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Georg Reicke

Unter den zahlreichen aus Ostpreußen stammenden Poeten ist – die bloßen Unterhaltungsschriftsteller selbst eingerechnet – kaum einer, der nicht einen durchaus ostpreußischen Charakterkopf aufwiese. Ich meine damit nicht, daß ihre Werke stets ostpreußisches Leben und altpreußische Landschaft schilderten; sondern ich empfinde bei allen jene Eigentümlichkeiten des geistigen Lebens unserer Ostmark, die z. B. Treitschke oder Fontane (in »Vor dem Sturm«) auch als kennzeichnend für die ostpreußischen Politiker hervorheben. Dabei sind zugleich all diese Dichter so verschieden und bieten in ihrer Gesamtheit ein so farbenvolles Bild unserer ganzen literarischen Entwickelung seit der Reformation, daß Eugen Reichel, auch ein Landsmann, mit Glück, wenn auch mit allzu starkem Überschwang, den leider nicht zu breiterm Bilde gediehenen Versuch machen konnte, an den Ostpreußen innerhalb der deutschen Nationalliteratur so ziemlich alle Strömungen des geistigen Lebens Deutschlands nachzuweisen, wobei den Bewohnern jener ultima Thule oft genug die führende Rolle zufällt.

Es könnte scheinen, als ob Georg Reicke von dieser Stammesregel eine Ausnahme mache. Spät hervorgetreten (das erste Buch des 1863 Gebornen erschien 1901) und rasch zu Erfolg und Namen gekommen, mochte er manchem nur ein Weltstädter sein, der gelegentlich den Schauplatz seiner Werke nach Ostpreußen verlegt. In Wahrheit ist Georg Reicke durchaus Altpreuße, und nicht erst sein letzter Roman brauchte das zu offenbaren; nur ist er innerhalb der ganzen großen Reihe ein neuer Typus, nämlich der in Berlin heimisch, ja zum Berliner gewordene Ostpreuße. Eben 185 weil er mit reifen Werken erst hervortrat, als er längst der engeren Heimat Valet gesagt, längst empfunden hatte, was er später in am Rande Berlins gefundenen Versen festhielt:

Wer seine Seele dieser Weltstadt weiht,
Der sucht vergebens seine Einsamkeit! Dies Gedicht ist enthalten in dem Ostpreußischen Dichterbuch, herausgegeben von A. Petrenz, Dresden, Carl Reißner, 1905; die folgenden Verse stammen aus einem Gedicht »An die Heimat«, das der Kalender des Königsberger Goethebundes für 1905 gebracht hat. Alle übrigen Schriften Georg Reickes sind bei Schuster & Löffler in Berlin und Leipzig erschienen, nur der Roman »Der eigene Ton« bei Egon Fleischel & Co. in Berlin.

eben deshalb löste sich nicht so leicht aus der neuen Schale der heimatliche Kern. Und doch hat Georg Reicke selbst wieder den Fingerzeig dazu gegeben:

Der Platz gebadet in ein Lichtermeer,
Vom Widerschein erhellt die volle Gasse,
Dahinter blind aufragend, altersschwer,
Des Ordensschlosses dämmergraue Masse,
Und drüber hoch in stille Lüfte steigend
Sein schlanker Turm, in letzter Sonne schweigend –

So grüß ich wieder dich, geliebte Stadt,
Du Wiege meiner Kindheit, meiner Seele!
Was drauß mein Herz geliebt, gelitten hat –
Wenn ichs vor deinem Angesicht erzähle,
Ist mirs, als ob nach langen Wanderstunden
Verirrtes Kind sein Elternhaus gefunden.
–   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –   –
So grüß ich denn auch dich, vertraute Stadt!
Wohl sah ich manche, die den Ruhm dir streitet,
An Schönheit, Würde, Rang und Ehren satt, –
Du aber bist es, der das Herz sich weitet.
In dem Gefühl: ich lieb dich, weil du bist
Und irgendwo doch meine Heimat ist!

Da haben wir den Berliner, den die riesige Stadt, auch innerlich, nicht mehr läßt, und der, in Königsberg an alter Stelle stehend, 186 mit aller Liebe Tiefe den Quell seines Lebens und Schaffens voll fast rauschverwandten Glückgefühls erkennt und begrüßt. Wie Reicke, der Sohn des meisterlichen Kantforschers Rudolf Reicke, der Bruder des feinsinnigen Kulturhistorikers Emil Reicke, in keiner Zeile seiner flüssigen Prosa den Sprößling eines an klassischer Bildung reichen Hauses verleugnet, so erweist er immer wieder den ostpreußischen Ursprung, der selbst seinem letzten Drama den von vielen nicht gleich verstandnen Titel gab.

Aber schon in dem zuletzt zitierten Gedicht tritt dann die Färbung hinzu, die Berlin dem dichterischen Charakter Georg Reickes verlieh, je enger es ihn an sich zu fesseln vermochte.

– liebst du nicht das Leben, weil es lebt,
Hast du umsonst gelitten und gestrebt

heißts da. Eine ganz weltstädtische Auffassung. Zu dem strengen: »Woher?«, zu dem ernsten »Zu welchem Frommen?« ist keine Zeit – also begnüge dich, das Leben zu lieben (was nicht einfach und materialistisch heißt: zu genießen). Wie Reicke es meint, das zeigt noch deutlicher eine andere Dichtung, die ganz hierher gehört, weil sie uns dem Innersten dieser Poetennatur nahebringt:

                            Begegnung

Ich traf am Wege, als ich sinnend ging,
Gen Abend war es, auf zwei Gottgestalten –
So schienen sie mir –, denen ernst in Falten
Ein leuchtend Kleid von hohen Schultern hing.

Betroffen stand ich – fragend, wer sie seien.
Und eine drauf: »Ich bin die Ewigkeit!
Vergänglichkeit heißt diese! Sei bereit
Von uns der einen fürder dich zu weihen!«

Und rasch entschlossen trat ich an die Seite
Der Redenden. Doch, wie ich auf sie sah,
Vertrauend fragt ich: »Sprich – was birgst du da?«
Sie öffnete des Mantels Hüllenweite. 187

»Die Kraft«, begann sie, »die urewig dauert,
Die nie erlischt und Berge wälzt wie Sand;
Und hier den Stoff, der wechselnd sein Gewand
Doch stets derselbe bleibt, ob auch ummauert!

Von Erz und Fels und Fleisch und Blut und Bein.
Auch du mit allem, was dein Leben schönet,
Bist nur sein Teil, und eines Tags versöhnet
Dem Urquell wieder, meinem ewigen Sein!«

Indessen trat die andre scheuer Miene
Um einen Schritt mir näher, und sie schlug
Die Falten auf, daß, was sie drunter trug,
Vor meinem wißbegierigen Blick erschiene.

Da sah ich – Seele, der Gedanken Wandern,
Gefühl und Lust, und was auf dieser Welt
Vergänglich ist, einander dicht gesellt . . .
Und weiser wählend, ließ ich von der andern.

Da löst sich also der Beobachter dieses »durchweg zweideutigen Lebens« von der Schule des ehernen Kant, ein »Kind der Welt«, wie je einst der eingeborne Berliner Paul Heyse, mit dessen strichsicherer Linienführung Georg Reicke überhaupt Verwandtschaft hat. Auch die frühe Beherrschung der äußeren Form wäre hier als Ähnlichkeit zu verzeichnen, wenn nicht Reicke, wie schon gesagt, erst spät in Buchform das Seine gesammelt hätte, während alle früheren Arbeiten teils in Zeitschriften versteckt, teils (auch pseudonym) nur als Theatermanuskripte vorhanden wären. Die lyrische Sammlung »Winterfrühling« (1901), der auch die »Begegnung« zugehört, war gleich eine volle Frucht, deren Duft und Farbe leider nicht eben vielen auffielen und die nach den Erfolgen späterer Bücher nicht wieder hervorgeholt wurde. Winterfrühling! Wer je in Berlin einen vollen Jahreskreis verbrachte, weiß, was das Wort bedeutet. Es ist jene Zeit der weichen Januartage, die dort in der Mitte der märkischen Seen fast jährlich erwacht, deren Glanz wir so froh begrüßten und deren vorzeitige Schwüle uns dann zu drücken begann. 188

Der Winterfrühling hat mich müd gemacht –
Der Winterfrühling mit der weichen Luft,
Dem blauen Himmel und dem Veilchenduft
In deinem Kleid! Ich wollt, es würde Nacht!

Leise pulsen in Träume »von ewiger Kindheit« Erinnerungen von eigener Kindheit am heimatlichen Seestrande hinein,

Der Heidelerche müder Zwitscherton,
Des weichen Abendwindes Flügelschlagen.

Dann aber rankt sich des Dichters Liebe um Berlin. Er ist hier nicht der Sänger jenes Berlins der Dampfhämmer und Fabriken, der Lärmstraßen und Stadtbahnabteile, das die Naturalisten der achtziger Jahre fing, dem Julius Hart die schönsten Verse abgewann. Reicke ist der Dichter der feinen Frühlingsschleier, die der milde April um die Bäume und Balkone von Berlin W legt, der Dichter, der die Stimmung einer sonnigen Stunde an einsamer, auf dem Rade erreichter Stelle des Grunewalds köstlich festhält – in allem diesem vielleicht deshalb so treu, weil er auch hier noch mit dem unbeirrten, in klar umschriebener Landschaft geschärften Auge des Ostpreußen sieht. Zuweilen gelingt ihm (wie in den »Vier frischen Mädchen«) ein an Gottfried Kellers »Berliner Pfingsten« erinnernder Ton jubelnder Lebensfreude, zuweilen ein lastendes Bild voll verhaltener Tragik, wie in den meisterhaft knappen »Heiligen drei Königen«, deren inneres und äußeres Thema er später dramatisch wieder aufnahm.

Plötzlich aber schlägt Reicke dem ihn umbrandenden Leben des Tages die Tür vor den zudringlichen Augen zu und baut sich phantastische Symbole um sein junges Glück und seine heimgebannten Träume. »Ein kunstvoll reichgeziert, verschneites Gitter« (was gibt das für ein Bild), »dahinter schneebeladne hohe Tannen« – so liegt die Burg des Schweigens vor ihm. Plötzlich zerreißt die Stille, der Himmel flammt, »gelassen führt der Weg uns ans 189 Gemäuer«, und hier steht »auf breitgestuftem Altar hochgerichtet« eine Frau; »Weiße Hüllen gleiten von ihren Schultern, drauf die Lichter streiten. – Denn sie ist's, die die heilgen Flammen schichtet.« Und mit dem Wort: »So ihr die Menschen lasset – Das ist der ewig eine Weg zu mir!« wirft sie dem Schauenden als Lösung ein neues Rätsel zu.

»So ihr die Menschen lasset« – es wäre nach allem, was ich oben ausgeführt habe, verkehrt, wenn ich das Wort in der weithingreifenden Bedeutung dieses schönen Gedichts über Reickes übriges Schaffen setzen wollte. Nein, anteilvoll, gesellschaftsfroh dem Leben, der Großstadt, ihren künstlerischen und politischen, ihren großen und kleinen Kämpfen zugewandt, erscheint Georg Reicke im Roman und im Drama. Aber in einem Betracht hat doch diese Abkehr auch hier für sein Wesen ihre wohl zu ermessende Bedeutung: wenn man sie nämlich faßt als eine Wendung gegen gemeingültiges Urteil der »Welt«, gegen Konvention der »guten Gesellschaft«, gegen überkommene Lehren, die nach Reickes mit Kopf und Herzen errungener Anschauung gegenüber der Kraft wirklichen Lebens keine Berechtigung mehr haben. Diese aus einer ehrlichen und empfindlichen Seele stammende Tendenz hat Reicke nun gerade da das Konzept verdorben, wo er sie am stärksten hervortreten ließ. Das kommt daher, daß Reicke gleich so vielen liberalen Großstädtern übersieht, wie sehr heute schon die Konvention auf der andern, in diesem Falle auf seiner Seite liegt. Die Ideen, die Ursine und Renius im »Grünen Huhn« (1902) vertreten, sind reine Zeitideen, nicht in Schmerzen gewonnene Erkenntnisse starker Seelen, die das Leben wirklich zwingen. »Wenn man was nicht biegen kann, muß man es brechen« – gewiß eine Lehre, die ihr Recht haben mag, es aber von Fall zu Fall neu erweisen muß. Und das Liebespaar dieses ersten Reickischen Romans erweist es nicht; denn im Grunde – und Curt Renius empfindet das einmal selbst – sind beide schwache Naturen, die sich selbst und jedem Eindruck nachgeben, 190 und stark erscheint ihnen gegenüber gerade die schöne Frau Lotte, eine Gestalt aus einem Guß, die Einen Willen und die Energie dieses Willens hat. Ihre Briefe über Rembrandt sind etwas spießbürgerlich und ihre Gedanken über Frauenberuf etwas kurz – aber die Ruhe, mit der sie ihr Haus anzündet, um den geliebten Mann für sich allein zu haben (also ganz nach dem Lehrsatz des grünen Huhns) hat etwas Imponierendes, dem gegenüber der Schwächling Renius, der im Verhältnis zu beiden Frauen stets erst Nummer zwei ist, abfallen muß.

Trotz solchen Ausstellungen bleibt am »Grünen Huhn« noch genug, was diesen Roman über den Durchschnitt emporhebt: nicht nur echter Geist steckt darin, sondern eine aufs feinste abgetönte Stadt- und Menschheitsschilderung, mag es sich um Königsberg, Berlin oder Paris handeln. Und ohne jede störende Zutat arbeiten solche Gaben in freilich ganz anderm äußerem Bezirk in Reickes zweitem Roman »Im Spinnenwinkel« (1903). Ein ostpreußisches Landstädtchen gibt den Rahmen, in den die erste Herzenstragödie eines jungen Poeten gezeichnet wird. Das Buch trägt jenes Schopenhauersche Wort von »diesem durchweg zweideutigen Leben« als Motto, und glänzend hat Georg Reicke dies weltweise gewählte Beiwort in seiner Alice und ihrem Verhältnis zu dem jungen Gerhart verkörpert. So, wie's hier gegeben wird – das fühlen wir –, ist das Leben wirklich, voller Zweifel, die nur in Seligkeiten untergehn, um als Qualen wiederzukommen. Der Typus des werdenden Dichters, der noch in der Puppe des Beamtenkleides steckt, ist in Gerhart als feine und reiche Individualität angedeutet; mit gleicher Schärfe geschaut ist um ihn herum die Welt des Städtchens und echt gezeichnet die Umgebung in Natur und Menschen. »Im Spinnenwinkel« ist eines jener von ruhiger Hand geschaffenen Werke, die dem Leser beim zweiten, drittenmal lieber und lieber werden – vielleicht so reich auch deshalb, weil die Gestalten der Jugend, der Heimat dem Dichter wieder im Herzen aufwuchsen. 191

Noch stärker ist dies Gefühl der Zusammengehörigkeit mit der alten Erde der Väter in Georg Reickes jüngstem Romanbuch »Der eigene Ton« (1906). Ja, hier steigert sich der Ausdruck der Liebe in echtem Schwung fast dithyrambisch so, daß er wohl nicht nur dem Landsmann froh das Herz bewegt. »Wer dich einmal so (in Abendsonnenverklärung, wie in jenem Gedicht) gesehen, alte Pregelstadt, dem wird es nicht leicht werden, deinen Anblick zu vergessen. Und wenn sein Geschick ihn aus deinen Mauern für immer entführt, nach Westen und dem einschmeichelnden Süden – doch steigen Stunden zwischen Tag und Abend herauf, da ihn ein heimatlich Erinnern zurückträgt in deine altvertrauten Gassen, da er wieder den Schloßturm ragen sieht in Abendsonne und sich sehnt nach dem Anblick der Schiffe im Hafen, nach dem Geruch von Wasser und Getreide und Teer, der um die Dämmerzeit durch die Straßen zieht – und er würde gern deinen Boden küssen, du Heimaterde!« Dieser sehnsuchtsvolle Klang ist nun freilich nicht der eigene Ton, den Rolf Runge aus Memel auf seiner Fahrt zum Glück sucht. Wie dieser eigne Ton beschaffen ist oder beschaffen sein soll, ist aber auch nicht leicht festzustellen; vielleicht noch am ehesten mit den Worten, die dem Helden in schwerer Schicksalsstunde die Geliebte sagt: »Gegen die innere Stimme handeln, ist ein Verbrechen, das sich rächen muß.« Dahin gelangt Rolf Runge nach langer Wanderfahrt, deren einzelne Wege und Stationen in der ganzen Fülle einer farbig schillernden, sich nie vergreifenden Erzählerkunst vor uns auftauchen. Aber wenn er, solches Gefühls gesättigt, der Braut, der ihn innerlich doppelte Schuld verbindet, den Scheidebrief schreibt, so haben wir dasselbe Gefühl eines Mißverhältnisses zwischen Lehre und Tat wie im »Grünen Huhn«. Rolf Runge hätte mehr eignen Ton, mehr männliches Profil und ein stärkeres Herz, wenn er nach der einfachen Ethik seines alten Freundes, des Maklers, handelte, so spießig sie ihm klingen mag; wenn er der Braut das Versprechen hielte, so sehr sein Herz ihn zu einer andern zieht, deren Bild noch dazu sein 192 Freund im Herzen trägt. Und wenn er in der raschen Abkehr, mit der jener tief getroffene Freund den Schmerz übertäubt, empört eine Treulosigkeit empfindet, so fühlen wir, daß sein eignes Herz ihm den Vorwurf doppelt zurückgeben müßte.

Ist es also wieder die führende Tendenz, die dem Dichter in dem allzu breiten Werk einen Streich gespielt hat, so muß hier noch mehr als früher ein Vorzug gepriesen werden: die Schilderung der Frauen. In der ganzen Reihe ist nicht eine, die auch nur um eines Wortes Gewicht unecht gegeben wäre, von der süß verklärten, unschuldsvollen Pfarrerstochter bis zur leichten Schauspielerin über alle möglichen Nuancen hin eine Fülle fesselnder Gestalten, hinter denen der Stimmungen hingegebene, im Handeln oft so schwache Held billig zurücktreten muß. Und diese Kunst, gerade der weiblichen Seele nachzuspüren und Frauengestalten darzustellen, ist Reicke vor andern Gaben eigen, wo er auf dem Boden des Dramas Menschen gegen Menschen stellt. Die verschwiegen leidende Theo in den »Märtyrern« (1904) gibt da der schönen Lucie in »Morgen« nichts nach, deren liebeheischendes Herz sich unter mondäner Oberflächlichkeit verbirgt. Und es ist überhaupt an diesen kleinen Dramen zu bewundern, wie rasch Reicke seine Menschen lebendig und glaubhaft machen kann. »Märtyrer« und »Morgen« sind ja fast nur konzentrierte Darstellungen von Konflikten, die wohl einen breiten Rahmen füllen könnten, aber doch auch in dieser Gedrängtheit ganz echt wirken. Mit sehr viel schärferen Akzenten arbeitet Reicke dann im »Sterngucker«, der an Schlagkraft unter seinen Dramen am höchsten steht. Die Stimmungen des Gedichts von den »Heiligen drei Königen« sind hier in Handlungen umgesetzt. Schneidend scharf kommt der Gegensatz heraus zwischen dem festlichen Prunk des Aufzugs der »Sterngucker« und dem Jammer in dem armen Ferdinand, dem Elend seines täglichen Lebens. Nicht so leicht könnte eine andere Dichterhand die Elemente der tragisch schreitenden Handlung im Laufe eines kurzen Aktes zum unabwendbar furchtbaren 193 Schluß steigern, wie Reickes dramatische Kraft es hier getan hat. Ein Akt, der anmutet wie der Schlußakt auf vier vorhergegangene, und doch alles in sich enthält, was wir haben müssen, um diese Charaktere zu verstehn.

Die sehr oft mißverstandene Tragikomödie vom »Schusselchen« (1905) hat ihre Bedeutung in wesentlich anderen Vorzügen. Der eine ist, daß dies Stück wirklich eine Tragikomödie ist. Wie im Roman vom »Spinnenwinkel« sehen wir hier ganz wahrhaftiges Leben mit seinem Durcheinander von Schmerz und Glück; es ist mit feinem Humor begnadet, und Blicke in tragische Tiefen werden aufgetan. Es fehlt wie jedes naturalistische Bemühen im Sinne des Landmanns Holz, so die satirische Beleuchtung des Landsmanns Sudermann. Zuerst einmal sagt das Leben hier: Nehmt mich! Und dann freilich, am Ende, greift eine herzenswarme Mahnung hinüber über Schuld und Mißverstehen. Hier sprechen nicht, wie sonst bei Reicke, Zeittendenzen mit; hier tönt es aus einem alten Herzen: »Was hätten wir für ein Leben, wenn nicht das bißchen Güte in der Welt wäre, womit wir einander ertragen sollen«; und aus einem jüngeren entspringt die Frage, ob denn nun ein Fehler, ein Abirren in schlecht bewachter Stunde sechs Jahre ausstreichen solle aus einem liebevollen Leben. Und die Frage wird verneint, nicht enthusiastisch, sondern in dem Gefühl, daß es wirklich ein Höheres gibt, als unser zeitliches, kaltes Richten mit Verstand und Gesetz. – Durchaus in einem Guß ist diese Tragikomödie geschaffen, sie gehört zum Besten, was wir Deutschen in der Art haben, und sollte mit ihrem echten Lebensinhalt und ihrer wahren Konturenzeichnung über mehr Bühnen wandern, als es bisher geschehn ist.

Durch alle Werke Georg Reickes geht eines mit dem Leser mit: die Freude an dem prachtvollen Stil, an der Klarheit seines Ausdrucks, der Fülle seiner Wendungen. Eine greise Ostpreußin, eine Schwester von Fanny Lewald, sagte mir einmal: »Ostpreußen, die lange in Berlin gelebt haben, sprechen das schönste Deutsch«. 194 Jedenfalls schreibt der in Berlin lebende und verwaltende Ostpreuße Georg Reicke mit das beste Deutsch unter allen unsern Schriftstellern, Paul Heyse, wie ich es schon sagte, wohl vergleichbar. Und ihm eignet noch ein anderer Vorzug, der zugleich Verdienst ist: der nun sechsundvierzigjährige, dessen liebenswerte Persönlichkeit aus jeder Zeile seiner Bücher spricht, hat gleich seinem Landsmann Ernst Wichert keinen literarischen Feind, und er ist keiner Clique verschrieben. Daß aber über all diese Gaben hinaus in ihm eine echte Dichterseele lebt, glaube ich, dargestellt zu haben. Was im »Winterfrühling« an formbegrenzter Schönheit, im »Spinnenwinkel« an feiner Seelenkunde, im »Schusselchen« an lebensgewisser Darstellungsgabe, im »Sterngucker« an kraftvoller Tragik steckt, wird sich noch in andern Werken offenbaren, die wir gleich den schon geschaffnen Georg Reickes dahin stellen wollen, wo, fern den Lärmmachern des Tages, unsre Poeten stehn. 195

 


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