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Kapitel 10.

Entwischt

Sobald der Fremde die beiden Eintretenden hörte, sprang er sofort auf und stand kerzengerade vor ihnen. Seine Augen mit dem eigenartigen Ausdruck, dessen sich Justus so gut erinnerte, ruhten sekundenlang auf Millbank und wandten sich dann zu Wise. Man sah, daß er Wise wiedererkannte. Offenbar war er sehr bestürzt, denn er atmete schwer. Er raffte sich indeß zusammen, und um seine Verlegenheit zu verbergen, griff er nach dem drastischen Mittel, mit lautem Geräusch sein Taschentuch zu benutzen.

»Guten Tag, Herr Wise.« sagte er langsam. »Ich bin hier hineingekommen, obgleich niemand anwesend war. Die Tür stand offen. Es war mir, als hörte ich in Ihrem Rauchfang ein Geräusch.«

Justus sah in scharf an. »Glaubten Sie, daß sich dort jemand aufhalten könnte?«

Die Augen des Fremden flackerten. Trotz der Bronzefarbe seiner faltigen Wangen konnten sie beide bemerken, wie blaß er wurde, doch hielt er den Blicken von Wise stand.

»Na, das habe ich nun gerade nicht vermutet.« entgegnete er leichthin, »aber ich dachte bestimmt, es fiele von dort etwas herunter. Es wird wahrscheinlich nur Ruß gewesen sein. Man sieht ja hier deutlich, daß Ruß unlängst hinunter gefallen sein muß.«

Justus sah aus die Spuren am Boden und er bildete sich ein, dort auch die Leiche des korpulenten Mannes mittleren Alters wieder zu sehen, mit der furchtbaren Wunde am Hinterkopf, geradeso wie er daran zurückdachte, als er und Dark sich über die Leiche gebeugt hatten.

Eine Spanne Zeit, wie man Atem holt, blickten sich die beiden starr in die Augen. Millbank, für den die Szene keine Bedeutung hatte, beobachtete überrascht die beiden Männer.

Nun brach der Fremde das Schweigen.

»Sie werden sich meiner erinnern, Herr Wise. Ich besuchte Sie vor einigen Tagen in einer Geschäftsangelegenheit. Ich sehe aber, daß Sie Besuch bei sich haben – vielleicht berufsmäßig in Anspruch genommen sind?«

»Keineswegs,« erwiderte Wise, der sich plötzlich aus die zwanzig Pfund Sterling besann, die er von dem Fremden erhalten und daran dachte, mit welcher Leichtigkeit sich jener von dem Gelde getrennt hatte. »Dieser Herr ist – nimmt mit mir an einer Angelegenheit teil. Sie können in seiner Anwesenheit ganz offen mit mir sprechen.«

Seufzend warf der Unbekannte einen Blick auf Millbank. »Ach.« sagte er. »ich hoffte – aber das macht nichts. Ich will Sie nicht länger aufhalten; mein Geschäft ist sehr kurz. Ich ersuchte Sie jüngst, jemand für mich aufzusuchen. Das ist jetzt nicht mehr nötig.«

»Nicht mehr nötig?«

»Nein. Ich will Sie in der Sache nicht länger bemühen. Ich stehe im Begriff, England sehr bald zu verlassen.«

»Sie wollen England verlassen?« Die Augen von Justus schlossen sich fast hörbar.

»Ja. Ich gehe sehr bald fort,« wiederholte der Gefragte und abermals begegneten sich die Blicke der beiden Männer im stummen Kampfe. Aber der Fremde hatte sich inzwischen von seiner Verwirrung gänzlich erholt, und wie er nun mit seinen breiten Schultern und langen Armen vor ihm stand, fühlten Wise und Millbank deutlich heraus, daß dieser Mann alles vollführen würde, was er sich einmal vorgenommen, und daß es jedem schlecht erginge, der sich seinen Absichten in den Weg stellen wollte.

Nach einer kurzen Weile fuhr er langsam und stumpf fort: »Ja. ich sehe mich genötigt, meinen ursprünglichen Plan zu ändern und andere Vorkehrungen zu treffen, als früher beabsichtigt. Ich vermute, daß Sie bereits einige Mühe und Kosten in der von uns besprochenen Sache gehabt haben, so daß der Ihnen geleistete Vorschuß damit beglichen ist. Es ist möglich, daß ich später einmal zu Ihnen zurückkomme und Sie bitten werde, die Nachforschungen wieder aufzunehmen, augenblicklich ist nichts weiter nötig.«

Justus nickte schweigend.

»Nein,« fuhr jener fort. Außerdem möchte ich Sie ersuchen, Ihre ferneren Erkundigungen einzustellen und daß meine Besuche bei Ihnen überhaupt unter uns« – mit einem Blick auf Millbank – »dreien bleiben. Und jetzt, Adieu.«

»Sie wollen mir Ihren Namen und Ihre Adresse nicht geben, falls –«

»Das wäre zwecklos, da ich keinen festen Wohnsitz habe, mein Name kann Sie nicht interessieren.«

Justus bebte vor Erregung, er öffnete den Mund, um zu sprechen, doch der Fremde hatte sich mit einer Verbeugung umgedreht und war gegangen.

Justus machte einen Schritt hinter ihm her und blieb dann stehen. Was konnte er ihm sagen? Nun wandte er sich an Millbank.

»Das ist ja aber Torheit.« rief er. »Wir werden ihn verlieren. Was sollen wir tun?«

Millbank drückte die Erregung Wises nieder. »Ich wüßte nicht, wie wir ihn mit Gewalt zurückhalten können. Aber für wen halten Sie ihn denn? Weshalb sind Sie so darauf versessen, ihn festzuhalten?«

»Weshalb? Weshalb? Weil er Dunton ermordet hat. Ich bin dessen ganz sicher, er ist es gewesen und nicht West – oder er mit West zusammen. Jedenfalls soll er nicht entkommen.«

Er flog zur Tür, Millbank folgte ihm. Sie kamen in das erste Bureau und erreichten die Tür. die auf die Treppe führte, wie zwei Wahnsinnige, und gerade als Justus auf die Klinke faßte, konnten sie den festen Schritt des Mannes hören, der draußen die Treppe hinabschritt. Dieses Draußen machte für sie aber alles aus.

»Da ist er ja noch auf der Treppe.« rief Millbank. »Ich höre ihn deutlich. Oeffnen Sie doch die Tür. Herr Wise.«

Wise ächzte. »Das täte ich gern, aber die Tür ist verschlossen und der Schlüssel steckt von draußen. Das hat der Bösewicht getan und nun entwischt er uns.«

»Ziehen Sie doch.« rief Millbank jetzt auch ganz außer sich. »Wir werden ihn noch bekommen.«

Mit vereinten Kräften arbeiteten sie an der Tür. Endlich gab die Klinke nach und sie taumelten rückwärts. so daß sie fast aufeinander gefallen wären.

»Wie töricht von mir, so die Zeit vergeuden.« schrie Justus und stürzte zur Schieblade seines Schreibtisches. »Wo habe ich denn meine Kneifzange? Das Ende des Schlüssels kommt ja durch.«

So war es. Der lange, altmodische Schlüssel ragte noch ziemlich weit über das Schloß nach innen hinaus. Nachdem er seine Zange gefunden, packte Justus das Schlüsselende damit. Seine Hände waren stark und die Kneifzange griff fest. Das Eisen knirschte, ein Abgleiten folgte, dann ein abermaliges Fassen, wieder ein Knirschen, der Schlüssel drehte sich. Die Tür war ohne Schloß und doch noch versperrt.

»Verd...!« wütete Justus. »Wir haben ja die Klinke abgedreht. Wo ist sie, schnell – schnell.«

Millbank suchte sie; sie war fortgerollt und er setzte sie wieder an.

»Gott sei Dank! Endlich hinaus.«

Und sie klapperten die Steintreppen hinunter.

Aber das Geräusch, das die Schritte des Fremden verursacht hatten, war schon längst nicht mehr zu ihnen heraufgedrungen und weder auf der Treppe noch auf der Straße bemerkten sie ein Spur von ihm.

Sie sahen nach rechts, nach links.

Die Dämmerung hatte schon eingesetzt und in dem schwächeren Licht, zwischen dem Gedränge der Menschen, die von ihren Arbeitsstätten heimwärts strömten, war er verschwunden.


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