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Kapitel 25.

Ein Kampf im Finstern

Es war Justus Wise hinlänglich bekannt, daß Southampton wie jede andere Hafenstadt elende, schmutzige Straßen besitzt, aber solche Partien, durch die ihn jetzt sein kleiner Begleiter führte, hätte er doch nicht vermutet.

Schließlich blickte Justus den Jungen von der Seite an und legte sich die Frage vor, ob man ihm nicht etwa eine Falle gestellt hätte und ob es nicht eine ganz verkehrte Sache sei, die Wohnung eines Mannes aufzustöbern, der mit dem Generalsekretär auch nicht die geringste Beziehung haben könnte. Der Mulatte hatte sich zwar sonderbar genug benommen und sicherlich das Billet erster Klasse weder für sich noch für einen seiner gewöhnlichen Gäste genommen. Es war aber doch sehr wahrscheinlich, daß er in seiner Eigenschaft als Gepäckträger Wyvill in den Weg gelaufen war und daß dieser sofort die Gelegenheit ergriffen hatte, ein Haus zu wählen, in dem er versteckt und ohne daß ihn dort jemand vermutet hätte, die Abfahrt des Schiffes erwarten konnte.

So schritt Justus denn weiter.

»In dieser Straße ist es.« sagte der Knirps endlich, als sie in eine dunkle, enge Gasse einbogen, in der das Gras zwischen den dunklen Steinen wuchs. »Das ist die Demman-Straße.« Justus blickte sich um. Zu beiden Seiten standen schmutzige, halb verfallene Häuschen. Aus einigen drang das Gegröle von Schiffsliedern, die meisten lagen schweigend und verschlossen da und öffneten sich nur dann, wenn lauernde, dunkle Gestalten hineinhuschten.

Es wurde Justus unheimlich zu Mut. »Wie heißt das Haus?«

»Welches? Vaters Haus? Das heißt »Schwarzer Mann.«

»Sehr passend.«

»Was?«

»Ja, ja. ich meine so. Hörst du nicht, daß uns jemand folgt?«

Der Junge wandte sich um. »Nein, nein, es folgt uns niemand. Sie haben vielleicht einen von den Ostindiern gehört, die treten ganz leise aus und hier steckt es voll von ihnen. Hier ist Vaters Haus.«

Der Junge blieb stehen und zeigte auf eine Pforte zu einem Hof, in dem trotz der Dunkelheit ein kleines Häuschen sichtbar wurde.

»Was ist da auf dem Hof?« fragte Justus.

»Das ist kein Hof, das ist der Vorgarten. Wollen Sie hineingehen, ich darf nicht.«

»Glaubst du, daß jemand dort ist?«

Der Knabe schielte durch das Gitter. »Nur Mutter, ich glaube nicht, daß sonst noch jemand da ist, denn sonst wäre Vater nicht so spät ausgegangen. Wenn Sie mir noch sechs Pence geben, sehe ich nach.«

»Hast du nicht gesagt, daß du dich fürchtetest?«

»Nicht – für sechs Pence. Mutter kriegt mich vielleicht auch gar nicht.«

»Schlägt dich denn deine Mutter auch?«

»Ja. aber ich glaube, sie ist auch nicht zu Hause, weil kein Licht drinnen ist.«

»Schön, du sollst deine sechs Pence haben.« Justus griff in seine Tasche. »Laß dich nicht verhauen und komm schnell zurück.«

Der Junge nahm das Geld, spuckte darauf und knüpfte seine Hosenträger fest. Dann zwängte er sich durch die Pfosten des Gitters.

Allein gelassen, sah sich Justus das dunkle, einsame Haus an und die finstere, stille Straße. Er sagte sich daß Wyvill hier nicht hergegangen sein könne, denn das Haus hatte ganz das Aussehen eines gefährlichen Ortes und jener mußte doch ein ganzes Vermögen bei sich führen.

Wenige Minuten später tauchte der Kleine schon wieder neben ihm auf.

»Da ist jemand drin, ein Herr wie Sie, er sitzt im Hinterzimmer und spielt mit seinen Nägeln. Mutter ist nicht da.«

»Ein Herr wie ich?«

»Ja, er hat keinen Schnurrbart und ist dünner.«

»Hat er rote Haare? Schnell. Junge, hat er rote Haare?«

»Das konnte ich nicht sehen. Er hat aber komische Augen.«

»Schielt er?«

»Ja, besonders wenn er auf seine Nägel guckt.«

Justus holte tief Atem. »Und sonst ist niemand im Hause? Du bist sicher?«

»Ja. Vater ist aus und Mutter ist aus.«

Justus ergriff die kleine schmutzige Hand. »Nun paß mal auf, mein Junge, ich habe dir Geld gegeben, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was du haben sollst, wenn du jetzt etwas für mich tust. Hier ist erst einmal eine halbe Krone auf Abschlag. Wie ist das Fenster in dem Zimmer, in dem der Mann sitzt?«

»Aus Glas.«

»Nein. nein. Ich meine, ist das Fenster groß: geht es bis auf den Boden?«

»Ja, es führt auf unsern hintern Garten.«

»Ist es verschlossen?«

»Nein, es ist nur verriegelt.«

»Und der Mann hat dich nicht gesehen, als du ihn beobachtet hast?«

»Nein. Ich war im Dunkeln und er war im Licht.«

»Schön, jetzt möchte ich also folgendes von dir. Führe mich leise, ganz leise zu dem Fenster und laß mich dort allein. Du verstehst mich? Dann gehst du an die Vordertür: nicht wahr, das ist dort drüben und klopfst daran, wie dein Vater oder deine Mutter klopfen würden, wenn sie eingelassen werden wollen. Die Tür ist sicherlich verschlossen, weil der Herr fürchten wird, gestört zu werden.«

»Ja, sie ist verschlossen, ich habe versucht, sie zu öffnen. Vater klopft so: Rap, rap, rap – rapp, rapp.«

»Wenn du mich also an das Fenster geführt hast, gehst du herum und klopfst wie dein Vater und paßt dann auf, ob jemand die Straße herunterkommt. Sobald du jemand kommen hörst – deinen Vater oder deine Mutter, läufst du zu mir und sagst es mir. Hast du mich nun ganz verstanden?«

»Ja, ich weiß alles. Wollen Sie den Herrn da drin verhauen?«

»Ja, vielleicht, ich weiß noch nicht genau. Willst du tun, was ich verlange? Tust du es und es geht alles gut, dann bekommst du zehn Schilling.«

»Famos!«

»Hier sind noch einmal zweieinhalb, das macht zusammen fünf Schilling. Nun komm schnell. Kommt da jemand? Nein, also schnell.«

Justus ergriff wiederum die Hand des Knaben und ließ sich von ihm über den Hof ziehen.

Sehr vorsichtig schlichen sie auf einem schlüpfrigen Pfad an der Haupttür vorbei, einen Nebenweg entlang, bis ein schwacher Lichtstrahl, der auf einen Grasflecken schien, Justus sagte, daß sie sich nahe der Glastür befanden. Er schritt leise vorwärts, stützte sich an die Ecke der Mauer und blickte durch das Glas.

Er sah in ein kleines schäbiges Wohnzimmer, in dem vor einem erlöschenden Feuer der Generalsekretär des Wapiti-Syndikates saß.

Nur sein Profil war Justus zugewandt, aber als er ihn beobachtete, wie er dort saß, die Nägel streichelte und in die Höhe blickte, erkannte er ihn sofort und er fühlte sein Herz schneller pochen.

Das war der Mann, in dessen Tasche sich die Anteilscheine auf ein Vermögen befanden.

Justus wandte sich zu dem Jungen. »Alles richtig.« flüsterte er ihm zu. »Geh schnell herum an die Haupttür.«

Der Kleine nickte und verschwand. Justus krallte die Finger zusammen und schlich immer näher an das Fenster heran.

Plötzlich ertönte durch die Stille das Klopfen des Knaben an die Tür und obgleich Justus das erwartet hatte, war es ihm, als müsse er aus der Haut fahren, und nun sah er, wie der Generalsekretär schnell aufsprang.

Durch diese Bewegung wandte er Justus den Rücken zu. Dieser stellte sich sofort an die Glastür und als das Klopfen abermals ertönte, hatte Justus die Glastür geöffnet und befand sich im Zimmer.

Im Eifer, sein Geld zu verdienen, hatte der Knabe dieses Mal länger geklopft und das Geräusch machte die Bewegungen von Justus unhörbar, so daß er Wyvill angegriffen hatte, ehe dieser noch eine Ahnung von der Anwesenheit eines anderen im Zimmer hatte.

Und als das geschah, war es bereits zu spät, denn Justus hatte ihn an der Kehle gepackt.

Beide Männer befanden sich wohl im gleichen Alter, aber Justus, der vernünftig gelebt hatte, besaß Muskeln von Eisen und hatte den Vorzug der günstigeren Stellung und der Angegriffene befand sich unvermutet in Gefahr. Außerdem besaß der Generalsekretär ein böses Gewissen und das Klopfen hatte ihn erschreckt. Obgleich er wie ein wilder Tiger kämpfte, waren die Aussichten gegen ihn. Er konnte Justus nicht abschütteln, dessen eiserne Finger sich immer tiefer in seine Kehle drückten. Er begann zu taumeln und einen Augenblick später wäre der Kampf beendet gewesen, wenn Justus' Füße nicht plötzlich in ein Eckgestell mit Porzellan geraten wäre, das mit großem Gepolter umfiel. Noch kämpfend trat er auf die Scherben und da er dabei sein Gleichgewicht verlor, lockerte sich sein Griff.

Wyvill zog daraus sofort Nutzen, beugte sich vorwärts und hielt sich am Tisch fest; der Tisch schlug um, so daß die darauf stehende Lampe hinunterstürzte.

Eine Sekunde später lag das Zimmer in Dunkelheit und Wyvill war frei. Rasch führte er die Hand in seine Tasche, zog einen Totschläger hervor, mit dem er blindlings um sich schlug und traf Justus an die Schulter.

Es war Justus, als ob ihm sein Arm abstürbe und er machte sich klar, daß ihn ein zweiter Schlag zu Boden strecken würde, aber er war weit entfernt davon, sich zu ergeben. Er tastete in der Dunkelheit und da packte seine Hand die schwere Lampe aus Messing, die er nun dorthin schleuderte, wo er den Kopf Wyvills vermutete.

Es kam ein Aechzen, ein Fall und dann trat Schweigen ein.

Justus wartete einen Augenblick, es erfolgte aber kein weiterer Laut und bei dem schwachen Licht des herabgesunkenen Kaminfeuers erkannte er, daß Wyvill regungslos am Boden lag.

Mit zitternden Händen durchsuchte er seine Tasche und fand endlich eine Schachtel Streichhölzer. Er zündete eins an, entdeckte einige Kerzen auf dem Kaminsims, steckte sie an und wandte sich dann zu dem am Boden Liegenden.

Gott sei Dank, der Mann war nicht tot. Betäubt und durch die Lampe stark verletzt, atmete er schwer.

Justus warf einen kurzen Blick nach der Glastür und kniete dann vor Wyvill nieder. Wo waren die Anteilscheine? In dieser Tasche? Nein. In dieser? Nein. Ach, was war da unter der Weste, unter dem Hemd, unter der Unterjacke, direkt auf dem Leibe –? Das Paket. Ja, es waren die Papiere.

Rasch riß er das Päckchen auf, streifte das Wachspapier ab, stieß einen unterdrückten Ruf der Freude aus und dann erhob er sich.

Denn ein Blick bewies ihm, daß es in der Tat die Anteilscheine waren und daneben lagen Banknoten, taufend Pfund Sterling.

Während seine Augen sich noch an dem Reichtum in seinen Händen weideten, veranlaßte ihn ein plötzliches Geräusch, sich umzusehen. Der Knabe stand neben ihm.

»Schnell, schnell, Vater kommt die Straße hinunter und Mutter ist bei ihm. Ei, Sie haben ihn verhauen!«

Justus fuhr zusammen. »Wenn dein Vater kommt, kann ich doch auf diesem Wege nicht fort. Du hast deine Sache vorzüglich gemacht. Hier ist das übrige Geld. Nun zeig mir aber auch, wie ich fortkomme. Ich möchte deinem Vater nicht begegnen.«

»Das kann ich mir denken.« meinte der Kleine verständnisvoll. »unsere Lampe und Mutters Porzellan. Machen Sie nur, daß Sie fortkommen. Ich gehe über die Hintermauer. Wenn Sie klettern können, dann kommen Sie nur.«

Justus wartete eine zweite Aufforderung nicht ab. Einen Augenblick später waren er und der Knabe bereits jenseits der Mauer, die den Hintergarten abgrenzte und flohen durch einen schmalen, schlecht erleuchteten Gang hinunter. Am Ende desselben blieb der Knabe stehen und wies mit dem Finger auf einige Lichter in der Entfernung.

»Dort unten ist Wellow Bar.« sagte er. »Finden Sie Ihren Weg von dort?«

»Ja, ich finde mich schon zurecht.« sagte Justus außer Atem, aber frohen Mutes. »Was tust du aber jetzt?«

»Ich gehe zurück, um zu sehen, wie Mutter Vater verhaut, weil sein Gast ihr Porzellan zerbrochen hat.«

Justus blickte den Knaben gedankenvoll an.

»Ei, ei – aber ich muß doch sagen, du hast mir heute abend einen großen Dienst erwiesen. Verlier dein Geld nicht, mein Junge, und halte dich brav. Uebrigens brauchst du unsere kleine Angelegenheit nicht zu erwähnen, das ist nicht nötig. Leb wohl, mein Junge.«

Justus sah dem Knirps noch lange nach, wie er flötend davontrottete. »Ein famoser Junge, wirklich, ich weiß nicht, was ich ohne ihn angefangen hätte.«

Ohne viel Schwierigkeiten fand Justus seinen Weg in die Zivilisation zurück und nachdem er zu seiner Auffrischung sich in das Süd-West-Hotel gewandt hatte, machte er sich mit einem Whisky und Soda in einem großen Klubsessel recht bequem.

Die Augen träumerisch zur hohen Zimmerdecke gerichtet, lehnte er sich zurück. Sein Rock war über der Brieftasche des Generalsekretärs gut zugeknöpft und nun gestattete er seinen Gedanken, die Sachlage in aller Ruhe zu überblicken.

Höchstwahrscheinlich sind hier im Hotel viele vermögende Leute. Ich glaube aber, ich kann es in diesem Augenblick mit jedem von ihnen gut aufnehmen. Die Anteilscheine auf die Diamantenfelder in meiner Tasche haben einen Riesenwert, denn West und Wyvill sind nicht die Leute, die sich mit Kleinigkeiten abgeben, daneben spielen die tausend Pfund Sterling, vermutlich Wyvills Sparschatz, kaum eine Rolle. Uebrigens weiß niemand, daß ich sie besitze. Wyvill hat keine Ahnung, wer sein Angreifer war, und wüßte er das, so könnte er auch nicht viel Aufhebens davon machen. Wenn es sonst jemand erführe, wäre es jedenfalls zu spät. Mit den tausend Pfund könnte ich nach Capetown hinüber, dort auf die Anteilscheine so viel Geld erheben, daß ich für mein Leben ausgesorgt hätte und dann auf immer verschwinden. Ich möchte wohl wissen, wieviel Leute in meiner Lage noch zögern würden. Dagegen könnte ich andererseits die Papiere dem alten Millbank bringen oder, wenn er inzwischen gestorben sein sollte, seinem Sohn. Mein verehrter Klient würde ohne Zweifel nicht kleinlich sein und das könnte mir genügen. Ferner kann ich zu Fräulein Gertie Tillet gehen, um ihr zu sagen, wer der Mörder von Peter Dunton war und die reizende junge Dame wird mich mit dem mir versprochenen Geschenk erfreuen, trotzdem West wegen dieser Angelegenheit doch nicht ganz frei ausgehen wird. Ich gebe aber auch dem Finanzmann einige gute Winke, für die er mir dankbar sein wird. Schließlich habe ich die tausend Pfund, denn ich sehe gar keinen Weg, wie ich diese nette Summe Herrn Wyvill zurückgehen kann, auch würde ihm das gar nichts nützen. Der Verehrte befindet sich in einer sehr schwierigen Lage und dürfte fürs erste auch keine Gelegenheit haben, Geld auszugeben. Ich bin sicher, daß Clementine es nicht gern sähe, wenn ich die Anteilscheine behielte, aber ich glaube nicht, daß sie wegen der tausend Pfund etwas sagen würde.«

Er streichelte die Stelle seines Rockes, unter der das Taschenbuch lag und erhob sich erfrischt und lächelnd, nur ein dumpfer Schmerz in der Schulter störte das Gefühl vollständigen Friedens, das seine Seele durchflutete.

»Wo ist das nächste Telegraphenamt?« fragte er einen Kellner. »Ach ja, ich weiß, das Hauptpostamt ist in Abovebar. Ich finde den Weg schon.«

Langsam schlenderte er zum Postamt und sandte die folgenden Depeschen ab und zwar eine nach dem »Marquis von Granby«, die zweite nach dem Berkeley Square:

»Georg Millbank. Hatte großen Erfolg. Fahre mit dem nächsten Zug zurück. Justus Wise.«

Sodann begab er sich zum Westbahnhof.


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