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Statistik und Chronologie sind trockene Wissenschaften und haben gemeinhin wenig mit der Poesie zu tun. Trotzdem läßt sich aus ihnen auch für die Dichtung manches gewinnen, und lehrreich bleibt z. B. die Gruppierung gewisser Geburtszahlen. Gehen wir den Dichtern des neunzehnten Jahrhunderts nach, so finden wir folgende Kette von Geburtsjahren: 1810: Fritz Reuter; 1813: Otto Ludwig, Friedrich Hebbel, Hermann Kurz; 1815: Emanuel Geibel; 1816: Gustav Freytag; 1817: Theodor Storm, Luise von François; 1819: Klaus Groth, Theodor Fontane, Gottfried Keller, Wilhelm Jordan; 1820: Hermann Lingg; 1826: Josef Viktor Scheffel; 1828: Julius Grosse; 1829: Rudolf Lindau; 1830: Paul Heyse, Marie von Ebner-Eschenbach; 1831: Wilhelm Raabe; 1833: Ferdinand von Saar; 1835: Hans Hopfen; endlich 1837: Wilhelm Jensen und Adolf Wilbrandt. Diese unvollständige Liste zeigt die Namen der Dichter, die vornehmlich in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren wirkten. Bei aller Verschiedenheit im einzelnen, an Bedeutung wie an Charakter, fügen sie sich doch für den rückschauenden Blick zu Gruppen zusammen, die wir als die poetischen Realisten und als den Münchner Dichterkreis zu bezeichnen pflegen. Und ebenso wie sie gehen die Dichter zu sichtbaren Gruppen zusammen, die seit dem Ausgang der achtziger Jahre unser literarisches Leben beherrschen: es ist die zumeist in den sechziger Jahren geborene Generation, deren berühmteste und bedeutendste Männer Richard Dehmel und Gerhart Hauptmann sind. Ganz anders wirken, wenn man sie nebeneinander hält, die 37 Dichter, die aus den vierziger und fünfziger Jahren stammen. Da haben wir 1842 Joseph Viktor Widmann, 1844 Detlev von Liliencron und Friedrich Nietzsche, 1845 Carl Spitteler, Ernst von Wildenbruch und Eduard Grisebach, 1849 Alberta von Puttkamer, 1852 – am 8. April – den Prinzen von Schönaich-Carolath – die Reihe ließe sich verlängern. Wieder ganz verschiedene Gestalten, aber nur in einem durchaus verwandt: es sind lauter Einspänner, lauter einzelne, die sich in keine Richtung und in keine Schule bringen lassen; aber es sind zugleich lauter Dichter, die einen Übergang bilden vom Alten zum Neuen. Wie nach der Zeit, so nach der Artung stehen sie zwischen dem Geschlecht, das ich zuerst aufmarschieren ließ, und dem, das die Gegenwart beherrscht. Vielleicht ist es so zu erklären, daß die meisten von ihnen spät, einzelne nie zu solchem Ruhm und Erfolg gelangt sind, wie es ihre Werke verdient hätten.
Die Geburtszeit aller dieser Dichter fällt in eine Periode der Übergänge. Während noch die Stille der Biedermeierzeit um die Wiege der einen gelagert ist, steht an dem Kinderbett der anderen mit Rethelscher Maske die Revolution, lastet auf den Kindheitseindrücken auch schon wieder der Druck einer harten und ungerechten Vergeltungszeit, in der tausend Hoffnungen begraben, kaum eine ungescheut wacherhalten wurde. Und parallel der großen politischen Oberströmung ging eine soziale Unterströmung. Langsam senkte der werdende Industriestaat seine Wurzeln in das alte Preußen, langsam wuchs die demokratische Flut, um sich unter der Führung eines Junkers endlich auf ungeahnte Weise in dem Reich der allgemeinen Wehrpflicht und des allgemeinen Wahlrechts eine neue politische Plattform zu schaffen. Und so stehen auch diese Dichter, meist aus adeligem oder altbürgerlichem Blute, an der Wende zweier Zeiten. Es ist keiner unter ihnen, der ganz in den Idealen des alten Preußens oder auch in den poetisch schnell verrauchten Ideen der achtundvierziger Revolution lebte – aber es ist doch noch keiner darunter, der so ganz unserer 38 demokratisierten, reichgewordnen und dabei sozial aufgewühlten Gegenwart diente, wie etwa Richard Dehmel oder Gerhart Hauptmann.
Als dieser Richard Dehmel zum erstenmal nach Hamburg kam, um den Dichter Detlev von Liliencron aufzusuchen, schrieb er über die Reise einen Hamburger Lästerbrief (man findet ihn in der ersten Auflage von »Aber die Liebe«). Da erzählt er, wie Liliencron ihn in die lyrische Heide hinausführt und wie sie zusammen durch Moor und Brachfeld reiten. Weiße Marmortafeln glänzen da an einzelnen Bäumen, und in sie sind mit blutroter Schrift die Namen der lebenden Zunftgenossen eingemeißelt, die »der Zukunft leben«. Und unter diesen Namen steht der des Prinzen Emil von Schönaich-Carolath. Ein Aristokrat also, der Sohn eines alten Geschlechtes, das, jetzt in Schlesien angesessen, schon einen Dichter in seinem Stammbaum aufweist. Aber nicht auf diesen, der einst von Gottsched gegen Klopstock ausgespielt wurde, sondern auf andere Werke und Menschen geht die Kunst Emils von Schönaich-Carolath zurück. Er wurzelt durchaus in der Romantik, und da wieder nicht in der Frühromantik seiner adeligen Standesgenossen Novalis und Arnim, sondern er gemahnt in seinen frühesten Versen oft an Heinrich Heine. Es ist nicht die Anmut des Lasters, die Treitschkes treffender Ausdruck bei Heine feststellt, sondern es ist der besondere Einschlag romantischer Sehnsucht, wie ihn Heines Balladen z. B. neben manchem Andern verraten, was verwandt durch Carolaths ältere Lieder tönt. Das geht so weit, daß in durchaus Heinischer Art vom Lande Bimini die Rede ist, nur daß freilich dieser Drang nicht in leicht hinhuschenden, scheinbar von selbst fließenden Versen sich auslebt. In schwer abgleitenden Rhythmen vielmehr, wie wenn die Künstlerhand jede Zeile in Marmor schreiben müßte, gehn diese ältesten Dichtungen Carolaths einher. Auf diesen Wegen gelingen dem Dichter Bilder, die wir wohl bei jüngeren Poeten zu finden gewohnt sind, die uns in diesem Zusammenhang aber mit Recht anmuten dürfen 39 als neu und als aus suchender Eigenart gefunden. Wenn da von der schönen Fatthume ausgesagt wird:
Du lagst gelangweilt in den Seidenkissen,
Ringschillernd, eine halb erstarrte Schlange –,
wenn da von einem »Geschwirr verbuhlter Serenaden« die Rede ist, so hören wir den Tritt einer neuen Zeit hindurch, die in der Prägnanz des Bildes, des einzelnen Wortes sich langsam zu einer subjektivistischen Lyrik von hohem Reiz erziehen sollte. Unübertrefflich, wenn die Stille nach einem Fest so gegeben wird:
Don Balbis grauer, massiger Palast
Schläft aus vom Fest. Verstummt ist das Gewitter
Der Ballmusik, der Fackelnschein verblaßt,
Ins Schloß fiel dröhnend schwer das Pfortengitter.
Die Gärten schauern, und sein blaues Licht
Wirft irr der Mond in leere Säulenhallen;
Der Südwind rast, und an den Scheiben bricht
Er seine Schwingen, schwül, mit trübem Lallen
Von Palmenhainen und vom gelben Nil.
Wenn hier die Zustandschilderung zur Meisterschaft gereift ist, so offenbart sich plastisch geschaut die Tat eines Augenblicks in Zeilen wie diese:
Zur Seite warf er Santas Haar, das blonde,
Und führte tastend, ohne Laut noch Wort,
Den Dolch ins Herz; so senkt sich eine Sonde
Langsam und still in einen leeren Ort.
»Lieder an eine Verlorene« waren die erste Gabe dieses Dichters (1878), an eine zwiefach Entrissene, weil sie ihm und weil sie sich verloren gegangen war. Schicksale, die übers Meer führen in Verbannung und Einsamkeit hinein, flammen vor uns auf, diesmal nicht in epischer Breite hingemalt, sondern fast schon impressionistisch gefaßt, leuchtend und vorbeiziehend, wie die Fassetten 40 an der Drehscheibe eines Leuchtturms. Ewige Schmerzen werden bekannt, des Abschieds großer Zug ergreift uns mit dem Dichter,
Denn keine Liebe sättigt bis zum Grunde
Ein Herz, das Gott mit ewger Sehnsucht schlug.
Bilder begrabener Freuden und Schmerzen tauchen wie eine Fata morgana auf. Eine Entwicklung erleben wir von dem rauschbefangenen Jubel unbesorgter Jugend bis zum Ekel, aber auch über den Ekel hinaus zur Läuterung, Entwicklungen, wie wir sie bei anderen Dichtern dieses Geschlechtes – ich erinnere nur an Eduard Grisebach – fast typisch wiederfinden, und wie sie dann in späteren Tagen auf seinem Felde etwa Georg von Ompteda wieder durchgekämpft hat. Und in das alles hinein lugt die Natur, Fels und Meer, Baum und Strauch, die Linde unserer Flur und die Palme des Südens, deutsche Klostergärten und italienische Parks, die arabische Wüste und die Fjorde des Nordens. Schon macht sich ein leiser Zug zu diesen nordischen Fernen bemerkbar, die damals dem Dichter noch nicht so nahe lagen wie später, als er bei der Nordsee sein Heim aufschlug. Die ewigen Träume von untergegangenen Städten, von Vineta und Julin, rühren Carolath doch noch beweglicher das Herz als die Fata morgana der Wüste, die er einst im Gefolge Brugsch-Paschas erschaut hatte.
Durchaus auf eignem Gleis aber geht die Entwicklungsbahn dieses Dichters zur Höhe. Schon ganz früh schwingt ein inniger Ton religiöser Sehnsucht mit, wenn der schale Becher jugendlicher Lust der ermatteten Hand entfällt. Unklar ringen sich solche Träume durch, aber es ist doch mehr als die Wiederholung eines Koranspruches, wenn schon der Türmer in der »Fatthume« dieselben Worte in die Nacht ruft, die unser Wilhelm Raabe einem seiner tiefinnigsten Romane vorgesetzt hat:
Wär euch bekannt, was mir an Wissenssachen
Geoffenbart, enthüllt und angestammet,
Ihr würdet weinen und gar wenig lachen;
Mög Allah segnen euch. So spricht Mohammed.
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Jeder wirkliche Lyriker dichtet ja nur konkret, er besingt keine Abstrakta, sondern er abstrahiert aus seinem eigenen Ich, aus der Tiefe seiner Seele. Aber er verdichtet unbewußt, und oft wird er selbst überrascht das Ziel anschauen, zu dem des Herzens willig befolgte Führung ihn leitet. So möchte ich mir es auch bei Emil von Schönaich-Carolath vorstellen, wie aus der Farbenpracht seiner Bilder, aus der oft schaurigen Phantastik seiner poetischen Erzählungen ihn mit immer stärkerer Erhebung sein Herz hinführte zu dem Einen, was not tut. Schon früh hatte er Judas in Gethsemane vor sich gesehen und in einem nicht eben seiner stärksten Gedichte ihn dem Herrn gegenübergestellt. »Die Botschaft großer Feierzeit« kleidet sich aber noch selten in ein bestimmtes Gewand. Wunderbar freilich ward schon in reiferen Jahren alles überwindende Menschenliebe verklärt in jenem Maronitenweibe Sulamith, das sich des Bettlers erbarmt und Scheu und Scham darüber vergessen darf. Aber wie nun der Vers dem Dichter immer voller gerät, wie sich ihm die Bilder ungerufen zudrängen, da bricht auch diese leise, immer leise mitschwingende Sehnsucht ganz durch. So wird der rein persönliche Lyriker zum sozialen Novellisten und beschenkt uns in dem »Heiland der Tiere« (1896) mit einer Erzählung von höchstem Reiz, scharf gesehen und klar hingestellt, jedes Wort getränkt mit dem Gefühl einer erbarmenden Liebe, die sich auch der Kreatur neigt. Und der fünfzig Jahre alt gewordene Poet gibt uns in dem Zyklus »Heimkehr« (»Gedichte« 1903) die volle Frucht stiller Zeiten, in denen er in besonderem Sinne der Bürger seiner neuen Heimat, Schleswig-Holsteins, geworden war Carolaths sämtliche Dichtungen sind bei G. J. Göschen in Leipzig erschienen.. Das schlichte Kirchlein, »umrauscht von Lindenfinsternissen«, sieht auf ihn herab. Die stoppelgelbe Marsch, ein Weg voll blühender Schlehen, sie haben die Rosenpracht des Südens abgelöst. Neue Ideale sind in dieser kargeren Natur erwacht, und in einem grandiosen Gedicht spricht sich, diese neue Periode abschließend, der Dichter der Sehnsucht ganz aus und 42 zeigt mit lyrischem Zauber, wie wenige ihn besitzen, dahin, wo sein Sinn, den ein reiches Leben reifte, Einkehr und Heimat sucht. Ver sacrum, dies alte Symbol für das Opfer des Größten, bietet sich ihm ungesucht, und nun strömt es in Versen wie diesen über uns hin:
Wir saßen am Strande der Syrten,
Es rollte und grollte das Meer,
Ein Duft von Narden und Myrten
Zog tief aus Süden her.
Die Wellen brausen und funkeln,
Doch bäumt sich mein Herz vor Weh,
Wenn ich das große Verdunkeln
Unseres Lebens seh.
Wir haben die weißen Paläste
Der Träume hochgetürmt,
Wir haben, zwei jubelnde Gäste,
Den Himmel des Glücks erstürmt.
Das mahnt mich an sündige Städte
Voll Lichtgewirr und Samt,
Wo reich aus goldnem Geräte
Der Weihrauch der Lust geflammt.
Da wurde vergeudet, zerrüttet
Der Arbeit Segenstat,
Da wurde der Weizen verschüttet,
Der Jugend heilige Saat.
Da wurde von trunkener Zunge
Manch Hosianna gelacht,
Bis plötzlich mit Raubtiersprunge
Einbrach die Flut bei Nacht.
Versunken im rächenden Meere
Die Städte hochbenannt,
Die Tempel, drin einst Cythere
Im thyrsischen Reigen stand.
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Verschwunden die Marmorlöwen,
Die Meisterhand einst schuf – –
Nur weiße, raublüsterne Möwen
Kreisen mit hungrigem Ruf.
Die Stadt voll Tempeln und Türmen,
Darüber die Wellen ziehn,
Ist unsre Jugend, in Stürmen
Versunken, wie einst Julin.
Wir wollen vom Haupt uns streifen
Der Kränze sengenden Saum,
Das fiebernde Lustergreifen,
Den großen Griechentraum.
Wir wollen die Hand erfassen
Des Schiffsherrn von Nazareth,
Der, wenn die Sterne verblassen,
Nachtwandelnd auf Meeren geht.
Der tief in Wellen und Winden
Verlorenen Stimmen lauscht,
Um Städte wiederzufinden,
Darüber die Sintflut gerauscht.
Der aus dem brausenden Leben,
Drin unser Gut verscholl,
Versunkene Tempel heben
Und neu durchgöttern soll. – –
Prinz Emil von Schönaich-Carolath war mehrere Jahre krank gewesen, als er, der in Schlesien zur Welt kam, auf seiner von Mutterseite her ererbten Herrschaft Haseldorf, am 30. April 1908, starb; der langsam Vergehende war von Tag zu Tag mehr ein alles Verstehender geworden. Ein Mensch von lauterster Güte, lebte er inmitten seiner Familie abseits vom großen Treiben der Städte, deren Art und Leben er immer seltner zu ertragen vermochte, und war dennoch in steter Beziehung mit einer großen Zahl von Menschen in Deutschland, ja, auf der ganzen Erde, insbesondere mit 44 Zahlreichen, denen er oft und oft ein gütiger Helfer gewesen war. Carolath war von einer fast peinlichen Zurückhaltung gegenüber der Öffentlichkeit; er hatte gar kein Bedürfnis nach äußeren Erfolgen und war mit der Zeit in dem still beglückten häuslichen Kreis auch jedes lauten Beifalls überdrüssig geworden. Die Frau, an die er nach eignem Geständnis nie einen Vers gerichtet hat, weil ihr Herzensreichtum weder in Worten noch in Bildern hätte gegeben werden können, diese Frau und eine Zahl von verheißungsvoll heranwachsenden Kindern machten ihm das Leben schön. Die wundervollen, merkwürdig klaren Augen des Dahingegangenen, die kein Maler je richtig getroffen hat, sahen in jeden Gast hinein, der sich in das Marschenhaus, wie er sein Schlößchen nannte, hinfand, sie machten keinen verlegen, übten aber auch auf Neulinge in dem Hause einen bannenden, zur Stille mahnenden Einfluß; was in Carolath lebte, blieb wohl jedem, außer seinen Allernächsten, im Letzten unergründbar. Und diese Augen schauen für jeden, dem das Glück ward, Carolath öfters im Leben zu begegnen, aus seinen Versen dem Leser wieder ins Gesicht – ganz mit der Klarheit und mit der Wirkung wie die Augen des Lebenden, aber auch mit jenem letzten Zuge eines uns nicht zugänglichen geheimen Seelenlebens. Wenn je Mensch und Dichter ganz eins waren und für den, der beide kannte, untrennbar verbunden blieben, eins gehoben durch das andere, so war dies bei Emil von Schönaich-Carolath der Fall. Seine einsame Gestalt wird bleiben, unvergeßlich denen, die ihn kannten, und seine vollendeten Gedichte sind ein unvergänglicher Besitz unserer Kunst. 45