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Kapitel 9.

Auf der Hintertreppe

Es bot für Justus und seinen Begleiter keine Schwierigkeit, die beiden ihnen vorangehenden Männer im Auge zu behalten, denn diese gingen geraden Weges, ohne sich auch nur einmal umzusehen und unterhielten sich sehr lebhaft. Der Weg führte über Covent Garden und Drury Lane auf den Stadtteil Holborn zu.

»Sie gehen in das Bureau von Wyvill!« sagte Justus endlich, mehr zu sich selbst, aber Millbank fing die Worte auf.

»Wer ist Wyvill?« fragte er schnell, »wer sind diese Leute? Wollen Sie mir das nicht sagen. Herr Wise?«

»Gewiß, ich will Ihnen alles sagen, mein lieber junger Herr, das ist ja auch meine Pflicht, da Sie mein Auftraggeber sind. Ich müßte mich sehr irren, wenn nicht der breitschulterige ältere Mann, über den ich vorhin mit Ihnen sprach, der Unbekannte ist, der Herrn West besuchte und den Handel mit ihm hatte. Ihm verdanke ich doch schließlich den Vorzug Ihrer Bekanntschaft.«

»Das wäre ja seltsam! Sind Sie Ihrer Sache sicher?«

»Wie Sie selbst sehen, trifft die Beschreibung sehr genau zu – und daneben bestätigen mir auch andere Dinge meine Vermutung. Der Jüngere mit den roten Haaren heißt Wyvill. Sein Bureau liegt in demselben Hause wie das meinige. Er ist Generalsekretär des Wapiti Syndikates. Er kennt auch Herrn West, ich habe sie beide zusammen sprechen sehen.«

»Und deshalb folgen Sie ihnen?«

Wise tippte Millbank auf den Aermel.

»Weil ich glaube, daß diese beiden da vor uns mehr über den Mord von Peter Dunton wissen als sonst jemand, und wenn es noch irgendwie möglich wäre. Herrn West von der Anklage zu befreien, sie uns dazu verhelfen könnten.«

»Dann veranlassen Sie doch, daß sie verhaftet werden und –«

Wise schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre nicht ratsam. Ich will Ihre Hoffnungen nicht vernichten, aber ich glaube kaum, daß für West noch Aussichten vorhanden sind; wäre das aber der Fall, so würden wir auf dem von Ihnen vorgeschlagenen Wege nicht zur Wahrheit gelangen. Der ganzen Angelegenheit liegen noch tiefere Dinge zugrunde und wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn wir unserem Zwecke dienen wollen. Wie ich Ihnen schon früher sagte, ich möchte ganz offen gegen Sie sein und bitte Sie –«

»Ich erwidere das gern, Herr Wise.«

»Ich danke Ihnen. Also Sie sagen, der ältere Mann sei Ihnen ganz unbekannt. Wo sind sie? – Ach, dort. Verlieren wir sie nicht aus den Augen. – Sie kennen ihn nicht?«

»Wirklich nicht.«

»Und Sie können auch keine Gründe dafür finden, weshalb er Nachforschungen nach Ihnen anstellt? Weshalb er in Erfahrung zu bringen sucht, wo Sie wohnen?«

»Er sucht mich?!« Nein, darüber kann ich in der Tat nicht die geringste Auskunft geben,« entgegnete Millbank sehr überrascht.

»Sie schulden ihm doch nichts?«

»Ich habe keinen Pfennig Schulden. Mein Einkommen genügt mir reichlich, ich habe noch nie mehr gebraucht.«

»Und es existiert keine alte Sache – hem – Liebesgeschichte?«

Millbank lachte. »Eine andere Frau, wie? Nein. Ich bin kein Heiliger. Herr Wise, aber in dieser Beziehung ist durchaus nichts zu fürchten, Herr Wise. Die Versicherung kann ich Ihnen bestimmt geben.«

»Aber trotzdem, er wollte Ihre Adresse haben?«

»Meine Adresse? Sonderbar. Wieso wissen Sie das?«

»Er kam deswegen in mein Bureau.« Und nun erzählte Wise mit kurzen Worten von dem Besuche des Mannes, der seinen Namen nicht nennen wollte. Das Erstaunen von Millbank wuchs. Von der Anzahlung glaubte Wise nichts sagen zu brauchen. Als er sonst alles berichtet hatte, schüttelte Millbank den Kopf und nach einigem Nachdenken meinte er: »Ich finde dafür absolut keine Erklärung. Ich habe ein sehr ruhiges Leben geführt und die wenigen Freunde und Bekannte, die ich besitze, werden sich nicht nach mir erkundigen. Weshalb der Fremde sich für mich interessiert, das kann ich, wie gesagt, Ihnen nicht erklären!«

»Wenn ich Ihnen raten darf, so lassen Sie sich einstweilen nicht von ihm finden,« meinte Justus. »Von Ansehen kennt er Sie ja nicht.«

»Woher wissen Sie denn das?«

»Weil Sie aufeinander prallten, vorhin, kurz bevor wir die Zeitungsjungen kreischen hörten. Sie entschuldigten sich gegenseitig und er kannte Sie ebensowenig wie Sie ihn.«

»Ja. jetzt erinnere ich mich. Wir sind uns allerdings ganz unbekannt.«

»Also Sie sind einverstanden. Sie bleiben ihm auch ferner unbekannt und inzwischen versuche ich, mich über ihn zu informieren. Ich muß wissen, welche Beziehungen zwischen ihm und Wyvill und zwischen ihm und William West bestehen und außerdem zwischen ihm und Ihnen selbst.«

»Das möchte ich auch. Ich habe von einer Beziehung keine Ahnung und doch, das wird Ihnen ja auch ausgefallen sein, Herr Wise, seitdem der Fremde bei Herrn West gewesen ist und sich mit ihm gezankt hat, datiert das veränderte Verhalten des letzteren gegen mich.«

»Gewiß, das habe ich wohl bemerkt.« Er blickte den Mann vor sich mit seinen scharfen Augen an, als könne er dessen Geheimnis von dem Rücken ablesen. Inzwischen hatten sie Holborn erreicht und die Vorangehenden waren bereits um die erste Straßenecke eingebogen.

Wise schlich ihnen vorsichtig nach und winkte dann Millbank heran, nachdem er sich überzeugt hatte, daß sie das Haus betreten und die Treppe hinaufgegangen waren.

»Wir wollen jetzt schnell in mein Bureau schlüpfen und in Ruhe überlegen, was zu geschehen hat. Von meinem Fenster aus läßt sich der Hauseingang beobachten, so daß sie ohne unser Wissen nicht fortgehen können.«

Sie begaben sich in Wises Bureau, natürlich hatten sie aus der Treppe vor der Tür des Wapiti Syndikates behutsam Halt gemacht: von denen, die sich dort drinnen befanden, war nichts zu sehen und zu hören.

Dark hatte seinen Chef geduldig erwartet. Nach wenigen Worten mit ihm führte Justus seinen Begleiter in das nach rückwärts gelegene Zimmer.

»Auf der Treppe ist mir ein Gedanke gekommen, Herr Millbank,« sagte Justus, nachdem er die Tür zugemacht hatte, »hier hinten heraus befindet sich eine Treppe, die an sämtlichen Bureaus vorbeiführt. Was in diesem Zimmer gesprochen wird, kann man draußen aus dem Vorplatz hören. Das wird wohl auch unten bei dem Bureau der Wapiti Gesellschaft der Fall sein. Die beiden werden nicht im anderen Zimmer sein, wie ich annehme, weil wir beim Hinaufgehen nichts von ihnen hörten. Befinden sie sich aber im Hinterzimmer, so wäre es möglich, daß man etwas von dem erfahren kann, worüber sie sich besprechen. Diese Hintertreppe wird nur von den Scheuerfrauen benutzt: man wird unten nicht vermuten, daß jemand lauscht. Sie werden mir beipflichten, daß es jetzt nicht an der Zeit ist, wegen der anzuwendenden Mittel übertrieben zartfühlend zu sein, und wenn Sie hier einige Minuten freundlichst warten wollen, so werde ich mich hinunterschleichen und horchen.«

»Gewiß will ich warten,« erwiderte Millbank, der sich die Lippen biß, als er sah, wie sich Wise vorsorglich seiner Stiefel entledigte, »aber lassen Sie sich nur nicht abfangen.«

Justus blieb kaum eine Viertelstunde fort; nachdem Millbank das Schnarchen Darks, das aus dem Privatbureau seines Chefs drang, lange genug mit angehört und sich auf einen Stuhl geworfen, wurde er in seinen wachen Träumen von Sophie und der glücklichen Vergangenheit durch das plötzliche Aufreißen der Tür geweckt.

Wise, noch ohne Stiefel, stürzte atemlos herein.

»Hören Sie denn gar nichts? Da unten gibts Mord und Totschlag!«

Millbank sprang auf. »Nein, ich habe nichts gehört. Mord, sagen Sie?!«

»Die Wände sind dick, aber horchen Sie doch nur.«

Während Justus noch sprach, wurde unten, und zwar in der Richtung nach dem vorderen Bureau, eine Tür heftig zugeschlagen. Justus eilte ans Fenster und öffnete es rasch.

»Sehen Sie doch,« rief er. Millbank war ihm nach vorn gefolgt und gewahrte einen Menschen, der in wilder Flucht aus der Haustür auf die Straße kam. Es war der Generalsekretär der Wapiti Gesellschaft; ohne Kopfbedeckung und seine Rockschöße flogen im Winde.

Eine Sekunde blickten sie nach; auch Dark, der durch die scharfe Stimme seines Prinzipals erwacht war, hatte sich ihnen zugesellt. Dann lehnte sich Wise so weit aus dem Fenster, daß er fast das Gleichgewicht verlor. »Nein, es ist richtig,« sagte er, den Oberkörper zurückziehend, »er ist ihm nicht gefolgt. Dark, laufen Sie so schnell Sie können. Ich muß wissen, wohin Wyvill flieht. Folgen Sie ihm und lassen Sie ihn sich nicht entgehen.

Dark gehorchte in militärischer Weise.

»Was ist geschehen? Wo ist der andere?« fragte Millbank.

Justus griff nach seinen Stiefeln, die er unter einen Stuhl gestellt hatte, und während er sie schnell wieder anzog, erholte er sich etwas.

»Offenbar im Bureau der Wapiti Gesellschaft. Wir müssen hinuntergehen und nachsehen. Vor ihm fürchte ich mich im übrigen garnicht, aber vor Wyvill. Der andere sieht recht ruhig aus, auch ist er nicht mehr jung, aber wenn er gereizt wird, muß er schrecklich sein. Vor wenigen Minuten hielt ich Wyvills Leben für sehr gefährdet. Sie zankten sich. Ueber was, konnte ich nicht hören. Ich fing nur hin und wieder ein Wort auf, bis der ältere seine Stimme erhob und auf Wyvill losging. Ich hörte, wie er die Möbel umwarf und wie Wyvill auswich und um sein Leben bat. Hinein konnte ich nicht, denn die Tür war verschlossen; sie haben mich gar nicht bemerkt. Ich stürzte dann wieder hinauf, da das doch der nächste Weg war, um Hilfe herbeizuholen. Wyvill hat sich aber noch schneller zu helfen gewußt. Wie der gelaufen ist! Jetzt ist alles still. Was mag dem andern passiert sein?«

»Lassen Sie uns nachsehen, Herr Wise.«

»Wir wollen die Vordertreppe hinuntergehen, die Tür wird jedenfalls offen sein.«

Sie eilten nach unten.

Wie Justus vermutet hatte, stand die Vordertür des Bureaus offen. Nachdem sie einen Augenblick gelauscht hatten, traten sie ein. Welch eine Verwüstung! Nicht ein Möbelstück, mochte es noch so schwer und kostspielig sein, stand an seiner Stelle. Papier und Holzsplitter bedeckten den Fußboden. Allenthalben war die Spur eines wütenden Handgemenges sichtbar: es befand sich aber niemand im Zimmer.

Justus trat an die Tür des hinteren Bureaus. Er wußte ja, daß die beiden Räume genau so lagen, wie die von ihm benutzten.

»Hier muß er drin sein. Das ist das Zimmer, das auf die Hintertreppe führt.«

Die Türklinke mußte aber in irgend einer Weise von innen beschwert sein, denn es gelang ihnen erst nach vieler Mühe, sie zu bewegen.

»Ich höre nichts.« stöhnte Justus, nach immer mit der Klinke beschäftigt. »Wenn er nun tot wäre?!«

Aber der Mann, der diese ganze Verwirrung angerichtet hatte, war nicht tot, er war gar nicht mehr da, denn als sie die Tür endlich geöffnet hatten, betraten sie ein leeres Zimmer.

»Er ist fort,« sagte Millbank.

»Wir haben ihn ja aber nicht gesehen,« entgegnete Justus, mit niedergeschlagenen Mienen den Raum betrachtend. »Hätte er Wyvill verfolgt, so würde er uns doch begegnet sein.«

Millbank war es ganz willkommen, nicht einem zweiten tragischen Fall gegenüberzustehen. »Er muß hinausgegangen sein, während wir hinunterstiegen, und deshalb verfehlten wir ihn.«

»Gewiß. Das kann aber nur geschehen sein, wenn er die Hintertreppe benutzte. Ei, sehen Sie doch, die Tür ist nicht mehr verschlossen.«

Sie traten auf den hinteren Vorplatz hinaus.

Es war ganz dunkel dort. Sie horchten.

»Ist er denn auf diesem Wege fortgekommen?« fragte Millbank.

»Nein, das ist nicht möglich, denn diese Treppe führt nur in den Keller, wie ich zufällig weiß, da ich bei einer anderen Gelegenheit hier hinunter ging. Um das Haus zu verlassen, muß er erst durch die Hintertür eines anderen Bureaus gegangen sein, oder –«

»Oder er ist hinaufgegangen.«

»Ei freilich, nach oben, vielleicht gar in Ihr eigenes Bureau, während wir hierher kamen. So wird es sein.«

Justus nickte zustimmend. »Ich erinnere mich, daß er sich, als er bei mir war, nach dieser Treppe erkundigte. Wir wollen schnell wieder nach oben gehen.«

Leise stiegen sie die Treppe hinauf.

»Unterwegs flüsterte Justus seinem Begleiter zu: »Sollte er bei mir sein, so verraten Sie nicht, wer Sie sind. Sie gelten einfach als ein Freund von mir. Wir wollen erst einmal sehen, was wir aus ihm herausbekommen, ehe Sie sich zu erkennen geben.«

»Sie haben recht,« entgegnete Millbank ebenfalls im Flüsterton. »Ich werde mich ganz still verhalten und alles Ihnen überlassen. Es kommt mir vor, als hörte ich ihn oben.«

Waren sie nun auch beide sicher, den Unbekannten oben zu finden, so überraschte sie doch die Stellung, in der sie ihn beim Eintritt in das Bureau von Wise erblickten: er kniete am Boden und blickte in den Schornstein des Kamins hinauf.


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