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Am 14. April 1907 ist Adolf Stern, einundsiebzigjährig, plötzlich gestorben, nicht müde von uns gegangen, sondern abgeschieden noch in rüstiger Fülle der Kraft, in immer reger Schaffenslust und voller Interesse am Leben, so vieles ihm auch mit dem Tod der zweiten Gattin entrissen worden war. Ich hatte ihn zum ersten und zum letzten Male im Jahre 1901 auf Raabes siebzigsten Geburtstagsfest in Braunschweig gesehn und werde so wenig wie die schöne Feier selbst die Stunde vergessen, da ich nach der Rückkehr vom Festakt mit ihm und dem nun auch dahingegangenen Julius Lohmeyer in der Germanenkneipe beim Frühstück saß und beide, angeregt durch die Dichterfeier des Tages, von ihren Erinnerungen an große Tote sprachen, Lohmeyer vornehmlich von Uhland und Keller, Stern von Hebbel und Ludwig. Wundervoll, unverlierbar war der Eindruck, nun den Mann voller Pietät und voller Verständnis am kleinen Tisch, mitten unter dem lauten Leben der Gegenwart von jenen Toten reden zu hören, den Mann, der eben Wilhelm Raabe gewissermaßen als verordneter Sprecher all seiner Verehrer die tiefempfundene Glückwunschrede gehalten hatte.
Keiner war hierzu so berufen wie Adolf Stern, der nicht nur der aufrechte Vorkämpfer echter dichterischer Größe aus unfruchtbar gescholtner Zeit, sondern auch selbst ein Dichter von Rang und Gaben war. Er hat sich immer schwer darüber trösten können, daß ihm versagt war, nur als frei schaffender Dichter zu leben. Mit geheimem Weh hat er als junger Mann versucht, den Zwiespalt, in den ihn sein Leben stellte, vor sich und andern als etwas 21 Gutes, ja Erfreuliches darzustellen; aber wir empfinden nur zu sehr den zweifelschweren Unterton, wenn Stern etwa im Jahre 1860, also fünfundzwanzig Jahre alt, an Hebbel schreibt: »Hettner sprach neulich lange mit mir über den Entschluß, eine Reihe von Jahren zwischen historischer Schilderung und poetischer Produktion zu teilen. Er ist der Ansicht, daß die meisten jüngeren Dichter zu wenig Ernst und zu viel Oberflächlichkeit haben, er rühmt mit Recht ein kaltes Studienbad zwischen den Freuden der Muse. So weit scheint er mir im vollen Recht; daß es gut sei, etwas ganz Heterogenes zu treiben, kann ich mir nicht vorstellen. Bei der historischen Darstellung aber spielt die Kunst eine mindestens ebenso große Rolle als die Wissenschaft, mit der bloßen Forschung ist nichts getan und erreicht. Das Bindemittel wird immer die Imagination sein müssen, die ein bestimmtes Bild von Zuständen und Persönlichkeiten aus hundert Einzelheiten zu gewinnen weiß.« Und daß Stern auch später gegen Hebbel immer wieder dieser Frage Erwähnung getan hat, ohne ihr die im eignen Sinn ganz zureichende Antwort finden zu können, beweist Hebbels Brief an ihn vom 30. September 1861 nach Jena, wo Stern damals eine Lehrerstelle übernommen hatte: »Was Sie Ihr Entschluß, Dresden mit Jena zu vertauschen, gekostet haben muß, begreife ich vollkommen. Dennoch haben Sie wohlgetan, denn Sie können sich dort für alle Fälle rüsten. Es gab eine Zeit, wo selbst die Königskinder ein Handwerk lernen mußten, wo die Prinzessinnen in die Küche gingen und die Prinzen in die Tischler- und Schlosserwerkstatt. Ob ihnen dies während der französischen Revolution genützt hat, weiß ich nicht; aber daß dem Dichter ein guter Vorrat von Realien förderlich ist, und liefe es in der praktischen Anwendung auch nur aufs wissenschaftliche Linsenwerfen hinaus, steht fest, denn man kann leichter mit Christus auf den Wellen wandeln als mit einem Buchhändler durchs Leben.«
Es war aber doch ein guter Genius, der Stern nötigte, neben dem Dichter Literarhistoriker zu werden, und wenn er noch in 22 hohen Jahren seinen jungen Freunden Hermann Anders Krüger und Adolf Bartels gegenüber den alten Schmerz über die Lippen gehn ließ, so können wir zwar Stern die Trauer nachempfinden, müssen uns aber zu dem Ergebnis seiner doppelten Lebensarbeit beglückwünschen.
Friedrich Hebbel, dessen Name in diesem Zusammenhang noch oft zu nennen sein wird, hat eine der ersten Dichtungen Adolf Sterns, das Epos »Jerusalem« (1858), kritisch ins Leben geleitet und ihm im Gegensatz zu »Euphorion« von Ferdinand Gregorovius, dessen Gespräche er zu deklamatorisch fand, nachgerühmt, daß hier alles zum Herzen spreche. »Hier werden keine platonischen Dialoge gehalten, sondern menschliche Gespräche, die zu dem, was eben vorgeht, in unmittelbarster Beziehung stehen, ohne drum ins Triviale zu fallen.« So sehr dies letzte Lob auch den späteren epischen Dichtungen Sterns gilt, so werden wir doch heute nicht mehr wohl sagen können, daß sie uns ganz zum Herzen sprechen: eine gewisse Neigung zum Konstruieren liegt in diesen Versepen, so leicht auch die Reime verbunden scheinen. Trotzdem sind zum Beispiel noch in der letzten epischen Dichtung »Wolfgangs Römerfahrt« (1906) einzelne Schilderungen von einer gewissen Macht und einem starken Lebensreiz, so die der Plünderung Roms durch die deutschen Lanzknechte. Aber in der Gegenüberstellung der beiden männlichen Helden auf der einen, der beiden Frauen auf der andern Seite liegt jene gar zu gewollte Art der Konstruktion, die im entscheidenden Moment eine gewisse Abkühlung hervorruft Sterns Werke sind bei vielen Verlegern verstreut. Im besondren sind erschienen: die Gedichte und die Biographie Otto Ludwigs bei Fr. W. Grunow in Leipzig, die Geschichte der Weltliteratur bei Rieger in Stuttgart, die Geschichte der Neueren Literatur beim Bibliographischen Institut in Leipzig, die Biographie Hermann Hettners bei F. A. Brockhaus in Leipzig, die Geschichte der Deutschen Nationalliteratur seit Goethes Tode bei N. G. Elwert in Marburg, die Venezianischen Novellen und der Novellenband »Aus dunkeln Tagen« im Gutenberg-Verlag in Hamburg, »Zur Literatur der Gegenwart« (Älteste Sammlung) bei B. Elischer in Leipzig, alles Übrige, insbesondere die »Ausgewählten Werke« (bisher acht Bände) bei C. A. Koch (H. Ehlers) in Dresden. Einige Novellen sind auch in Reclams Universal-Bibliothek, Hesses Volksbücherei und in den Wiesbadener Volksbüchern erschienen.. 23
Und Ähnliches gilt von Adolf Sterns Romanen, sowohl von den modernen wie von den historischen. Adolf Stern hat im Kampf gegen den sogenannten archäologischen Roman und für Willibald Alexis das Wesen des historischen Romans einmal unübertrefflich so gezeichnet: »Der historische Roman soll und darf nichts Anderes sein als ein Lebensbild, zu welchem sich der Dichter durch die Fülle der Empfindungen und Anschauungen gedrängt fühlt, er muß eine Handlung oder einen Konflikt, er muß Menschen darstellen, an die sich sowohl der Poet mit seiner eigenen Seele als der Leser mit seiner Teilnahme hinzugeben vermag, er muß mit einem Wort soviel rein Dichterisches (Menschliches) aufweisen, daß alles Andere nur das Verhältnis des Brennstoffes zum Feuer hat. Die Flamme verzehrt die Scheite, und um die Flamme und die von ihr ausstrahlende Wärme handelt es sich! Wer vor einem schlecht lodernden, qualmenden Feuer die Seltsamkeit und Mannigfaltigkeit des Materials rühmt, gilt für einen Narren, und wer eine schlechte Dichtung mit etwaigen politischen, ethnographischen und sonstigen Vorzügen rechtfertigt, der hat eben keine Empfindung für die Poesie und ihr eigenstes Wesen. Der historische Roman muß ebenso wie jede andere Schöpfung aus dem innersten Drange des Dichters, aus der Mitempfindung für die dargestellte Handlung, für die geschilderten Menschen hervorgehen. Wem es darum zu tun ist, an einem beliebigen Faden unbeseelte Sittenschilderungen oder politische Maximen aufzureihen, der charakterisiere schlicht Land und Leute oder schreibe Leitartikel, zum historischen Roman ist er sowenig berufen wie zu jeder andern dichterischen Schöpfung. Eine solche aber ist der historische Roman und soll es bleiben oder werden.«
Die Fehler, die Adolf Stern hier im historischen Roman vermieden zu sehn wünscht, weisen auch seine Schöpfungen nicht 24 auf. Aber wenn uns etwa sein »Camoens« (1886) nicht das sein kann, was selbst ein schwächeres Werk von Alexis uns ist, so liegt der Grund angedeutet in den Worten, die der eben zitierten Stelle (»Zur Literatur der Gegenwart« S. 52) vorangehn: »Es ist danach keineswegs unwesentlich, sich einzuprägen, daß es für den historischen wie für jeden Roman einen gemeinsamen Ausgangspunkt gibt und jener seine vielbestrittene Berechtigung nur dadurch beweisen kann, daß sich dieser Ausgangspunkt mit vollkommener Deutlichkeit darstellt.« Die Worte »mit vollkommener Deutlichkeit« sind hier verräterisch, denn dieses Bestreben hat Stern in seinen Romanen zu weit geführt, und der Wunsch, Klarheit zu schaffen über die Idee seiner Dichtungen, der in Stern liegende Instinkt nach festen Linien ging so weit, daß wir gerade in den Romanen immer wieder jenes letzte Helldunkel vermissen, das ihren Gestalten das volle Leben, die volle Lebenswahrheit geben würde. Es ist nichts, zum Beispiel auch in dem aus der Gegenwart geschriebenen Roman »Ohne Ideale«, unwahr, aber es ist alles oder doch vieles nicht lebendig geworden, Material geblieben, wo uns wirkliches Spiel und Gegenspiel wirkender Kräfte mitreißen sollte. Dabei ist gerade dieser Roman nicht unbeeinflußt von Spielhagen geblieben, dessen Elan Stern sonst so fern liegt: es wird gerade hier oft eine starke Spannung erzielt; aber ein bleibender Eindruck doch nicht erreicht. Dem Bemühen, in dem Präsidenten von Herther, in dem Baumeister Franken, in dem Doktor Lohmer und seinem Bruder Generationen und Weltanschauungen gegeneinander zu setzen, versagt sich die letzte Wirkung, weil die Gegensätze zu fein theoretisch ausgerichtet sind und die Menschen darunter leiden, sich nicht so ausleben, wie wir das erwarten. Ich gebe Adolf Bartels gerne zu, daß der Roman heute noch seinen Reiz hat und daß einzelne Typen bis dahin (1881) noch nicht so scharf gezeichnet worden waren, nur ist mir diese Zeichnung eben nicht lebendig genug, mehr ein Paradigma für Sterns Urteil über die Zeit als eine wirkliche Gestaltung dieser 25 Zeit voll Fleisch und Blut. Lohmer bleibt im Grunde ebenso in der Idee stecken wie Paul von Isserstädt in Sterns Erzählung »Stilles Glück«, mit dem man ihn sehr richtig zusammengestellt hat.
Und damit bin ich bei Sterns Novellen angelangt, die mit vielem die Höhe seines künstlerischen Schaffens bezeichnen. Auch hier ist jener Hang zum Konstruieren noch nicht immer überwunden und drückt den genommenen Flug hin und wieder herab, aber oft genug gelingt hier Stern etwas restlos Schönes und Lebensvolles. Mit gleicher Kunst handhabt er die historische wie die moderne Novelle, und wenn man jene Worte über den historischen Roman mutatis mutandis auf die historische Novelle überträgt, so hat Stern oft bis zum Letzten den strengen künstlerischen Anforderungen genügt, die er selbst sich und andern gesetzt hat. Ganz wundervoll weiß Stern ohne großes Wortgedränge die Stimmung zu geben, in der seine Handlung sich bewegt, so überall in den Venezianischen Novellen (1886), so geradezu glänzend in dem Eingang der Novelle »Vor Leyden«. Die große dichterische Kunst, uns eine eigenartige und zunächst rätselhafte Situation genau so allmählich erfassen zu lassen, wie sie der miterlebende Zuschauer erfassen müßte, übt er da mit Meisterstärke aus, und ähnlich fein und echt setzt zum Beispiel das »Weihnachtsoratorium« ein, ohne daß freilich hier die Durchkomposition ganz so gelungen wäre. Und wie lebendig ist das Stückchen dreißigjähriger Krieg, das in der »Flut des Lebens« von Stern hingestellt wird. Natur und die Stimme der Menschenbrust wirken immer wieder zusammen, um den richtigen Eindruck zu geben, und wenn Gegensätze aufeinanderstoßen, so empfinden wir hier immer wieder die echte Wiedergabe des Lebens.
Nun ist ja gerade dieser Begriff »echte Wiedergabe des Lebens« so streitig in der Ästhetik und der Literaturgeschichte wie kaum ein zweiter. Mit einer gewissen Ausschließlichkeit wird von der einen Seite der Naturalismus in seinen verschiedenen Färbungen, von der andern ein bestimmter abgeklärter Realismus, von der 26 dritten gar unwirkliche Schönfärberei, von der vierten eine Mittelding von allem diesem verlangt, und die Reihe ließe sich noch fortspinnen. Mir scheint, daß uns der Reichtum deutscher Prosadichtung allmählich gelehrt hat, daß kein Stil der Darstellung der einzige und allein berechtigte zu sein den Anspruch hat. Wer das Leben in einer Heysischen Meisternovelle nicht herausempfindet, weil er es nur in dem modernen Realismus Fontanes pulsen fühlt, oder wer Raabe weniger lebenswahr als Keller findet, weil er krauser ist als dieser, wer Gerhart Hauptmanns »Bahnwärter Thiel« so ausschließlich dem Leben abgelauscht findet, daß ihm Wildenbruchs »Francesca von Rimini« erlogen und leblos erscheint – mit dem kann ich freilich nicht rechten, und am wenigsten bei Gelegenheit Adolf Sterns. Wer aber (persönlicher Vorliebe unbeschadet) findet, daß jeder dieser Dichter das Recht auf seinen Stil hat, wenn er ihn nur aus einer wahrhaft poetischen Natur, einem menschlichen Herzen und einer nie ins Publikum schielenden Hingebung an sein Gedicht ausgestaltet, der wird den poetischen Realismus von Adolf Sterns besten Novellen als echt und lebensvoll empfinden müssen. Sind bei den Romanen Einflüsse Spielhagens, Tiecks festzustellen, erinnern die aus der Gegenwart geschöpften Werke zum Beispiel auch an August Niemanns ältere Arbeiten (»Bacchen und Thyrsosträger«), die sie an poetischer Wahrheit freilich weit übertreffen, so wird bei den Novellen an Riehl zu denken sein, ohne daß ich aber hier eine Beeinflussung annähme, es ist mehr ein Nebeneinander; dagegen glaube ich hier an einen Einfluß Heyses und halte es nicht für zufällig oder rein von literarhistorischen Interessen eingegeben, daß Stern gerade Heyse mit so großer Ausführlichkeit und mit einer gewissen, kaum verhüllten Leidenschaft charakterisierte und verteidigte zu einer Zeit, da man auf diesen Dichter losschlug wie auf wenige. Die Grundverschiedenheit beider Naturen in vielem ist nicht zu leugnen – aber ich empfinde gerade in Sterns besten Novellen aus jüngerer Zeit und der Gegenwart eine starke Verwandtschaft mit 27 Heyses Kunst. »Maria vom Schiffchen«, Sterns in ihrer Knappheit und ihrer schweren Stimmung Herbe und Süße wundervoll vereinende römische Novelle, und der »Pate des Todes« mit der so gar nicht sprunghaften, völlig lebensechten, raschen Entwicklung zeigen diesen Zug und sind zugleich nach meinem Urteil Sterns freiste und schönste Dichtungen.
Mit ihnen und mit seinen Novellen überhaupt ist Stern gerade in den letzten Jahren auch als Dichter mehr und mehr berühmt geworden; er mußte ja in einer Zeit auf die Höhe kommen, die, vornehmlich auch dank seinem Mühen, die Realisten aus der oft unfruchtbar gescholtenen Zeit der fünfziger und sechziger Jahre nach ihrer vollen Bedeutung zu erkennen begann. Auch von Sterns Lyrik lebt manches weiter, besonders aus den Margretliedern, die er seiner zweiten Gattin, einer hervorragenden Pianistin, und ihrem Gedächtnis gewidmet hat. Mit Recht hat Ludwig Jacobowski seinen »Neuen Liedern fürs Volk« Sterns Verse eingefügt:
Wie ist das Leben bitter arm!
Für so viel Liebe, so viel Harm,
Für so viel Jahre, trüb verbracht,
Für so viel Nächte, schwer durchwacht,
Ein Gruß aus Tränen, leis und matt,
Ein Druck der Hand, ein Rosenblatt.
Und doch – die Welle schwillt und treibt;
Wer ahnt, was kommt? Wer weiß, wer bleibt?
Ob mir nicht nah der Tag gerückt,
An welchem mich allein beglückt
Die welke Rose tief im Schrein
Und jener Tränen Widerschein!
Den schweren Schickungen, die Stern trafen, der vor Frau Margret schon eine Gattin begraben hatte und später auch sein einziges Kind verlor, entspringen immer wieder dunkle Töne eines geprüften Lebensernstes, neben denen die hellen Laute jubelnden Glücks keinen vollen Platz gewinnen: 28
Du nahmst der Sonne hellen Schein
In deine Gruft, in deinen Schrein,
Die Ruh bei Nacht, die Lust am Tag
Und meines Herzens vollen Schlag –
Das ist der Nachklang dieser Liebeslieder, denen sich eine Reihe Tagebuchblätter anschließt, wie sie Sterns zur Verehrung bereite Phantasie großen Eindrücken der Natur und der Kunst, großen Menschen unsres Volkes und seiner Lebenskreise im besondern gewidmet hat. Der Reichtum seines Lebens taucht hier in den Bildern Liszts, Hebbels, Schumanns, Brahms wieder empor, und die Hymne, die Stern Bismarck gewidmet hat, möchte auch ich (mit H. A. Krüger) zum Besten zählen, was wir für die poetische Erfassung dieser Gestalt und ihrer Wirkung besitzen.
Entschwebend, doch lebend
Im Weltengedächtnis;
Bewährend, verklärend,
Was durch ihn entstand,
So hüllt keine Wolke
Ihn je seinem Volke;
Sein Name sei gelobt,
Der Zukunft ein Pfand.
Die Schauer der Trauer,
Das Herz uns durchschütternd,
Sie weichen im Zeichen
Des Reichs, das er schuf,
Und ob er entflohen,
Wir schauen den Hohen,
Es mahnet sein Hauch uns –
Wir hören den Ruf.
Es klingen die Schwingen
Der mächtigen Tage,
Die hehren, voll Ehren,
Weit über die Zeit;
Es gilt zu erhalten,
Trotz dunkeln Gewalten,
Sein Erbe, sein Deutschland
In Frieden und Streit.
(Nach der Weise des Niederländischen Dankgebets.)
Wenn wir Adolf Stern als Literarhistoriker zwanglos und doch knapp charakterisieren wollen, so kann das nicht besser geschehn als durch ein paar Sätze aus einem Hettnerschen Brief an Erich Schmidt, den Stern, sicherlich nicht ohne besondre Absicht, in 29 seiner Lebensbeschreibung Hermann Hettners (1885) zitiert: »Ich halte nach wie vor fest an der Überzeugung, daß es mit der Philologie allein nicht getan ist, sondern daß in der Beurteilung von Kunstwerken schließlich doch das nachempfindende Kunstgefühl die Hauptsache bleiben muß. Aber allerdings verachte auch ich das Ästhetisieren, wenn es der geschichtlichen Grundlage entbehrt.«
Da haben wir mit Hettner auch den ganzen Stern, der trotz wertvollen Entdeckungen (er hat u. a. den Verfasser der »Insel Felsenburg« festgestellt) in seiner literarhistorischen Arbeit doch das Hauptgewicht nicht legte auf das Philologische, sondern auf die Beurteilung der Kunstwerke und der Künstler aus dem eignen nachempfindenden Kunstgefühl heraus – und Stern konnte den Bogen dieser Nachempfindung weit genug spannen. Welch großen Kreis er übersah, lehrt seine Geschichte der neuern Literatur (7 Bände 1883–1885), von deren »Freskobildern« Krüger mit Recht spricht. Und derselbe Stern, der verrufen war als ein Gegner der jüngsten Entwicklung und dem nach seinem eignen Ausdruck die neusten Revolutionäre Entdeckungen auf den Kopf schmetterten, die er in aller Stille längst gemacht und vertreten hatte, hat schon im Jahre 1885 in Henrik Ibsen, mit dessen Alterswerken er später freilich nicht mehr mitging, das heiße Herz zu finden gewußt, wo viele Junge und Alte nur kalt grübelnden Verstand spürten.
Adolf Stern hat Friedrich Hebbel zuerst im Jahre 1855 in Leipzig gesehn bei einem Besuche, den Hebbel einem dortigen Schriftsteller abstattete. Aber obwohl er damals schon voll den Eindruck von Hebbels ungewöhnlicher Persönlichkeit hatte (»mir war, als ob jede Äußerung Hebbels ein Fenster in die große freie Welt hinaufrisse, welche hier über den Nebendingen des Handwerks vergessen wurde«), hat er doch selbst erst die spätere Zusammenkunft in Weimar als den eigentlichen Beginn seiner persönlichen Beziehungen zu Hebbel betrachtet. Sie weilten beide damals im Kreise der Altenburg, unter dem Zauber Liszts und der Prinzessin 30 Wittgenstein, der späteren Fürstin Konstantin Hohenlohe. »Unter den vielen Personen,« schreibt Kuh, »die Hebbel in Weimar bei Festakten und bei Festabenden kennen lernte, hebe ich den jungen Poeten Adolf Stern hervor, weil derselbe nachmals in freundschaftliche Beziehungen zu Hebbel trat. Dieser hatte jüngst in der Illustrierten Zeitung Adolf Sterns episches Gedicht (»Jerusalem« s. o.) anerkennend besprochen. Stern flog an allen Gliedern und ward totenbleich, als er Hebbel vorgestellt wurde.« Dieses Verhältnis zu Hebbel war der eine Ausgangspunkt von Sterns literarhistorischer Betrachtungsweise, und der Aufblick zu dem gewaltigen Dichter, der so lange Zeit verkannt war, hat es Stern leicht gemacht, die Wege zu gehn, die heute in seinen Spuren die wahrhaft fruchtbare Literaturgeschichte gehn muß.
Dir ward, gleich deinem Meisterbild, dem Hagen,
Ein Elfenauge, keinem Schein zu trauen,
Klar in das Herz, das Innerste zu schauen
Und tief zu blicken, selbst wo Berge ragen.
(An Friedrich Hebbel 1863)
Die hier poetisch ausgesprochne Auffassung hat Adolf Stern nicht nur in den beiden großen, unübertroffnen Aufsätzen über Hebbel festgehalten, sondern sie auch an allen Orten, wo sich die Gelegenheit bot, vertreten und begründet. Und die Anschauung, die noch seiner ältesten Arbeit angehört, daß nämlich Hebbel »zu jenen großen Talenten der deutschen Literatur gehört habe, welche nur in einem kleinen Kreis volle Würdigung und ganzes Verständnis fanden und finden können« (geschrieben 1880), wich mit den Jahren mehr und mehr der uns heute erfüllenden Erkenntnis, daß Hebbel doch durchaus der ganzen Nation gehört, daß er weiter zeigt, und daß das Drama der Gegenwart und Zukunft zunächst auf ihm weiterbauen muß. Wie aus dem Werk Emil Kuhs, der ja Sterns erste Auffassung teilte und dem Stern die Parallele Hebbels mit Kleist und Hölderlin verdankt, so gewinnen 31 wir diese Anschauung auch aus Sterns Arbeit für Hebbel, mag er sie auch nie mit solcher Schärfe ausgesprochen haben.
Denn sein Herzenspoet war doch wohl Otto Ludwig, den ich absichtlich oben bei Sterns Novellen und bei seiner Lyrik noch nicht genannt habe, weil ich den großen Eindruck, den der vertraute Umgang mit diesem Dichter in Adolf Stern hinterließ, hier auf einmal hervorheben wollte. Der Neigung für Ludwig, dem tief eindringenden Verständnis für dieses Dichters Lebenswerk, verdanken wir das Beste unter Sterns größeren, einheitlichen, literarhistorischen Werken, Otto Ludwigs Biographie, die er 1890 als Einleitung zu der von ihm und Erich Schmidt besorgten Gesamtausgabe und auch selbständig herausgab. Es ist besonders in der zweiten, durchgearbeiteten und erweiterten Auflage (1906) ein Werk, das man schwer überschätzen kann. Künstlerisch geschlossen und einheitlich im Stil, ist dies Buch ein schönes Beispiel dafür, daß, wie Stern selbst sich ausdrückt, »es in diesen Dingen ein künstlerisches Maß gibt«. Es ist das dieselbe Anschauung, die ihn an mehr als einer andern Stelle über die ungeheure Anhäufung unnützen Materials in unserm wissenschaftlichen Betriebe klagen läßt. Alle Phasen von Ludwigs Entwicklung bauen sich mit der echten Kunst der Steigerung vor uns auf, die auch in Sterns Novellen herrscht. Wie so oft, wenn Dichter und Literarhistoriker zusammentreffen, entläßt uns das Buch nicht nur bereichert um die Wissenschaft von seinem Helden, sondern unter dem ganz persönlichen Eindruck der großen Gestalt und der sie umgebenden Gruppen. Wieder kommt auch hier die Kunst der Stimmung dazu, die jeder Situation in Ludwigs Leben gewachsen ist und für die hier freilich der mitteldeutsche Biograph seinem thüringer Dichter mehr entgegenbrachte als mancher andre manchem andern.
Die drei Bände Studien zur Literatur der Gegenwart (1886, 1895, 1904) geben zu diesem Einzelbild so etwas wie eine Galerie von Porträts von der Blüte der Romantik (Tieck) bis in unsre Gegenwart mitten hinein, bis zu August Strindberg und Gerhart 32 Hauptmann. Es ist einer der feinsten Reize fast aller seiner Arbeiten, daß sich persönliche Fäden von Stern hinüberziehn zu den meisten der dargestellten Poeten. Freilich läuft ihm gerade dadurch, wie billig, auch einmal eine Überschätzung unter. So erscheint Bodenstedt denn doch auf einem zu hohen Piedestal, und selbst gegenüber den Versen des Mirza Schaffy, die Stern zitiert, fallen einem unwillkürlich Mauthners treffende Zeilen ein: »Ihr klöppelt geschäftig Verse wie Spitzen, Drob lächeln die Dichter von ewigen Sitzen«. Und vollends gegenüber der Literatur in und nach der Umwälzung der achtziger Jahre konnte Stern – in anderm Sinne – nicht ganz gerecht sein. Abgesehn davon, daß man ihm selbst ungerecht und übel mitgespielt hatte, gab es schließlich auch für ihn eine Grenze des Mitgehns, jenseits deren zum Beispiel Gerhart Hauptmanns »Weber« lagen; auf der andern Seite aber hat kaum jemand so fein als den »tief fruchtbaren Grundgedanken« der »Einsamen Menschen« herausgehoben, daß die Vorempfindung eines neuen vollkommnen Zustandes noch kein Recht gebe, diesen Zustand sofort mit jedem Mittel verwirklichen zu wollen, und höchstens die Pflicht auferlege, den Keim auf die Nachwelt zu bringen. Und Gerhart Hauptmanns überragende Begabung hat Stern überhaupt schon nach ihren ersten Proben erkannt und gerühmt. Wenn dann Stern gegenüber der Mache und Klique, die in bewegten Zeiten besonders herrschsüchtig auftreten, meint: »Es frommt auch der großen Begabung nicht, schlechthin auf den Schild gehoben zu werden. Es kommt eben doch darauf an, wessen der Schild ist« – so scheint mir, daß diese Worte in den deutschen Literaturstreitigkeiten auch unsrer Tage – leider – so etwas wie ewige Geltung beanspruchen dürfen. Wenn die Abneigung gegen den Naturalismus Stern rückwirkend sogar gegen den impressionistischen Christian Friedrich Scherenberg einnahm, so hat er sich selbst doch später zu objektivieren versucht und in seinem zuerst in den »Grenzboten« erschienenen Aufsatz »Drei Revolutionen in der deutschen Literatur« (jetzt: »Studien zur Literatur der 33 Gegenwart«. Neue Folge. 1904.) so glänzend wie selten die Fülle seiner Kenntnisse und Erkenntnisse zusammengefaßt und damit wieder einmal die Weite seines Blicks erwiesen. Die vergleichende Betrachtung der Romantik, des jungen Deutschlands und des jüngsten Deutschlands gehört psychologisch und historisch zum Besten und Lehrreichsten, was die nun hinter uns liegenden stürmischen Jahre gebracht haben; ja sie ist so etwas wie ein Abschluß, den der Verehrer von Tiecks Novellen, der Freund Hebbels, der Biograph Ludwigs, der Verfasser des Aufrufs für Bayreuth noch im Rückblick auf ein wunderbar reiches Miterleben sehn und festhalten durfte.
Es braucht danach nicht erst betont zu werden, daß die hervorragendsten und wertvollsten unter den Studien die sind, die jenen in den fünfziger und sechziger Jahren vornehmlich hervorgetretnen Poeten gelten. Theodor Storm, Gottfried Keller werden zum Beispiel in allseitiger Betrachtung und doch mit scharfer Charakteristik erfaßt. »Storm hat der Natur tiefer ins Auge geblickt als diejenigen, die sich einbilden, jedes Augenlid der ewigen Mutter durch die Lupe gesehn zu haben.« Daß Stern bei Fontane, dessen Bedeutung er lange vor der Kritik der achtziger Jahre erkannte und verfocht, in den Ruhm gerade auch der Spätwerke des Meisters nicht so voll einstimmen kann wie Jüngere, überrascht nicht; aber jeder wird die Feinheit einer Bemerkung bewundern müssen, wie diese bei Fontanes »Quitt«: »Es ist, als ob Fontane über Dinge, die nur in der Phantasie gebildet werden können, wie über einen heißen Boden hinwegeilt.« Die Studien werden sehr lange lebendig sein, der künftige Literarhistoriker wird sie nicht entbehren können, und den Verehrer Sterns wird es immer wieder mit Befriedigung erfüllen, wenn er sieht, wie früh Stern, unbeirrt durch Tagesmeinungen, die wahre Bedeutung vieler Poeten erkannt hat, die erst in den letzten Jahren recht in die Weite drangen, ja noch heute immer wieder emporgehoben werden müssen; ich denke zum Beispiel auch an den in Norddeutschland noch lange nicht genug 34 bekannten Ferdinand von Saar. Persönliche Klänge und so etwas wie eine ganz eigne Verwahrung gegenüber Mißgunst und Verkennung aber tönen für mich, wie ich es schon sagte, am deutlichsten aus dem großen Aufsatz über Paul Heyse, dessen schwer im ganzen übersehbares Wirken Stern aus dem Grunde kennt und beherrscht; es wird noch sehr oft nötig sein, in dem immer noch schwankenden Urteil über Heyse Sterns besonnene und doch warme Kritik sich vor Augen zu halten, bei der dann für den Kenner von Sterns Dichtungen immer die leise Selbstapologie des Verfassers mitschwingen darf.
Adolf Stern war niemals an einer Universität tätig und hat somit in den neununddreißig Jahren seiner Wirksamkeit an der Technischen Hochschule zu Dresden Schüler, wie sie Kolleg und Seminar dem Universitätsprofessor seines Fachs zuführen, nicht gewinnen können. Er war auch nach dem Zeugnis eines jungen Freundes nicht die Individualität, die Schule zu machen vermochte. Daß er dennoch einen weitreichenden Einfluß auf jüngere Literarhistoriker und Kritiker gewann, spricht für die Stärke seiner Natur und den Wert seiner Arbeit. Freudig hat sich Adolf Bartels, sein einflußreichster Schüler, immer zu ihm bekannt und betont, daß er mit andern durch Stern zu Hebbel und Ludwig zurückgekommen wäre. Und mit Recht ist noch beim Tode Sterns hervorgehoben worden, daß die fruchtbare Arbeit des Kunstwarts, die ja auch wieder zum großen Teil den Meistern aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zugute kam, durchaus in Sterns Sinne geleistet wurde. Und neben Bartels sind zum Beispiel der mehrfach genannte Hermann Anders Krüger, Heinrich Löbner, Karl Reuschel als Schüler Sterns anzusprechen. Daß außer ihnen noch mancher sich müht, in Sterns Sinne die Literatur der Gegenwart zu beurteilen, weiß jedermann, und in aller Bescheidenheit darf auch ich vielleicht trotz dem Abstand der Generationen an dieser Stelle solches Streben für mich in Abspruch nehmen. – Über seinen literarischen Nachlaß, der guten Händen anvertraut ist, wird nach 35 seinem Hervortreten noch zu sprechen sein. Seine vorhandenen Werke aber sichern dem Dichter und dem Literarhistoriker, der so oft zugleich ein Kulturhistoriker war, ein dauerndes Andenken überall in Deutschland, wo man die echte, aus dem Leben quellende und für das Leben geschaffne Dichtung nicht als ein müßiges Spiel der Stunde, sondern als eine der höchsten Offenbarungen des menschlichen Herzens ansieht und dankbar empfängt. 36