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Kapitel 7.

Ungelichtetes Dunkel

Am nächsten Tage stellte sich Justus Wise schon früh in seinem Bureau ein, wo er eine Antwort von seiner Schwester vorfand.

Justus hatte vor ihr, die eine geschäftskundige Dame mit strengen Gesichtszügen war, einen ziemlichen Respekt.

»Mein lieber Justus!« (lautete der Brief):

»Ich freue mich außerordentlich, daß Du so gute Aussichten hast und daß es Dir gelingt, Dein Talent von jetzt ab besser zu verwerten als bisher. Auch ist es mir lieb, die Rückzahlung der £ 49.11 sh. 6 d., die Du mir schuldest, bald erwarten zu können. Endlich betrachte ich es als einen sehr glücklichen Umstand, Dir die gewünschte Auskunft geben zu können, ohne erst Nachforschungen anstellen zu brauchen, die mühsam gewesen wären und denen ich mich schwerlich hätte unterziehen können.

Es trifft sich also sehr gut, daß ich Fräulein Gertie Tillet genau kenne, da sie seit vielen Jahren meine Kundin ist. Da sie nun zu den jungen Damen gehört, die ihren Mund nicht einen Augenblick geschlossen halten können, mit Ausnahme der Zeit, wo sie meine besonders präparierte Lippensalbe aufgelegt hat, so sind mir ihre Privatangelegenheiten bekannt, die mich zwar wenig interessieren, da ich mich um mein Geschäft bekümmere, das mir wichtiger ist. West hat ihr schon seit langer Zeit den Hof gemacht und eine Menge Geld für sie ausgegeben. Der alte Narr ist in sie stark verliebt und möchte sie heiraten, sie kann sich aber nicht dazu entschließen. Sie hat es ganz gern, wenn er ihr von seiner Liebe viel vorschwatzt, aber sie will sich jetzt noch nicht binden und vor allem die Bühne nicht verlassen, worauf er im Falle einer Heirat bestehen würde, wie sie weiß. Ueber seine finanzielle Lage hegt sie seit einiger Zeit gewisse Zweifel und hat merkwürdigerweise mich deswegen um Rat gefragt. Soweit ich mich darüber erkundigen konnte, befindet sie sich da im Irrtum, denn West ist ein sehr vermögender Mann, was Du aber selbst wohl besser in Erfahrung bringen kannst als ich. Sie meint, er habe gerade jetzt große Sorgen, die ihn bedrücken, deshalb sei er auch vor wenigen Tagen mit der Frage an sie herangetreten, ob sie mit ihm aus England fortgehen möchte. West hat eine sehr hübsche und gute Tochter, die mit einem jungen Mann namens Millbank verlobt ist. West soll einst mit einem Millbank assoziiert gewesen sein, der ihn beschwindelt hat und deshalb vor zwanzig Jahren ins Zuchthaus mußte, wo er gestorben sein soll. Ob dieser junge Mann mit dem ehemaligen Partner von West verwandt ist, weiß ich nicht. Was ich sonst über West erfahren habe, läßt mich glauben, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach ein größerer Schwindler gewesen ist als sein Partner und der weniger Schlaue den Kürzeren zog. Jedenfalls ist der Verlobte von Fräulein West ein sehr netter Mensch und er und das Mädchen geben ein recht hübsches Paar ab. Genügt Dir das nun? Sollte ich noch mehr erfahren, so lasse ich Dich es gern wissen.

Deine Dich liebende Schwester
»Clem.«

Justus las diesen Brief mehrere Male, ehe er ihn in die Tasche steckte, und dann saß er da und kaute an seinem Federhalter. Er legte sich die Frage vor, ob es Georg Millbank wohl bekannt war, daß der einstige Partner von West, den dieser ins Zuchthaus gebracht hatte, des gleichen Namens gewesen. Die Tatsache konnte einiges Licht auf das sonderbare Benehmen West's gegen den Verlobten seiner Tochter werfen. Was er von Millbank gesehen, ließ ihn daran zweifeln, daß jenem die Geschichte mit dem früheren Partner Millbank bekannt war, obgleich sich Justus kaum selbst erklären konnte, weshalb er das eigentlich bezweifelte. Es stand für ihn fest, daß er das herausbekommen mußte, um weitere Klarheit in die Angelegenheiten zu bringen. Georg Millbank war noch ein Kind, als sein Namensvetter oder Verwandter ins Zuchthaus mußte, deshalb ist es leicht erklärlich, daß ihm die Sache unbekannt geblieben ist. Ob er sich heute wohl pünktlich einfinden wird?

Darüber brauchte Wise nicht lange im Unklaren zu bleiben, denn schon zu früher Stunde meldete Dark ihm, daß Herr Millbank im Vorzimmer sei.

Der Eintretende erschien blasser und schmaler als Justus ihn bisher gesehen, aber seine vornehmen Gesichtszüge prägten eine große Entschlossenheit aus und die starken Gemütsbewegungen, die ihn erregt hatten, waren nicht ohne tiefen Eindruck auf ihn geblieben.

»Ich weiß es selbst nicht, woher es kommt, aber ich habe diesen jungen Mann herzlich gern,« sagte sich Justus, als er sich verbeugte und ihm einen Stuhl anbot.

»Nun, mein verehrter Herr Millbank. wie geht es Ihnen heute und was wissen Sie Neues?«

Vermutlich hatte er genau die Frage gestellt, die auf Millbanks Lippen schwebte, aber dieser erwähnte es nicht und begegnete den scharfen Blicken des Agenten.

»Nicht allzuviel, Herr Wise. Ich hatte nur einen Brief von Soph – von Fräulein West.«

»Also! Darf ich fragen, ob darin eine Aufklärung über das Benehmen ihres Vaters enthalten war?«

»Keineswegs. Sie selbst kann es nicht begreifen. Es bleibt ihr ebenso unerklärlich wie mir, doch sie schreibt mir, daß sie mir gegenüber stets die gleiche bleiben wird und mir vollkommen vertraut. Bei Gott, sie ist ein Engel, Herr Wise.«

»Sicher ist sie das,« lächelte Justus. »Es ist hübsch von ihr, Ihnen so zu schreiben, wirklich sehr hübsch von ihr. Und sie kann für die sonderbare Handlungsweise ihres Vaters keinen Grund angeben?«

»Keinen.«

»Und Sie selbst haben bei längerem Nachdenken auch keinen Grund gefunden?«

»Nein. Jemehr ich darüber nachgedacht habe, desto tiefer scheint mir der Schlüssel zu dem Geheimnis zu liegen.«

»Ganz recht. Ich bin indeß einer Lösung auf der Spur.«

»Georg Millbank blickte rasch auf. »Wirklich?«

»Ja. Indeß halte ich es für verfrüht, sie jetzt schon preiszugeben. Sie müssen mir vertrauen. Entschuldigen Sie übrigens die Frage, leben Ihre Eltern noch?«

»Ich glaube nicht. Es klingt sonderbar, doch weder meinen Vater noch meine Mutter erinnere ich mich, jemals gesehen zu haben. Ich bin in Südafrika geboren, von wo ich in sehr jungem Alter nach England gebracht wurde. Eine alte Tante erzog mich und hinterließ mir ihr Geld, als sie starb. Sie hat nur niemals von meinen Eltern gesprochen; es war mir auch nicht möglich, mich über sie zu informieren.«

»Darf ich fragen, wie Sie mit Herrn und Fräulein West bekannt geworden sind?«

»Durch meine Tante. Herr West war seit vielen Jahren mit ihr befreundet und so kenne ich ihn und seine Tochter seit meinen Knabenjahren.«

»Und Herr West hat sich stets sehr freundschaftlich gegen Sie benommen, bis auf die letzten Wochen?«

»Stets.«

»In den letzten Wochen war es auch, daß er den Besuch eines Fremden erhielt, mit dem er eine heftige Auseinandersetzung hatte?«

»Ja.«

»Und nach dem Streit verschwand er?«

»Ja, das ist wahr, aber –«

»Da es nun keine andere Erklärung für sein Verhalten gegen Sie zu geben scheint, so wäre es doch möglich, sogar wahrscheinlich, daß zwischen seinem Auftreten gegen Sie und den von Ihnen erzählten Ereignissen ein gewisser Zusammenhang besteht.«

Millbanks Stirn furchte sich. »Wie soll das möglich sein? Dieser geheimnisvolle Mensch, der zu Herrn West kam. ist mir vollständig fremd.«

»Sind Sie dessen sicher? Haben Sie ihn gesehen?«

»Nein, doch der alte Butt beschrieb Sophie, wie er aussah, und sie erzählte mir das wieder. Ich kenne ihn nicht.«

»Wie hat er denn ausgesehen?«

»Es war ein ganz alltäglicher Mensch, ungefähr fünfzig Jahre alt, mit grauem Haar, glatt rasiert, sehr breitschultrig und mit ungewöhnlich langen Armen.«

Für Wise war das eine genaue Schilderung seines Kunden vom Tage vorher, des Mannes, der ihn beauftragt hatte, Georg Millbank zu suchen. Abermals ein Zufall, der ihn überraschte und ihn zugleich vor die Entscheidung stellte, ob er Millbank von diesen Dingen Kenntnis geben sollte. Er entschloß sich für einen Aufschub, weil er als vorsichtiger Mann seine Chancen nicht aus der Hand geben wollte, zumal diese sich auf mancherlei Weise noch weiter entwickeln konnten. Erst wenn er bestimmt wußte, daß sein Besucher vom Vortage mit dem Manne identisch war, der West bedroht hatte, wenn er erfahren hatte, welche Beziehungen jenen, den Finanzmann und Millbank verknüpften, war es ratsam, die Mine springen zu lassen, jetzt noch nicht.

Er wollte die Unterredung mit Millbank auf ein anderes Thema lenken, als Dark nach kurzem Anklopfen ins Zimmer trat.

Er hielt ein Zeitungsblatt in der Hand, und während er anscheinend nach einigen Schriftstücken suchte, war er bestrebt, die Aufmerksamkeit seines Prinzipals auf die Zeitung zu lenken. Das machte er recht ungeschickt.

Justus biß sich auf die Lippen und warf einen raschen Blick auf Millbank, der glücklicherweise von den Gebärden des Schreibers gar keine Notiz nahm.

»Ist das die heutige Abendausgabe?« fragte Justus und streckte die Hand aus. »Entschuldigen Sie einen Augenblick, Herr Millbank. Ich wollte nur 'mal sehen, zu welchem Kurse heute Union Pacifics bei Eröffnung der Börse notiert wurden.«

Dark wies mit dem Daumen auf eine Stelle im Abendblatte und Justus las:

»Gräßlicher Mord: Eine Leiche in der Themse gefunden. Identifiziert.«

Mit großen Lettern bildeten diese Worte die Ueberschrift zu nachfolgender Notiz, die der Agent mit hastigen Augen verschlang:

»Die Leiche eines Mannes, der etwa fünfzig Jahre alt gewesen sein mag, wurde Donnerstag in der Themse gefunden, unter Anzeichen, die mit Sicherheit auf ein furchtbares Verbrechen schließen lassen. Sie war in dem Leichenschauhause von St. Giles ausgestellt und ist nunmehr als die Leiche eines südafrikanischen reichen und angesehenen Herrn erkannt worden, der sich in England eine Zeitlang aufgehalten hat. Der Name des Ermordeten ist Dunton. Man glaubt, daß er an verschiedenen Londoner großen Unternehmungen beteiligt gewesen ist. Es heißt, daß die Polizei dem Täter aus der Spur ist.«

Sollte sich das so verhalten, dann mußte Justus Näheres darüber erfahren. Er zerknitterte das Blatt und schaute zu Millbank hinüber, der ihn überrascht betrachtet hatte.

»Es tut mir leid, Herr Millbank, aber ich muß Sie bitten, mich jetzt zu entschuldigen. Ich habe einen notwendigen Gang zu machen, denn ich las hier eben etwas, was mich aufs höchste interessiert. Schade, daß wir unsere Unterredung abbrechen müssen, wenn es Ihnen aber angenehm ist, können wir ja eine Strecke Wegs zusammengehen und weiter plaudern.«

Georg Millbank verbeugte sich. »Gewiß, sehr gern. Ich habe sonst nichts zu tun. Ich gehe mit Ihnen, wohin Sie wollen.«

»Dann kommen Sie. Ich – wirklich die Sache ist sehr brennend. Ich danke Ihnen, Dark, Sie hatten recht, mir das zu zeigen.«


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