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Gertrud Prellwitz

Die Zeit ist vorüber, in der die soziale Frage allein die Frage besonders des deutschen Lebens zu sein schien; nicht nur die leichte Ermüdung des Interesses an diesen Dingen im Publikum zeugt dafür, sondern die Stärke, mit der andere Probleme sich in den letzten Jahren in den Vordergrund geschoben haben. Unter diesen steht obenan die Austragung des scheinbaren Streites zwischen Religion und Naturforschung, die dennoch im Grunde mit der sozialen Frage im Wesen völlig verwandt ist. Denn was Millionen unserer Arbeiter und Arbeiterinnen ins Lager einer radikalen sozialen Partei trieb, war ja neben anderm gerade das Gefühl, hier an Stelle des, auch durch die Schuld der Kirche verlornen Zusammenhangs mit dieser einen neuen Glauben, ein neues Gefühl ewiger Hoffnung zu erhalten; sind doch beispielsweise von den Angehörigen der sozial so sehr viel tätigeren katholischen Kirche im Verhältnis zu den Evangelischen nur sehr wenige auf die radikale Seite hinübergegangen. Die Haltung der evangelischen Kirche hat es nicht leicht gemacht, die Verlorengegangnen wiederzugewinnen, und sie hat den Kampf gegen die feindseligen Mächte, die heute dem positiven Christentum widerstreiten, erst sehr spät mit Verständnis und Energie und nicht nur mit der Gebärde harter Abwehr aufgenommen. Über diese feindlichen Mächte, deren gefährlichste nicht die offene Kirchenfeindschaft und Glaubensfeindschaft revolutionärer Agitatoren ist, sondern die unsagbar beschämende Gleichgültigkeit und Unkenntnis breiter Schichten der sogenannten Gebildeten – über all diese Gegnerschaften werden wir nur hinwegkommen und siegen, wenn uns die Frau, die Erzieherin unserer Kinder, die Mutter unseres Hauses, dabei hilft. 165 Und es gehört zu den beklagenswerten Versäumnissen der Kirche, daß sie so lange gezögert hat, sich ihrerseits an der Beantwortung der Frauenfrage anders zu beteiligen als durch die Zulassung der Frau zur rein charitativen Tätigkeit. Daß man auch in positiven Kreisen durch seine kirchliche Stellung nicht verhindert zu sein braucht, anders zu denken, lehrt das Beispiel von Elise Averdieck, wie sie aus den hinterlassenen Aufzeichnungen zu uns spricht. Wie der Kampf für das Evangelium, für das Bekenntnis zu Jesu Christo, der da war, ist und sein wird, über allen geistigen Kämpfen der Gegenwart steht, so wird auch der Frau die ebenbürtige Teilnahme an dieser Arbeit vor allen andern nicht verweigert werden dürfen. Denn was wir hier säen, ist Saat auf zukünftige Hoffnung, Saat, deren Ernte in den Herzen des nächsten Geschlechtes aufgehen und aus ihnen heraus in die Zukunft wirken soll. Wie aber können wir an die Kinder herankommen, als nur durch unsere Frauen?

Gottlob ist ja dies Gebiet keines, vor das Examina oder Berechtigungen gestellt sind, womit ich nicht gesagt haben will, daß Frauen auch als ordinierte Diener unserer evangelischen Kirche nicht Treffliches leisten würden. Wo um der Menschheit große Gegenstände gerungen wird, versagen Doktordiplome und Zeugnisse. Und so hat eine deutsche Frau unserer Generation dem Zwiespalt zwischen der modernen Wissenschaft, wie sie gemeinhin verstanden wird, und dem alten Glauben so ernst und so innerlich nachgesonnen, wie wenige Männer. Ja, ich muß bekennen, daß mir, dem Laien, kein Buch vor Augen gekommen ist, in dem die Persönlichkeit des Heilands nach ihrer Bedeutung für uns mit so reicher Phantasie und mit so gläubiger Phantasie dargestellt ist, wie das von eben dieser Frau, von Gertrud Prellwitz, verfaßte Werk. »Der religiöse Mensch und die moderne Geistesentwickelung« Zuerst Berlin 1905, jetzt bei Eugen Diederichs in Jena., dem ein Bändchen »Weltfrömmigkeit und Christentum« Freiburg i. B., Friedrich Ernst Fehsenfeld, 1901. von minderer Bedeutung vorausgegangen war. Ich 166 habe das Gefühl, daß diese Darstellung von Gertrud Prellwitz eine von denen ist, die über alle Parteistellungen hinweg dem religiösen Menschen unvergeßliche Eindrücke von seinem Glauben geben, ohne ihn beständig zu Kompromissen zu nötigen, auch da nicht, wo er widersprechen müßte. Und ich halte dafür – und das ist ja noch wesentlicher –, daß der Irreligiöse aus diesem Buch schöpfen kann, was er wo anders und besonders – ich darf es leider sagen und mich dabei auf eine jüngst gefallene Äußerung des Hamburger Seniors Behrmann stützen – in vielen unserer Predigten nicht mehr findet: die überzeugende, aus der Tiefe quellende Hinführung zu der Persönlichkeit Jesu Christi.

Da spricht Gertrud Prellwitz vom Wunderglauben. Als von etwas Selbstverständlichem spricht sie immer von Jesu Wundern. Und dann entgegnet sie dem Einwand, den sie fühlt: »Nun, daß es sich hier dennoch um kein Eingreifen in Naturgesetze handelt, ist uns nach unserer Weltanschauung selbstverständlich. Aber ich erinnere Sie daran, was wir unter Naturgesetzen verstehen: die Spiegelung von Gottes einheitlichem, harmonievollen Wirken im Menschenverstand! Es ist aber, wie wir wissen, der Spiegel klein und grob, und die Spiegelung eng und trüb. Was wissen wir von den Möglichkeiten der Natur! Was wissen wir davon, was einer gottdurchleuchteten Persönlichkeit wie Jesus für natürliche Kräfte zur Verfügung stehen, die uns noch unerreichbar sind.

Die Bibel weiß von Naturgesetzen nichts. Wenn sie von einem Wunder erzählt, so will sie nie behaupten, daß dasselbe wider Naturgesetze läuft, sondern wider das Hergebrachte, Alltägliche, Gewohnte, Begreifliche läuft es. Im Sinne der Bibel bedeutet Wunder das, worüber man sich wundern muß; was ganz unbegreiflich ist, was kein gewöhnlicher Mensch kann.

Und nun fassen Sie Jesu Persönlichkeit ins Auge: was sollte dieser Mensch anders tun als Wunder? Wunder tun war seine natürlichste Betätigung! 167

Sind Sie schon einmal einem Menschen begegnet, aus dessen Wesen die Klarheit innerer Harmonie, die Kraft der Gottesnähe still und rein ausströmte auf alle, die dankbar aufnehmend sich dieser Wirkung hingaben? Wie tief geht solche Wirkung! Von Jesu Wesen aber, welche Segensfluten von Gotteskraft müssen da ausgeströmt sein!«

Das ist nicht die glatte Sprache des Alltags, sondern das ist die Sprache einer ungemein feinfühligen Seele, die in sich die Verbindung geschlagen hat zwischen dem alten Glauben und der Gegenwart. Und wie Gertrud Prellwitz ihren Standpunkt zu verfechten weiß, das lehrt die glänzende Widerlegung, die sie der in Deutschland so naiv überschätzten Norwegerin Ellen Key zuteil werden läßt. Ellen Key sagt »Christi Fußstapfen führen nicht dorthin, wo menschliches Glück in irdischer Schönheit und Glückseligkeit blüht, auch nicht dorthin, wo der Forscher entdeckt, das Genie schafft, der Freiheitsfreund kämpft«. Man könnte ja vielleicht glauben, es hieße einer Schriftstellerin zuviel Ehre erweisen, wenn man solche Sätze, solche Phrasen, überhaupt ernsthaft widerlegt; aber man muß bedenken, daß Ellen Key mit solchen Worten nur nachspricht, was wir seit Jahrzehnten von einflußreichen Stellen immer wieder hören, und daß sie es der urteilslosen Menge der Halbgebildeten und der Gleichgesinnten immer wieder vorspricht. So seien denn aus der Entgegnung von Gertrud Prellwitz nur ein paar Sätze gegeben, die an dieser Stelle ohne Kommentar und kritisches Beiwort sprechen sollen. »Wen muß man fragen, was Jesu Sinn gewesen? Die Bekenner, die dem Einzigen nachzufolgen sich treu und eifrig und unfähig bemühen, die Dunkeln, die licht zu sein sich innig anstrengen, oder ihn selbst? Doch seine Erscheinung selbst, wie die Evangelien sie uns zeigen!« Nun fragt Gertrud Prellwitz die Evangelien. Sie erinnert an jene Stelle, da der Herr sich nicht vom Wege ablenken läßt, als seine Mutter und seine Brüder sich ihm nahen, an den Jesus, der die Wechsler und Händler aus dem Vorhof des Tempels jagt, der dem Pilatus 168 auf die Frage »Bist du der Juden König?« antwortet: »Du sagst es«; an seine Stellung vor dem Hohen Rat. Und so schließt sie: »Darum gilt es zuerst, die Evangelien wirklich zu lesen und in die Individualität Jesu einzudringen. Ein gutes Mittel, das zu erreichen, schien mir immer, daß man die Erzählungen so weit liest, daß man alle Vorbedingungen kennt und nun auf die Haltung Jesu gespannt ist; dann inne hält und sich fragt, wie diese oder jene reinste Persönlichkeit, die man kennt, entschieden und gehandelt haben würde. Und nun zugeschaut, was Jesus tat! Fast erschrocken wird man sein, wie er immer die denkbar vornehmste Möglichkeit und immer in ganz individueller Weise erfüllt. Indem man sich so erst Gegenbilder für seine Individualität schafft, hebt sie sich uns heraus.«

Man sieht: Hier kann auch der, der die Weltanschauung von Gertrud Prellwitz in vielem nicht teilt, Erquickung und die Freude an einem Menschen schöpfen, der sich vor dem Größten, was wir besitzen, immer ins Große denkt. Und weiter erkennt man ferner sofort: Die so spricht, muß eine Dichterin sein.

In der Tat, Gertrud Prellwitz, die im Jahre 1869 in einem ostpreußischen Pfarrhause geboren wurde, ist eine Dichterin. Verhältnismäßig spät hat sie begonnen, größere Werke zu veröffentlichen, und so liegen bisher nur drei Dramen von ihr vor. Zuerst erschien im Jahre 1898 »Ödipus oder das Rätsel des Lebens«, eine Tragödie in fünf Akten Alle drei Dramen im Verlage von Friedrich Ernst Fehsenfeld in Freiburg..

Gertrud Prellwitz schaltet in diesem Stück insofern frei mit dem Stoff, als sie die ganze Tragödie des Ödipus bis zum Tod der Jokaste und zur Selbstblendung des Helden unmittelbar zusammenfaßt und zeitlich dicht anschließt an die Errettung Thebens und die Krönung des Erretters zum Könige; denn für sie fängt die Tragödie schon an, da Ödipus Korinth verläßt, um das Rätsel der Sphynx, das Rätsel der Nacht zu lösen. Und nicht, da er das Rätsel der Sphynx beantwortet, sondern da er, durch die eigene Hand blind 169 geworden, zum Seher wird, findet er die Lösung des Lebensrätsels. Da wird ihm klar, daß verhüllt durch die Nacht der Gott des Lichts geht und daß es gilt, durch die Hüllen zum Lichte zu dringen. Im Gegensatz also zum antiken Schicksalsbegriff, wie er uns immer wieder entgegentritt, wird hier der Weg zum Lichte gezeigt, den die Seele in Schmerz und Schuld, aber mit dem reinen Willensdrang des durch äußere Schicksale nicht geschreckten Menschen gehn soll. Mit schweren Fittichen gleitet die Dichtung einher. Bange Ahnungen, dunkle Stimmen des Innern tönen immer wieder, wenn der Lichtlose glaubt, das Glück enträtselt zu haben. Furchtbar ernst und fern von jeder Spielerei ist diese Dichtung und vielleicht in ihrer Schwere noch über die Absicht der Dichterin hinaus gesteigert durch einen gewissen Mangel an Nuancen, ja eine gewisse Wortarmut, die der beginnenden Poetin zu schaffen macht, aber auch heute merkwürdigerweise von derselben Gertrud Prellwitz noch nicht überwunden ist, die als Schriftstellerin über die Sprache mit Meisterschaft herrschend verfügt. Aus diesem Grunde ist es auch schwer, einzelnes herauszuheben, und man muß sich hier, bei den beiden Dramen von Gertrud Prellwitz, damit begnügen, allgemeine Umrisse der Werke zu geben.

Das erste Drama, der »Ödipus«, stellte den Lichtsucher neben die Jokaste, aber doch so, daß Ödipus selbst immer der Interessantere, ja der eigentliche Angelpunkt der Dichtung blieb, daß sich alle Strahlen auf ihm als Mitte sammelten. In dem zweiten Werk »Zwischen zwei Welten, eine Weltanschauung im dramatischen Bilde« (1901) wird der Widerstreit ausgefochten, nicht mehr allein zwischen dem Helden und seiner inneren Stimme, sondern zwischen zwei gegeneinander gesetzten Persönlichkeiten, dem oströmischen Kaiser Heliodor und der Prophetin Janthe. Heliodor hat, da er zum Kaiser ausgerufen wird, nichts eiligeres zu tun, als das Christentum abzuschaffen, ohne es aber zu verfolgen. Er dient Helios dem Lichten und sieht das Christentum mutatis mutandis etwa so an, wie Ellen Key – als Feind der Schönheit und Freude, als 170 die Religion, die das dumpfe Ducken verlangt. Janthe aber, die Prophetin des Christentums, zeigt ihm instinktiv, daß er und sie im Grunde demselben »Unbekannten Gotte« dienen, den er über dem Gezänk der Arianer und Athanasianer im Christentum nicht finden zu können meinte. Die Verwickelungen, in die sie beide dadurch geraten, fordern ihren Tod, einen Tod, der freilich nur der Übergang erkennender Menschen ins Leben ist. Alle Fratzen und aller Brodem einer sinkenden, zuchtlosen Welt tun sich auf, um die beiden, die rein bleiben, die jeder für sich und in der Vereinigung, auf Erden bereits die Verheißung jenseitiger Erlösung empfangen. – »Der Lebendige kam göttlich in die Welt, ihn konnte die Sterbende nicht fassen« – mit diesen Worten deutet Janthe das Rätsel des untergehenden Ostroms befreiend aus.

Es sind ewige Probleme, die Gertrud Prellwitz in diesen beiden Dichtungen angreift. (Ihre dritte Tragödie »Michel Kohlhas« (1905) bedeutet im Verhältnis zu den andern wenig und leidet daran, daß sie, der Verfasserin unbewußt, immer wieder auf die Kleistsche Dichtung ausgerichtet ist, ohne die sie nicht recht lebendig wird.) Es sind Probleme, die immer wieder auftauchen und für die Gertrud Prellwitz allerdings ihre Phantasie schwerlich auf fruchtbarere Pfade lenken konnte, als in die mythische Zeit Griechenlands und in die Periode des dem Untergang geweihten Byzanz. Es lag sehr nahe, in beiden Dichtungen, besonders aber in der zweiten, die Grundidee umwuchern zu lassen von einem Gestrüpp einzelner Milieustudien, von Darstellungen der Zeit und Umwelt. Man stelle sich einmal vor, was der landläufige Dramenstil unserer Tage, der sich im Gegensatz zu dieser Dichterin längst die Bühnen zu erobern gewußt hat, aus dem niedergehenden Konstantinopel gemacht hätte! Dem gegenüber hat Gertrud Prellwitz mit einem feinen Gefühl und einer poetischen Keuschheit von hohem Rang gerade nur soviel um den Kern ihrer Handlung gelegt, wie sie brauchte. Gerade nur soviel, daß uns die Welt lebendig wird, in die sie ihre Gestalten hineinstellt und mit der diese auch 171 durchaus verwachsen sind. Es ist unbedingt großer Stil in diesen Dichtungen. Gewiß haben wir manchmal das Gefühl, als ob Felsblöcke hingeworfen würden, wo andre Marmor und Mosaik zierlich gemeißelt und geglättet verwenden; aber sollen wir das der Größe zum Fehler anrechnen, was wir beim Mittelmaß oft so schmerzlich vermissen? Noch freilich hat die Dichterin ihr letztes Wort nicht gesprochen, und wenn ich ihren Werken Größe nachrühmte, so darf ich damit noch nicht sagen, daß sie aufs Ganze angesehen schon schlechthin groß sind. Aber es steckt in ihnen die Kraft der Menschengestaltung und ein so starker Zug der Beseelung des Ideals, wie ihn wenige Poeten der Gegenwart besitzen.

Unter ihren ostpreußischen Landsleuten steht Gertrud Prellwitz in ihrer Art heute ganz allein, so wenig auch ihr Zusammenhang mit den geistigen Kräften früherer Zeiten dieses reichen Adlerlandes zu verkennen ist. Gertrud Prellwitz ist eine jener einzeln dastehenden Gestalten, denen deshalb, weil sie allein sind, der Weg zum Erfolg so schwer wird. Mit Carl Hauptmann hat sie eine gewisse Verwandtschaft, die besonders deutlich wird, wenn man die Tragödie »Moses« von diesem Dichter gegen die Werke von Gertrud Prellwitz hält. Gertrud Prellwitz ist als Dichterin noch wenig bekannt und nicht weithin gerühmt. Ich wünsche, daß das anders wird. Ich möchte, daß, wie ihre religiösen Schriften, so ihre Dichtungen in Vieler Hände kommen und an viele Herzen klopfen, und ich hoffe, daß auch unsere Bühnen, die ja schon einmal einen einzigen Versuch mit dem »Ödipus« gemacht haben, ihre Pforten dieser Dichterin weit öffnen. Dieser Wunsch entspringt nicht nur meiner Schätzung der willensstarken Frau, der ich den verdienten Erfolg wünsche, sondern auch vor allem dem Glauben, daß Persönlichkeiten wie diese Dichterin Gertrud Prellwitz uns bitter nottun, daß wir den Gewinn haben, wenn wir sie zum Erfolg tragen, weil wir von ihr aufs neue lernen können, was ewig wahr bleibt, daß nämlich große Gedanken und ein reines Herz des Himmels beste Gaben sind und bleiben. 172

 


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