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Die Jahre von 1881 bis 1883, in denen die ersten Teile von Nietzsches »Zarathustra«, Liliencrons »Adjutantenritte« und Spittelers »Prometheus und Epimetheus« erschienen, waren die eigentlichen Wendejahre der neuen Literatur, zugleich der Beginn des lebhaften Interesses für die großen Ausländer, die dann so lange bei uns im Vordergrunde standen. Ganz zum Bewußtsein kam freilich der Umschwung dem Publikum erst sechs bis sieben Jahre später von der Bühne her, auf der kurz nacheinander Hermann Sudermann mit seinem Drama »Die Ehre« einen unvergleichlichen Erfolg errang und Gerhart Hauptmann mit »Vor Sonnenaufgang« einen Theaterskandal von großer Heftigkeit erlebte. Seitdem konnte es eine Zeitlang so scheinen, als ob die Entwicklung des deutschen Dramas sich an diese beiden Namen knüpfen würde – die Erwartung hat sich nicht erfüllt. Beide Dichter, nach Art und Maß ihrer Begabung durchaus verschieden, entwickelten sich weiter, aber weder der große Menschendarsteller Gerhart Hauptmann noch Hermann Sudermann sind Führer des Dramas und seiner Entwicklung geworden. Was heute sich langsam durchringt, Unfertiges und Schönes, geht auf andern Bahnen, knüpft an Shakespeare, an Kleist, vor allem an Hebbel an, und die beiden, die jeder in seiner Art von Ibsen gelernt hatten, stehen jetzt für sich allein da.
Hauptmanns Zusammenhang mit Ibsen ist unverkennbar, bei Sudermann ist diese Signatur nicht so stark, weil er, weniger leidenschaftlich kleinsten seelischen Erregungen nachspürend, viel mehr von dem im Grunde aus dem französischen Drama der siebziger Jahre stammenden Gesprächsstil des späteren Ibsen übernahm, viel 66 vom Äußern. Vielleicht ist er dadurch so vielen Beurteilern viel oberflächlicher erschienen, als er ist. Sudermann hatte nicht das Unglück des Erfolges schlechthin, das manchem guten Mann die Schaffenskraft und Schaffenslust verdorben hat, sondern das Unglück des falschen Erfolges. Sein Schauspiel »Heimat« (1893), das seinen Namen über die ganze Erde trug, ist eins seiner schwächsten Stücke; ein in vielem nahezu unhaltbares Werk. Theatralisch durch und durch, gab es großen Künstlerinnen wie großen Virtuosinnen ebenmäßig Gelegenheit, in der Rolle der Magda alle Künste und Künstchen spielen zu lassen – aber, ohne dramatischen Puls und ohne tiefere innere Wahrheit, bietet es nirgends ein wirkliches Bild des Lebens, wie es doch aus der so viel frischeren »Ehre« (1889) immer wieder auch nach schwachen, äußerlichen Szenen herauswächst. Hermann Sudermanns Stärke beruht überhaupt nicht in der runden, umfassenden und überall eindringenden Schilderung der deutschen Gesellschaft unsrer Tage, die ja wie in der Malerei so in der Literatur bisher ihren wirklichen Darsteller noch nicht gefunden hat. Wo Sudermann als Dramatiker das Leben wirklich zu packen weiß, da tut er es immer wieder mit der hier und da Schleier lüftenden Hand des Satirikers. »Sodoms Ende« (1891) ist in diesem Sinne unter seinen älteren Werken weitaus das beste; die faulende Gesellschaft eines Kreises von Emporkömmlingen findet hier zum Teil ihre wirkliche und lebendige Schilderung. Gestalten, die auf der Grenze stehn, wie als bester Typus der Schriftsteller Dr. Weiße, sind restlos aufgezeichnet, und was ihnen gegenüber immer wieder versagt, sind die Kraftgestalten mit dem biedern Einschlag, Riemann in diesem Stück, wie Robert Heinicke in der »Ehre«, wie mancher andre fast in jeder andern Sudermannschen Dichtung. Wenn man »Sodoms Ende« gegen die Gesellschaftsschilderungen der damaligen Berliner Romanliteratur hält, empfindet man erst neben der starken theatralischen die unbedingte satirische Kraft seines Verfassers. Und wo er, wie in der »Schmetterlingsschlacht« (1894), ganz in die 67 Komödie, in das Spiel halber Leidenschaften, halben Ernstes taucht, das immer auf der Grenze flattert, gelingt ihm mancher echte Lebenslaut. Gerade auch in einem arg verkannten Stück, im »Sturmgesellen Sokrates« bewähren sich diese Gaben. Die halben Menschen dieser Komödie sind am wahrsten dargestellt.
Der Stil aller dieser Dramen ist nicht naturalistisch, und auch er erweist die Mittelstellung, die Sudermann zwischen den Realisten der fünfziger und sechziger Jahre und dem modernen Naturalismus einnimmt. Deutlich erkennt man in der »Ehre« Die Werke Sudermanns sind bei der J. G. Cottaschen Buchhandlung, Nachfolger, in Stuttgart erschienen. die Spuren Gustav Freytags und seiner »Valentine«, erkennt man in der Gegenüberstellung des Grafen Trast und Robert Heinickes das Gegeneinander Fritz von Finks und Anton Wohlfahrts aus »Soll und Haben«. Es ist bezeichnend, daß Sudermann von Freytag gerade auch Dinge überkam, die dieser noch aus dem Jungen Deutschland hergenommen hatte, dessen Nachklang in den »Valentinen« wohl zu spüren ist. Und so hat denn auch Friedrich Spielhagen, dessen älterer Zeitroman auch noch vom jungen Deutschland herstammt, Sudermann wiederum beeinflußt, beeinflußt auch in der sich anfänglich hier und da überschlagenden antibourgeoisen Tendenz.
Der Versuch, sich über die Satire hinweg ins Tragische zu recken, gelingt dem Dramatiker Sudermann erst da, wo seine Phantasie ins Freie schweifen darf. »Die drei Reiherfedern« (1899) sind das reinste und reifste dramatische Gebilde seiner Hand. Hier erweist er sich zugleich mit Glück wieder als der Sohn seiner heimatlichen Erde. Wie seinem großen Landsmann Hoffmann in Stunden starken Phantasielebens der Sturm der russischen Steppe, der über Ostpreußen dahinbraust, die Wogengewalt der herbstlichen Ostsee und des Kurischen Haffs vor die Sinne traten, so zeichnen sich diese alten, nie vergessenen Eindrücke bei dem Sohne Litauens in den »Drei Reiherfedern« eindringlich wieder ab. Das gibt den 68 Phantasiegestalten dieses schönen Dramas einen besonders warmen Hauch. Es liegt etwas von dem starker Farben baren, einförmig großen Herbsthauch, von dem grellen Winterton dieser weiten, höhenlosen Ebene am Wasser über den Szenen dieses Stücks. Und zugleich entbehrt es nicht der vollen Glut, die der Sommer über die Felder und in die Menschen dieser Ostmark gießt, die den Lenz nicht kennt und ohne Übergänge die harten Kontraste von Winter und Sommer aneinanderreiht. Die Johannisnacht, die Sudermann dann noch einmal mit schwächerem Gelingen über einem Gegenwartsdrama zittern läßt (»Johannisfeuer« 1900), wird in den »Drei Reiherfedern« wirklich mithandelnde Bewegerin menschlicher Herzen, und wie sie die Mädchen des Landes in den Zauber des Schaukelspiels lullt und zugleich dem König Witte die alte, nie gestillte Sehnsucht wachruft – das ist mit reifer dichterischer Kraft gegeben.
Kurz vordem hatte Hermann Sudermann dahin gegriffen, wohin noch jeder deutsche Dramatiker von Grillparzer, Hebbel und Ludwig bis zu Carl Hauptmann und Wilhelm von Scholz gefaßt hat: in die Geschichte des jüdischen Volks. Es ist, als ob an der Lebens- und Leidenshistorie Israels Blutstropfen schimmern, die den dramatischen Gestalter immer wieder locken, und fast immer zu seinem Glück. Sudermann ergriff den Johannes-Stoff. Johannes der Täufer war sein Thema. Er erschien ihm als der typische und zugleich der größte aller tragischen Vorläufer, und in diesem Aufbau auf dem Problem des Vorläufers, der die Erfüllung ankündet und nicht nur vor ihr, sondern auch an ihrem Kommen stirbt, hat seine Tragödie ihr Grundproblem und ihre innere Vollendung. Nirgends ist Sudermann diesem zuerst erfaßten dramatischen Gedanken untreu geworden; alles, was Johannes tut und leidet, entspringt diesem einen Charakterzug, der zugleich sein menschliches und historisches Schicksal ist. Sein Hinwegsehn über Salome, sein Erstaunen, sein Entsetzen über die Liebesbotschaft dessen, der nach ihm kommen wird, sein selbstverständliches Verschwinden, 69 als sein Bote ihm Nachricht von Jesu bringt – alles geschlossene Züge eines nirgends von der Spur weichenden Ganges, Linien eines mit fester Hand gezeichneten Bildes. Es ist nicht wahr, daß der »Johannes« nur geschrieben wäre um des Tanzes der Salome willen, und es ist sehr gleichgültig, ob Sudermann Wildes funkelnden Artistenakt kannte, als er seinen »Johannes« (1898) schuf. Sudermanns Drama ist eben kein Salome-Drama, sondern eine Johannes-Tragödie, in der der Vorläufer Christi und nicht das perverse Kind einer sinkenden Dynastie, einer von ihrem Gotte abgefallnen Herrscherklasse im Mittelpunkt steht. Hier vollendet sich gerade jene demokratische Grundtendenz Sudermannschen Schaffens, hier bäumt sich der reine, Gott suchende Wille der Armen, dem Johannes zuerst die Wege wies und dem nun der Heiland naht, auf gegen die verruchte Üppigkeit einer über die Grenzen blickenden Dynastie, einer in Formeldienst und in Selbstgefälligkeit erstarrten Priesterkaste. Und wenn Salomes Tanz und sie selbst eine Verwandtschaft mit Zügen aus »Sodoms Ende« nicht verleugnen können, so zeugt das mehr für als gegen ihren Dichter, der instinktiv die Wesensähnlichkeit sinkender Schichten empfand, mögen sie sich nun in Juda, in Rom oder im traditionslosen, errafften Reichtum einer modernen Weltstadt ausleben.
Die Führerstellung, die der Dramatiker Sudermann nicht errang, hatte der Romandichter inzwischen erreicht, erreicht freilich, ohne daß diese Wirkung allgemein empfunden würde. Und doch stammt der ganze neue Entwicklungs- und Heimatroman durchaus von Sudermann, der mit schlechthin meisterhaftem Gelingen den Realismus der fünfziger und sechziger Jahre weitergebildet hat. Über Freytags historische Schilderung hinaus führte er die geschichtliche Darstellung des Romans bis ins modern Soziale. »Gerötet vom Fieber der Erwartung«, so heißt es im Anfang des »Katzenstegs« (1889), »starrte ein jedes Auge gen Westen, woher sie kommen mußten, die Helden, die Lorbeergekrönten, sie, die um der heiligen Scholle willen, um Weib und Kind, um Recht 70 und Vaterland den Feuerschlünden des korsischen Dämons Leib und Leben dargeboten hatten. In seine hintersten Höhlen hinein hatten sie ihn verfolgt, bis er geknebelt zu ihren Füßen gelegen.
Just hatten die deutschen Eichen sich neu begrünt, gewärtig, alsbald mit Lachen geplündert zu werden, da begannen die Sieger heimzukehren.
Voran – in frohen, zwanglosen Schwärmen – der Stolz, die Blüte des Vaterlandes, die Söhne der Reichen, die als freiwillige Jäger mit eignem Pferd und eignen Waffen in den heiligen Krieg gezogen waren.
Ihr Weg durch Deutschland war ein einziger Reigen rauschender Feste. Wohin sie kamen, traten sie auf Rosen; die schönsten Jungfrauen wollten von ihnen geliebt, die edelsten Weine wollten von ihnen getrunken sein.
Hinter ihnen her ergoß sich ein Strom von Kosaken über die deutschen Gefilde. Vor einem Jahre, als sie gleich einer Furienschar hinter den halbtot gehetzten Resten der großen Armee einhergejagt waren, hatte Deutschland sie jubelnd als Befreier begrüßt, Magistrate hatten sie in feierlichem Zuge eingeholt, Hymnen waren zu ihrem Preise gedichtet worden, und blauäugig germanische Sentimentalität war übergeflossen zugunsten ungewaschener Tatarenmäuler.
Auch jetzt wurden sie pflichtschuldigst gefeiert, aber die Sehnsucht der Deutschen schaute über sie hinweg, als wären sie nur die Schatten derer, die noch kommen sollten.
Und endlich kamen auch sie – die Männer des Volks, sie, die kein andres Kapital als ihr nacktes Leben besessen hatten, um es dem Vaterland anheimzugeben. Ein Schall wie von geborstenen Trompeten ging vor ihnen her – träge Staubwolken schleppten sich hinterdrein.
Nicht hoch und herrlich, wie die Phantasie der Heimgebliebenen sie sich ausgemalt, ein Strahlendiadem über dem Haupte, den wallenden Mantel gleich einer Toga um den stolzen Leib geschlagen, 71 – stumpf und dumpf wie abgetriebene Gäule, schmutzig und zerlumpt, von Ungeziefer strotzend, die Bärte von Staub und Schweiß zusammengeklebt, so kehrten sie heim. – Hier einer, der, bleich und abgezehrt wie ein Schwindsüchtiger, nur mühsam einen Fuß vor den andern schob, dort einer, der vertiert und gierig in die Runde blickte, den Widerschein von Brand und Glut im trüben Flackern des Auges, die knotigen Fäuste noch immer von Mordlust zusammengekrampft. Nur hie und da leuchtete der reine Glanz hochherziger Rührung aus tränenerfülltem Auge, nur hie und da falteten über dem Kolben sich zwei Hände dankbar zum Gebet. . . . .«
Das ist geschichtliche Darstellung im Roman mit einem ganz neuen Ton – nicht unähnlich Wildenbruchscher Leidenschaft im Hinmalen der Erzählung. Wirkungsvoller aber und geschlossener als der in vielem schwankende, unruhige, künstlerisch unklare »Katzensteg« ward »Frau Sorge«. Hier gab Sudermann mit der ganzen Herbheit der kargen litauischen Ebene im Osten seiner Heimatprovinz ein rundes Bild eines unter schweren Geschicken sich ins Reine rettenden Menschenlebens. Kein Strich ist unecht, jeder Charakter durch und durch in sich begründet, alles lebt sein eignes Leben, und die Entwicklung eines Menschen in ihrer lautlosen innern Vollendung wird so klar und fein gedeutet und umrissen, daß uns an diesem Paul Meyhöfer nichts, aber auch nichts zu fehlen scheint. Alles lebt durch die Beziehung zu ihm, das gibt dem Roman die große künstlerische Geschlossenheit; alles lebt zugleich in mehr als äußerlicher Beziehung zum Boden der Heimat, zu Himmel und Erde, und keinem ist doch irgend etwas genommen, jeder steht klar, fest geschaut und fest gegeben da. Es ist Heimatkunst im höchsten Sinn, nicht in dem eines engen Provinzialismus, sondern Heimatkunst von durchaus deutscher Geltung, die aber ihre tiefere Färbung erhält, indem sie emporwächst aus dem Boden, dem sich der Dichter durch geheimnisvolle Bande fester verbunden weiß als jedem andern. Und so ergibt sich denn 72 die merkwürdige Tatsache, daß derselbe Dichter, der durch »Sodoms Ende« etwa noch auf Heinrich Mann stark gewirkt hat, mit diesem Roman, der schon 1888, damals kaum beachtet, erschien, der Vater des neuen Heimatromans wurde, wie er viele Jahre später lange Zeit hindurch unsre erzählende Literatur beherrschte und zum Teil noch beherrscht. Wie Sudermanns Landsmann Georg Reicke, so hat auch Clara Viebig, die Rheinländerin, manches von ihm empfangen, das meiste freilich Gustav Frenssen. Nicht nur, daß die Problemstellung, die Fabel, viele Züge im »Jörn Uhl« Sudermanns Einfluß aufs deutlichste zeigen – es liegt die Verwandtschaft noch viel mehr in der Art, wie auch bei Frenssen alles emporwächst aus der Familie und dem Boden. Gewiß ist Frenssen in vielem ganz anders. Er hat gegenüber der straffen Linienführung Sudermanns viel Auerbachsche Redseligkeit, hat dann wieder viel schöne und weiche Lyrik. Aber er wie so viele verwandte Geister müssen doch in Sudermann ihren Ahnherrn ehren – nur, daß freilich keins der spätern Werke der »Frau Sorge« gleichkam, die in ihrer Art das beste deutsche Buch der letzten fünfundzwanzig Jahre ist.
All diese Werke Hermann Sudermanns liegen umschlossen von den ersten zwölf Jahren seines öffentlichen Schaffens. Was neben ihnen noch zu nennen wäre, etwa das nicht ohne Brutalität ablaufende Schauspiel »Das Glück im Winkel« (1895) oder die ganz am Anfang stehenden, stark französisch mondän gefärbten Skizzen »Im Zwielicht« (1887), trägt wenig zur Charakterisierung seines gesamten Schaffens bei. Auch der Roman »Es war« (1894) erweist nur, daß er im Heimatlichen seiner ostpreußischen Provinz sich wohl zurechtfand, breitere Gesellschaftsbilder ohne satirischen Beiklang jedoch nicht zu schaffen wußte. Glücklicher war er in den beiden ernsten Novellen »Geschwister« (1888) und in der heitern ostpreußischen Schnurre »Jolanthes Hochzeit« (1892). Und in den unter dem Titel »Morituri« (1896) vereinten Einaktern erwies sich in dem mittelsten, »Fritzchen«, die alte starke theatralische 73 Begabung wirksam, während der letzte der drei, »Das ewig Männliche« durch graziöse, leichte Verse überraschte.
Immerhin deuten schon mindestens zwei Dichtungen dieser ersten Sudermannschen Schaffenszeit in die zweite, innerlich sehr viel unfruchtbarere hinüber. Wohl hatte sich in ihm neben andern Gaben die theatralische rasch und glänzend entwickelt, die man nicht unterschätzen darf, weil die Bühne sie immer gebraucht hat und brauchen wird, die aber freilich erst dichterisch wertvoll wird, wenn sie sich mit der dramatischen Begabung ganz zusammenfindet. Aber in »Es war« und selbst in den »Drei Reiherfedern« drang schon ein abgleitendes Element in Sudermanns Dichtung an die Oberfläche. In dem Roman kehrt Leo von Sellenthin in die Heimat zurück, aus der er geflohen war; er hat den Mann seiner Geliebten im Duell erschossen und ist nach Abbüßung seiner Strafe übers Meer gegangen. Er kehrt zurück, nennt sich einen Desperado und lebt nun unter dem Wahlspruch: »Nichts bereuen!«. Aber er verfällt doch wieder der einst Geliebten, nun der Frau seines besten Freundes, den sie beide belügen; und daß ihm aus alledem noch Glück und Befriedigung erwächst ohne jede wirkliche Läuterung – das brachte einen unreinen Ton in dies Werk. Und weniger spürbar, aber doch schon nicht ganz überhörbar klang er auch gerade durch Sudermanns schönste dramatische Dichtung seiner reifen Jahre, durch die »Drei Reiherfedern«.
Wer seiner Sehnsucht nachläuft, muß dran sterben,
Nur wer sie wegwirft, dem ergibt sie sich –
das ist innerlich unwahr und brüchig und wird doch von dem Helden auch im Tode nicht ganz überwunden. Die innere Unsicherheit, die in diesen Deutungen liegt, dehnte sich dann lähmend über des Dichters weiteres Schaffen. »Es lebe das Leben« (1902) erinnerte in seiner Theatralik wieder an die »Heimat«, so sehr auch Sudermann im Stil des Gesprächs über das ältere Drama hinausgewachsen war, brachte aber auch den Konflikt nicht 74 ohne Schielen zum Austrag; denn nicht in Würde, in stolzem Tragen und Leiden, sondern in eitler Schauspielerei gehn die beiden, angeblich das Leben Liebenden dieses Stücks zum Ende, umgeben überdies von einer Reihe von Gestalten, in deren Schöpfung die Sucht zu theatralischer Wirkung durchaus den Drang nach wahrhaftiger Darstellung überwunden hat. Am »Sturmgesellen Sokrates« (1903) konnte man sich vieler satirischer Einzelzüge erfreuen, das Stück verdiente nicht die Verwerfung in Bausch und Bogen, die ihm zuteil ward; nur schlug auch hier der Mangel innern Zusammenhalts die letzten Wirkungen nieder, weil das eigentlich Tragische nicht richtig erfaßt war: daß solch alte Achtundvierziger, deren Mummenschanz der neuen Welt närrisch erscheint, doch in aller Schwäche noch einen starken Kern alter Freiheitssehnsucht in sich tragen. Von dem Verbrecherdrama »Stein unter Steinen« (1905), einer der einfachsten Schöpfungen Sudermanns, und den ziemlich gehaltlosen Einaktern »Rosen« (1907) ist nichts zu sagen – um so schlimmer erscheint das Schauspiel »Das Blumenboot« (1905). Mit tiefem Schmerz erblickt man hier eine große Begabung völlig in die Irre gegangen und, was am meisten in Erstaunen setzt, jetzt auch nicht mehr der theatralischen Wirkung, der realistischen Anschauung mindestens des einzelnen gesellschaftlichen Vorgangs sicher. »Sodoms Ende« erscheint trotz einzelnen grellen Übertreibungen doppelt stark gegenüber diesem durch und durch unwahren, innerlich unverbundnen Versuch der Menschendarstellung, dem dann ein aus ähnlichen Motiven erwachsner Roman »Das Hohe Lied« (1908) gefolgt ist. Hier ist das Thema die Geschichte einer Frau, die ahnungslos in eine Welt von Schmutz hineingerissen wird, zunächst als Gattin der Gier eines abgelebten Greises zum Opfer fällt, diesen mehr aus gutem Herzen als aus bösem Willen mit einem jungen Schwerenöter betrügt und schließlich zur Geliebten eines Dritten herabsinkt. Neben diesen Verhältnissen läuft die eine oder andre leichtere Verbindung einher, und schließlich möchte 75 Lilly, die innerlich irgendwo noch das hohe Lied der Reinheit mit sich trägt, wie sie eine so betitelte Komposition ihres verschollnen Vaters bewahrt – sie möchte in einer reinen und warmen Liebe zu einem reinen und warmen Manne sich emporläutern. Es kann ihr nicht gelingen; sie versucht, sich das Leben zu nehmen, empfindet aber selbst, daß das eine Unwahrhaftigkeit wäre, schleudert nur das Notenmanuskript des Vaters in die Fluten und kehrt zu dem durch jahrelange Gewohnheit an die schöne Frau gefesselten Liebhaber zurück, den sie endlich heiratet. Was zu beweisen war, ist nicht bewiesen: die innere Unberührtheit dieser Frau, der Niedergang einer wertvollen Natur durch Behandlung in rohen Händen. Ihre ganze Entwicklung wird langweilig, weil sie selbst eine uninteressante Persönlichkeit ist, längst innerlich gefallen, da sie noch selbst an ihre bessere Seele glaubt, und wahrhaft im Grunde erst in dem Augenblick, da sie vor dem Tode zurückschreckt. Wir wissen nicht, woher wir den Anteil nehmen sollen, diese Lilly Czepanek durch ihr Liebeslabyrinth zu begleiten, und empfinden ihren gelegentlichen Drang zum Guten und Hohen mehr als die Gutmütigkeit einer im Grunde unbedeutenden Natur denn als den Antrieb aus einer wirklichen Tiefe. Dabei darf gerechterweise nicht verschwiegen werden, daß das Buch, besonders im Anfang, ein paar glänzende Seiten hat, auch ein paar vortreffliche Typen herausbringt – im großen und ganzen zeigt es von dem Sudermann, der einst das Meisterbuch der »Frau Sorge« schuf, nichts mehr, und mit Wehmut steht man vor diesem Werk einer Begabung, die einst berechtigte Hoffnungen erweckte.
Es wird erlaubt sein, gegenüber diesem seltsamen Entwicklungsgang nach Gründen zu forschen, ohne daß man dabei schielend persönliche Dinge heranzieht, deren Betrachtung dem Literarhistoriker lebenden Schriftstellern gegenüber nicht zusteht. Was offen zutage liegt, ist das: Sudermann war so rasch berühmt geworden, wie in den letzten Jahrzehnten kaum ein deutscher Schriftsteller, mit Ausnahme des ihm vielfach wesensverwandten 76 Frenssen. Ruhm macht entweder blasiert oder empfindlich – wie sehr Sudermann das zweite war, lehrt sein zum Teil berechtigter, zum Teil weit übers Ziel schießender und unkritischer Kampf gegen die »Verrohung in der Theaterkritik« (1902). Und der Ruhm folgte nun nicht willig, gerade da, wo er sein Bestes gab – »Frau Sorge«, »Die drei Reiherfedern«, »Johannes« traten weit zurück hinter die »Heimat«. So mag die eine Wurzel dieser Entwicklung in der großstädtischen Nervenüberhitzung liegen, die diesem den Theatererfolg rasch gewöhnten Talent gefährlich war, die andere liegt in der völligen Entfremdung von der Heimat. Deutlich weist auf der einen Seite die »Frau Sorge« und mit seinen besten Teilen der »Katzensteg«, weist auf der andern das Drama von den Reiherfedern auf den heimatlichen Ursprung Sudermannschen Schaffens hin. Wir sehn, wenn denn der oft mißbrauchte Vergleich doch einmal herangezogen werden soll, Gerhart Hauptmann immer aufs neue den engen Zusammenhang mit der Wirklichkeit und der Phantastik seines Schlesiens suchen – wir vermissen solche Töne bei dem spätern Sudermann immer mehr. Und wir sehn ferner, daß alle Talente, die seit ihm aus seiner engern Heimat emporgekommen und weitergewachsen sind, wie Reicke, Tielo, Agnes Miegel, immer wieder im Anschluß an sie ihr Bestes fanden, ohne doch dabei irgendwie Heimatpoeten im engen Sinn, der ja ein sehr erfreulicher Sinn sein kann, zu sein. Wir sehn dagegen auf der andern Seite, daß Arno Holz, abwegig, zwar zum Theatererfolge, aber nicht mehr zum innern poetischen Erfolge emporwuchs.
Den doppelten Stempel nervöser Hingebung an das gemeine Urteil und mondäner Abwendung von der besten Heimat seiner besten Kräfte tragen Sudermanns letzte Schöpfungen. Und wir dürfen nicht leugnen, daß manches seiner Werke noch daneben deutlich den Stempel des gehetzten Tagewerks trägt, in das die sensationslustige Erwartung eines rauschsüchtigen Publikums und einer ungeduldigen Kritik heute noch jeden hineindrängt, der nicht wie Spitteler mit eherner Ruhe die Türen um sich schloß, 77 ob auch Jahrzehnte hindurch kein Laut des Beifalls und der Teilnahme ihn erreichte. Trotzdem bleibt die ungeheure Ungerechtigkeit empörend, die sich gerade gegen Sudermann emporreckte. Da kamen nicht nur die Neunmalklugen, die alles, was dem Publikum sehr gefällt, ablehnen zu müssen glauben, nicht nur die, die sich schämten, Sudermann als Dramatiker vielleicht einst überschätzt zu haben, und ihn das nun entgelten ließen, – da kamen alle, insbesondere auch die einst von ihm polemisch Bekämpften, und fanden sich in der Verurteilung des »Machers« Sudermann zusammen. Es kann nur für ihn sprechen, daß literarische Gegner, intimste Feinde sich ihm gegenüber brüderlich die Hände reichen. Was unter allen Umständen ein Vorzug ist, daß Sudermann das Theater wirklich kennt, sollte ihm als Verbrechen angerechnet werden. Seine Fehler wurden ins Übergroße verzerrt, seine Begabung als Dramatiker, als Satiriker geleugnet, seine Größe als Romandichter nebenbei lau, sauersüß anerkannt. Mit Recht hat einmal jemand gesagt, daß ein Franzose oder ein Engländer vor diesem Schauspiel erstaunt fragen müßte: Sind die Deutschen der Gegenwart denn so reich, daß sie einen Dramatiker wie Sudermann einfach als Macher abstoßen dürfen? Die Antwort darf ich mir ersparen. Ob Sudermann noch einmal die Kraft findet, in die Bahn seiner früheren schönen Werke einzulenken, weiß ich nicht, weiß niemand. Aber wenn er uns nichts mehr gäbe, was in neue Fernen wiese oder doch auch nur seine älteren Werke erreichte, so bliebe Hermann Sudermann immer der Dichter der »Frau Sorge«, der Schilderer von »Sodoms Ende«, der Dramatiker des »Johannes« und der »Drei Reiherfedern«, bliebe immer ein kostbarer Besitz aus wirren Übergangsjahren. Auch er steht, um es noch einmal zu wiederholen, zwischen Altem und Neuem in der Mitte, wie Wildenbruch, durchaus theatralisch veranlagt, nur aus einer andern Sphäre und andrer Heimat gekommen. Auch ihm gebührt ein dauernder Platz, und seine Schöpfungen, so vieles davon auch abfällt und nicht zählt, füllen ihn immer noch kraftvoll und selbständig genug aus. 78