr viel mehr preußischer Herkunft, sind derb und erdenhaft und können sich deshalb ohne jeden Zwang der Sprache des Volks so anbequemen, wie das am kräftigsten und zugleich humorvollsten im »Neuen Herrn« geschehen ist.

»Wildenbruchs Sprache,« schrieb 1895 Herman Grimm, »ist weder anmutig bilderreich wie die Shakespeares, noch sprengt er über die Gewölke dahin wie Schiller, noch enthüllt er in freundlicher Klarheit die Tiefen menschlichen Gefühls wie Goethe, noch hat er Kleists kurz angebundene, trübe, stramme Kürze; neben diesen aber besitzt er seine eigene Sprache doch, für welche die spätere literarhistorische Beurteilung schon die richtigen Adjektive finden wird, eine Sprache, die man einstweilen die Ernsts von Wildenbruch nennen und die man an diesem Namen erkennen wird. Es liegt etwas Aufreizendes in diesen Sätzen.« Das ist alles so richtig, daß es sich besser gar nicht noch einmal sagen läßt, und Theodor Fontane, der Unfeierliche, dem doch wahrlich Wildenbruch in vielem widerstand und widerstehen mußte, war doch Preuße genug, Ähnliches herauszuempfinden, nur daß er es in seiner Art sehr viel familiärer ausdrückt: »Ja, der alte Wildenbruch,« schreibt er der Tochter nach den »Quitzows«, »tobt und wuracht auch hier noch herum, aber es ist so viel von Genialem da, daß ich seinem Unsinn Indemnität erteile.« Herman Grimm 59 erkannte dies »norddeutsch Ungefüge« an dem Dichter vor dem größten dramatischen Werk, das Wildenbruch gelungen ist, der Trilogie »Heinrich und Heinrichs Geschlecht« (1896). Es ist, als ob erst die Form der Trilogie immer wieder dem deutschen Genius die unvergleichliche Gelegenheit böte, sich ohne Rest bis zum Letzten auszugeben und darzustellen. Ohne der Vielen zu gedenken, die vergeblich um sie rangen, und ohne ausdrücklich an Goethes Versuch zu erinnern, von dem nur ein innerlich glühendes Stück übrig geblieben ist, seien nur Schiller, Grillparzer, Wagner und Hebbel in diesem Zusammenhang genannt. Der deutsche Geist, der, wie es Wildenbruch selbst ja einsieht und bezeugt hat, so sehr viel schwerer mit der Form ringt als der romanische oder der englische, braucht Zeit, sich auszuleben; er bezwingt die Form auf dem weiten Plan des gegliederten großen Kunstwerks schließlich doch und bezwingt sie so völlig wie selten im kleineren (es sei hier auf anderm Gebiet an den »Wilhelm Meister«, den »Münchhausen«, »Die Ahnen«, Raabes Roman-Tetralogie erinnert). Die kahlen Stellen mangelhafter Charakteristik, über die die Sprache hinwegrauscht, fehlen in diesem Werke Wildenbruchs fast überall, und der Gang, den die Seele Heinrichs des Vierten und nach ihm die seines Sohnes nimmt, ihre Verstrickung und Erlösung, ist mit Meisterkunst dargestellt. Es bleibt bestehen, daß es Wildenbruch allein gelang, aus dem Heinrichstoff ein geschlossenes Drama hohen Stils zu erbauen, das so viele ersehnten; und er schuf es in einer Zeit, da andere, Gerhart Hauptmann, das in seiner Theatralik verwandte Talent Hermann Sudermanns, sich gleich inbrünstig, nur mit sehr verschiedenem Gelingen um das hohe geschichtliche Drama mühten.

Ich nenne Hermann Sudermann mit vollem Bedacht ein Wildenbruch verwandtes Talent und nehme als Grund und Zeichen dieser Verwandtschaft die Theatralik in gutem Sinn für beide in Anspruch, das heißt jene Sicherheit auf der Bühne, die beiden von Anfang an innewohnte. Wildenbruch und Sudermann sind für 60 das Theater, was vor ihnen in der Sphäre des Volksstücks Anzengruber war. Das fast traumhafte Sichzurechtfinden zwischen den Kulissen, das alle drei besaßen, bevor sich ihren ersten Werken ein Theater öffnete, ist ein Besitz, den man lange nur zu sehr unterschätzte, und für den der ganzen Generation nach ihnen mit wenig Ausnahmen, zu denen ich etwa Fritz Stavenhagen rechne, das Organ abgestorben ist. Daß die Bühne nur drei Wände hat – diese einfache Erkenntnis lebt mit instinktiver Kraft in dem Dichter Wildenbruch, und wenn sie gefährlicherweise manchem gerade seiner schwächsten Werke zu tönendem Erfolge verhalf, so führte sie doch auch wieder die bedeutenden, und auch gerade die Heinrich-Tragödie, zum Siege.

Gefährlicher freilich konnte diese Gabe werden, wenn sie einmal da durchschlug, wo sie kein Daseinsrecht besitzt, nämlich in der Erzählung. Wenn sich etwa in Wildenbruchs »Neid« (1900) ein greller Effekt an die Kinderausrüstung kettet, die der greise Regierungsrat in seinem Schlafgemach aufbewahrt, so empfinden wir einen schrillen Mißton, den wir am Ende der wundervoll aufgebauten Geschichte nur zu gern entbehrt hätten und dem wir erfreulicherweise auch in der überaus reichen Prosakunst Wildenbruchs nur selten begegnen. Die dramatischen Vorzüge aber, die Wildenbruch über den theatralischen besitzt, können sich in seinen Erzählungen frei und mit Naturnotwendigkeit entfalten. Seinen Romanen zwar fehlt fast überall die letzte Vollendung, die uns den Bau einer solchen Dichtung als unvergeßliche Einheit empfinden läßt. Wie er in »Schwesterseele« das Werden eines Dichters, seine Entdeckung und seine Liebe schildert und reizvoll den auch dichtenden Dilettanten schlechterer Sorte daneben stellt, das gibt eine Fülle prachtvoll geschauter Einzelheiten, eine Reihe schöner Szenen und Gestalten, läßt aber die gesammelte Einheit vermissen, die etwa auch in »Eifernde Liebe« (1893) dem Schicksal der einem Künstler folgenden Patrizierin, fehlt. Kein Wunder; denn nicht der Roman, sondern die Novelle ist dem Drama eng 61 verwandt. Den Falken zu greifen, den Paul Heyse in jedes Novellisten Hand wünscht, gelingt dem Dramatiker eher als die Entwirrung des vielfältigen Gespinstes einer Romanhandlung. Und so sind denn Wildenbruchs Novellen zu einer Größe emporgewachsen, die letzten Endes seine Dramen überragen und, wie ich glaube, ihm in der künftigen Literaturgeschichte eine völlig veränderte Stellung gegenüber der heutigen verschaffen werden. Wir haben in Deutschland keinen Novellisten gehabt und haben auch jetzt keinen, der immer wieder eine einzige hinreißende Leidenschaft seine Gestalten so zum Schicksalsschluß führen läßt, wie er. Und es sind da immer wieder zwei heißeste Empfindungen, die Wildenbruchs Dichtungen erfüllen und beseelen. Das Mitleiden mit dem Kinde und die sengende Leidenschaft der Liebe. Was uns als eine neue Entdeckung pädagogischer Sybillen und Propheten aus Norden zugeführt wurde, das hat Wildenbruch mit dem Instinkt eines großen Dichterherzens längst erkannt und dargestellt: daß das Kind nicht unser Spielzeug und unsere Puppe ist, sondern daß es ein Mensch ist wie wir, ein empfindlicher Organismus, der nur zu oft zerbricht an Lieblosigkeit und Kälte. »Das edle Blut« (1892) oder »Der Letzte« (in den »Kindertränen«) (1884) bringen Kindergestalten von so feinen Reizen, so ganz in alles verstehender und den Peinigern gegenüber zorniger Liebe wiedergespiegelt, daß wir schlechthin Seitenstücke hierzu schwer, selbst bei Marie von Ebner-Eschenbach, nicht finden können, die den letzten Schuß lodernder Leidenschaft nicht besitzt. Und wie ein Wildbach über Geröll und Steine schäumt dann die große, unverhüllte, aber in aller Nacktheit nie gemeine Sinnlichkeit Wildenbruchs empor in jenen andern Novellen, die Mannes- und Weibes-Schicksal unlöslich verknüpfen, wie insbesondere in der »Francesca von Rimini« (1883). »Das Stück schlägt seine Augen auf« – wiederum möchte man diese Worte an mehr als einer Stelle dieser Meistererzählung sprechen, wenn feinste Vorbereitung, ein leises Hineintreten des Schicksals ins Leben, den Weg weisen 62 zu tragischer Verknüpfung. Derselbe Dichter, der in seinen Humoresken (1886, jetzt »Lachendes Land«) mit märkischer Plauderhaftigkeit seine Onkel und Vettern höchst ergötzlich abbildete, steht wie ein unerbittlicher Seher vor uns und führt uns wie unter dem Zwange unentrinnbarer dämonischer Kräfte zum Ende. Leidenschaften flackern bei Wildenbruch nicht auf, um jäh wieder abzuflackern; die Naturen, die er in die Mitte seiner Schöpfungen stellt, tragen kein Strohfeuer in der Brust, sondern, was einmal emporschlug, lebt weiter und läßt sein nicht spotten und führt nun wie ein wegweisendes Fanal zum Ziel. Längst begraben geglaubte Leidenschaft flutet über Menschen zusammen, die, wie in »Vicemama« (1902), das äußere Sein längst auseinander riß; letzte Leidenschaft eint sich mit religiöser Sehnsucht und macht, wie in »Claudias Garten« (1895), dem Heiden das Sterben leicht. Und noch, wo wir nicht mit ihm mitgehen können, wie in »Semiramis« (1904), bebt doch auch in uns eine Saite mit, wenn die Klänge einer jäh erwachten und nie wieder ganz verlöschenden Leidenschaft seine Menschen überrieseln.

Merkwürdig genug, daß der Dramatiker, der die artverwandte Novelle meistert, der Ballade Meister selten geworden ist; denn die Ballade steht innerhalb der Lyrik und der Kleinepik dem Drama genau so nahe wie die Novelle innerhalb der Prosaerzählung. Die Schlagkraft und die schnell fortreißende Eile, die sie verlangt, sind dramatische Momente. Wildenbruchs Balladen aber haben, mit Ausnahme des berühmten »Hexenliedes« und dieses oder jenes andern Stücks, einen langsamen Gang in der Art mancher Schillerschen Romanzen; Legende und in orientalischem Maß herschreitende Erzählung treten an die Stelle des wilden Ganges nordischer Geschicke, wie sie etwa Fontane in seinen Balladen vor uns aufstellt. Und so erreicht Wildenbruch die größere Wirkung in seinen Liedern, die größte aber in den Gelegenheitsgedichten, mit denen er an mehr als einem schweren Tage der verordnete Sprecher deutscher Herzen geworden ist. Wenn er in dem Prologe, der 63 das neue Weimarer Hoftheater leider nicht eröffnete, allmählich durch geteiltes Nebelgewölk die großen Dichter des Dramas bis zu Schiller hervortreten ließ, in dem sich die Kunst vollendete, so legte er uns über die Gelegenheit der Stunde hinaus ein Bild ans Herz, das wir nicht vergessen können. Und wenn bei anderer Gelegenheit, noch im alten Hause, enthusiastischer Jubelruf die von Goethe gesprochene Frage bejahte:

Sind wir im Leide noch, sind wir in Lust
Vertraute eurer tief verschwiegnen Brust?
Sind Deutschlands Dichter ihrem Volke nah,
Lebendig heut noch den Lebend'gen? –

so deutete er wieder über die Minute hinaus, wie er in freilich noch weit größerer, ja, in tragischer Art in jenen acht Zeilen Bismarcks Fortgang mit Sehermund zum weltgeschichtlichen Ereignis prägte Sämtliche Schriften Ernsts von Wildenbruch sind bei G. Grote in Berlin erschienen, nur der Roman »Schwesterseele« bei J. G. Cotta in Stuttgart..

Der Mensch, der in und hinter all diesen Werken steht, war von so reiner und schöner Art, daß verständnislose oder mißgünstige Beurteiler, die aber ein glatt verwerfendes Urteil nicht abgeben wollen, sich oft genug mit ihrem Tadel hinter ein Lob dieser in Güte und Größe lebenden und gebenden Menschlichkeit versteckten. Sie hätten das nicht nötig gehabt, denn wer so war und so über sich dachte wie Wildenbruch, dem gegenüber ziemt es sich, offen auszusprechen, was man von ihm hält, und ihn nach dem Maße der eignen Einsicht abzuwägen, wie er es verdient. Freilich wird er nicht verhindern können, daß der, der dies getan hat, nun zum Schluß in tiefster Ehrerbietung sich vor der entschwundenen Gestalt eines Mannes neigt, der, angeblich ein Hofdichter, in den schwersten Tagen neuerer deutscher Geschichte zu Bismarck trat, der die Hälfte des ihm durch kaiserlichen Spruch allein zugefallenen doppelten Schillerpreises allen Dichtern zugute 64 kommen ließ, der der Not des Volkes in Zeiten eines berechtigten Lohnkampfes seinen großen Namen lieh. Wildenbruch war nach jeder Richtung hin eine so freie Persönlichkeit, wie kaum eine andere im deutschen Leben; und gerade weil ihn keine Partei und keine Clique für sich in Anspruch nehmen konnte, blickten wir auf ihn mit Ehrfurcht. Er hat Schiller in Anspruch genommen für den großen Kampf,

Der seit dem Tage des Vernunft-Erscheinens
Die Menschheit klaffend in Parteiung riß;
Den Kampf des Welt-Bejahens und Verneinens,
Des freudgen Lichtes und der Finsternis.

Er selbst stand auf der Seite der Bejaher, und die schweren Zweifel, mit denen er das heutige deutsche Wesen vielfach betrachtete und betrachten mußte, hinderten ihn nicht, an deutsche Zukunft und deutsche Größe zu glauben. Nicht mit schnell bereitem Barden-Pathos, sondern mit dem leidenschaftlichen Gefühl, dessen größte Verkörperung Heinrich von Treitschke war und bleibt, stand Wildenbruch in unserer Mitte. Und wie in all seinen Dichtungen kein unwahrer und kein unreiner Ton ist, so leuchtet aus allen dieser siegesfrohe Glaube an unsere Bestimmung in der Welt heraus. Daß der große Theatraliker, der kräftige, sich zu hohen Leistungen erhebende Dramatiker, der meisterhafte Novellist, eine deutsche Persönlichkeit von leidenschaftlicher Art war, gibt seinem in sich und der Nation beruhenden Wesen die Vollendung. 65

 


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