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Kapitel 1.

Eine merkwürdige Entdeckung

»Justus Wise, Privat-Agent, vom Hofe und einem hohen Adel protegiert und viel in Anspruch genommen.«

(Haben Sie das? Dann fahren wir in Briefform fort: –)

»Sehr geehrter Herr (oder gnädige Frau):

Haben Sie ein Geheimnis? Gibt es etwas in Ihrem Leben, von dem Sie wünschen, daß es Ihre Gattin (oder Ihr Gatte), Ihr Vater oder Ihre Mutter oder Ihr liebster Freund nicht erfahren? Haben Sie vielleicht in einem schwachen Augenblick eine Handlung begangen, deren Folgen oder auch schon die Furcht, daß sie ans Tageslicht gezogen werden könnte, einen Schatten auf Ihre Existenz werfen und Ihnen das Leben zur Last machen können? Haben Sie vergeblich versucht, gegen diese Furcht anzukämpfen, haben Sie auch vergebliche Anstrengungen gemacht, sich dieser Angst ganz zu entschlagen oder sich durch das Eingeständnis Ihres Vergehens zu erleichtern? Und nachdem sich herausstellte, daß Ihnen keiner dieser Auswege möglich gewesen, sind Sie da nicht in die Qualen der Verzweiflung zurückgesunken? Gehen Sie dann zu Justus Wise, 142, Berkland Straße, SW., zweiter Stock. –«

»(Sie ändern das besser in vierten Stock! Daß es nahe unterm Dach ist. wird nichts schaden. Also weiter:)«

»Schellen Sie zweimal und treten Sie ein. Haben Sie einen offenen oder unbekannten Feind, der Ihnen das Leben verbittert, empfingen Sie einen anonymen Brief, befürchten Sie, daß jemand, der Ihnen nahesteht und Ihnen teuer ist, Sie hintergeht, haben Sie irgendwelche Sorgen oder leiden Freunde von Ihnen unter Sorgen? Dann ziehen Sie Justus Wise zu Rate. Wollen Sie sich mit Ihren Gläubigern verständigen? Taten Sie unter dem Druck der Verhältnisse etwas, was jene besser nicht sogleich erfahren? Brauchen Sie Geld für ein neues Unternehmen, ohne daß Sie sich an Ihre gewohnten Hilfsquellen wenden möchten? Sind Sie einem Erpresser in die Hände gefallen? Kurz gesagt, befinden Sie sich in irgend einer Schwierigkeit und bedürfen Sie zu welchem Zwecke immer eines Vertrauensmannes, so gehen Sie zu Justus Wise. Er ist ein Gentleman von Geburt und Empfindung und, mag eine Angelegenheit noch so heikel sein, die Verhandlungen mögen noch so großer Geschicklichkeit und Erfahrung (Justus Wise stehen langjährige Erfahrungen zur Seite), noch so strenger Verschwiegenheit und noch so viel an Takt und Umsicht bedürfen (Justus Wise haben Hof und Hochadel ihr Vertrauen geschenkt), Sie können wirklich nichts besseres tun, als Justus Wise aufzusuchen. Wenn etwas zu machen ist, so macht es Justus Wise. Mögen die Dinge auch noch so dunkel ausschauen, die Verwicklung unlösbar erscheinen, die Gefahr noch so gewaltig drohen, Erfahrung und Geschicklichkeit, wie sie Justus Wise besitzt (laut Ausweis seiner Zeugnisse), finden einen Ausweg, wo es Ihnen in Ihrer Angst unmöglich dünkt, daß es überhaupt noch einen Ausweg gibt.«

»Wir wollen zunächst tausend Exemplare hiervon hinausgehen lassen. Ich werde Ihnen die Adressen geben. Sie müssen das Rundschreiben selbst austragen, das stellt sich billiger als die Postbeförderung. Ich denke, das muß ziehen. Es muß ziehen. Unser Inserat hatte keinen Erfolg, weil es nicht klar genug war. Ich bin aber überzeugt, das hier muß Erfolg haben, Dark.«

»Und wenn nicht, Herr Wise?«

»Wenn nicht, Dark? Wenn nicht, nun dann werde ich mir etwas anderes ausdenken. Der Wirt hat uns erlaubt, hier auf vierzehn Tage hinauf zu ziehen. Das ist keine allzugroße Gefälligkeit, denn es ist ihm trotz seiner Bemühungen ja nicht gelungen, diese Zimmer anderweitig zu vermieten. Nachdem die zwei Wochen verstrichen sind, dauert es mindestens noch acht Tage länger, bis er uns los wird. Und in drei Wochen kann sich vielerlei ereignen. Es ist hier übrigens verzweifelt kalt, Dark. Können Sie nicht nebenan einheizen? Es ist doch noch ein Rest Kohlen vorhanden?«

Während sein Angestellter seinem Wunsche entsprach, nahm Justus Wise das soeben von ihm diktierte Rundschreiben zur Hand und las es mit offensichtlicher Befriedigung noch einmal durch. –

Wise war ein Mann von mittlerer Größe, etwa fünfundvierzig Jahre alt und sehr sorgfältig gekleidet. Alles glänzte an ihm, vom Hut hinab bis zu den blank gewichsten Stiefeln, selbst sein schwarzer langer Schnurrbart und seine Zähne, die künstlich waren, blendeten fast mit ihrem Weiß das Auge. Seine Nase hatte etwas von einem Habicht-Haken und seine sehr scharfen, ruhelos umherschweifenden Augen, die alles zu durchforschen schienen, konnten auch den allgemeinen angenehmen Eindruck nicht abschwächen, den man von ihm empfing und der sogleich das Gefühl erweckte, daß ihn das Schicksal wohl glimpflicher hätte behandeln können.

»Wenn dieses Rundschreiben an sämtliche Mitglieder des Carlton- und des Athenaeum-Clubs geht, so könnte es den Beginn eines glücklichen Unternehmens bedeuten,« sagte sich der Agent, indem er das Papier mit seinem spitzen Zeigefinger berührte, »aber das kann ich für den Augenblick gar nicht durchführen. Ich muß mir einige Adressen heraussuchen und dem Zufall vertrauen, wenn der mir nur zu etwas Kleingeld oder dem ersten Kunden rasch verhelfen möchte. Pfui! Was ist denn mit dem Feuer los?«

In seine Zukunftsgedanken vertieft, hatte Wise gar nicht bemerkt, wie sich das Nebenzimmer allmählich mit Rauch füllte, bis ihn das Eindringen einer besonders dicken und schweren Rauchwolke veranlaßte, sich nach der Ursache umzusehen.

»Was machen Sie denn mit dem Feuer?« fragte er beim Betreten des kärglich möblierten Zimmers sehr erbost. Der Schreiber, ein stramm gewachsener Mann, dem man seinen früheren Soldatenstand ansah, beugte sich über das Kamingitter und hustete heftig.

»Ich kann es mir gar nicht erklären, wie das zugeht,« meinte der Diensteifrige. »Vielleicht ist hier lange Zeit nicht geheizt worden oder das Rohr muß verstopft sein. Der Rauch zieht nicht gut ab.«

»Gut abziehen!« spottete der Agent zwischen zwei Hustenanfällen. »Er zieht überhaupt nicht ab. Ich werde mich beim Hauswirt darüber beschweren – später. Der Schornstein ist sicherlich verstopft. Sehen Sie doch 'mal hinauf, Dark. Können Sie nichts entdecken?«

Gehorsam krümmte und wandte sich der Schreiber, um in den Schornstein hinauf zu blicken.

»Da steckt 'was, glaube ich.« sagte er nach einer Minute.

»Natürlich, da muß 'was stecken. Können Sie es nicht herausholen? Was ist es denn?«

Dark machte einen neuen Versuch, sich um die Eisenstange durchzuwinden, des Feuers und Rauches gar nicht achtend. Dann aber zog er den Kopf rasch zurück. Sein Gesicht war leichenblaß.

»Nun. was ist es?«

»Es sieht aus, Herr Wise – es sieht wie ein Paar Stiefel aus.«

»Ein Paar Stiefel. Na, ziehen Sie sie doch heraus!« Und da Dark zauderte, wiederholte der Agent seinen Befehl in schärferem Tone.

Dark legte wie entschuldigend die Finger auf den Mund, bückte sich nieder und blickte nochmals in den Schornstein hinauf. »Ich glaube, wir löschen erst das Feuer, ehe wir die Stiefel hinunter ziehen,« meinte er.

Wise starrte ihn an.

»Das Feuer löschen? Wozu das? Um ein Paar Stiefel hinunter zu ziehen?«

»Ja, Herr Wise. Ich glaube – ich glaube, es steckt 'was darin.«

Der Agent sah dem anderen in das blasse Gesicht und wechselte dann selbst rasch die Farbe.

»Großer Gott! Sie wollen doch nicht sagen, daß ein Körper im Schornstein hängt?!«

Dark nickte und feuchtete sich die Lippen. Beide sahen sich niedergeschlagen an. ohne daß einer ein Wort zu sprechen wagte.

Wise faßte sich zuerst.

»Holen Sie mal rasch etwas Wasser, Dark, draußen an der Treppe hängt ein Feuereimer. Was es auch sein mag, wir müssen es doch hinunterschaffen. Aber, daß es ein Körper ist, kann ich doch nicht glauben. Sie irren sich. Wie sollte so 'was wohl möglich sein?«

Trotzdem trat er an die entgegengesetzte Seite des Zimmers, während Dark das Wasser holte, und betrachtete den Kamin mit scheuem Blick. Er zwirbelte nervös an seinem Schnurrbart.

Das Feuer war bald gelöscht, und nachdem der Rauch sich verzogen hatte, beugte sich Dark abermals, um den Schornstein zu durchforschen. Dann streckte er seinen kräftigen Arm aus und zerrte an einem Gegenstand, der den Blicken noch unsichtbar blieb.

»Jetzt kommt es,« sagte Dark plötzlich.

Wise sprang schnell einen Schritt zurück.

»O, du mein Himmel!« rief er. und während er noch sprach, glitt eine schwere Masse ins Zimmer hinunter.

Als sie auf dem Fußboden aufschlug, sprang auch Dark zurück: sein Brotherr flüchtete sich in die entfernteste Ecke.

Nach einer Weile traten sie dann aber beide wieder vor und besahen sich, was vor ihnen lag: Es war der mit Asche und Ruß bedeckte Leichnam eines Mannes.

Er mochte etwa fünfzig Jahre alt gewesen sein. Dem kostspieligen Anzug nach zu urteilen, war es ein stattlicher, wohlhabender Kaufmann aus der City. Die Gesichtszüge waren durchaus nicht entstellt, man hätte glauben können, daß er schlief.

Die beiden standen wie gelähmt vor der Leiche und schienen völlig ratlos.

»Das ist eine nette Bescherung.« sagte Wise endlich, ohne selbst zu wissen, was er sprach. »Ein Toter im Kamin! Was kann das zu bedeuten haben, Dark? Wie mag er hergekommen sein? Wer kann das sein?«

Dark hatte sich ebenfalls vom ersten Schrecken erholt und beschäftigte sich nun mit der Unempfindlichkeit eines alten Soldaten damit, den Leichnam zu untersuchen. Bei den Fragen des Agenten sah er empor.

»Was das zu bedeuten hat, – Mord!« antwortete er und sein erschreckter Blick begegnete den starren Augen des Agenten. »Sehen Sie sich diese Wunde am Hinterkopf an; es ist nur ein Schlag, der hat aber genügt. Gewiß, es kann sich nur um einen Mord handeln. Dann muß man den Toten in den Schornstein hinausgezogen haben.«

Bei dem Worte Mord wurde der Agent noch um einen Schatten bleicher und den Handbewegungen Darks mit den Blicken folgend, zog er sich von dem Leichnam noch weiter zurück.

»Mord!« rief er. »Gott im Himmel, das ist ja furchtbar, das ist ja entsetzlich, mein Geschäft wird vollständig ruiniert. Ein Ermordeter im Bureau eines Privatagenten? Was werden die Leute von mir denken? Zwar sind wir erst zwei Tage hier, aber – Dark, Sie sind Soldat gewesen, Sie müssen ja in solchen Dingen bewandert sein – wie lange ist er Ihrer Meinung nach schon tot?«

»Seit drei oder vier Tagen, möchte ich behaupten. Der Leichnam muh schon hier gewesen sein, als wir kamen.«

»Großer Gott! Wie gräßlich. Ich muß – ja. was soll ich denn eigentlich tun?«

»Soll ich Lärm schlagen. Herr Wise? Die Polizei benachrichtigen?«

»Die Polizei?«

Herr Justus Wise biß sich auf die Lippen und zauderte. Wahrscheinlich hatten sich im Laufe seiner lebenslangen Erfahrungen Dinge begeben, die ihn bestimmten, nicht allzu rasch die Aufmerksamkeit dieser »edlen« Körperschaft wieder einmal auf sich zu lenken. Nach einem Augenblick meinte er: »Wir wollen 'mal sehen. Ich muß mir das erst überlegen. Natürlich haben wir die Behörde in Kenntnis zu setzen, indeß spielen dabei wenige Minuten Aufschub keine Rolle. Lassen Sie mich nachdenken.« Er zwang sich dazu, an den Toten noch einmal näher heran zu treten und betrachtete ihn genau. »Wer das wohl sein mag?« murmelte er vor sich hin. »Elegant gekleidet, jedenfalls jemand, dem es sehr gut erging; für einen umsichtigen, schlauen Menschen, wie ich es bin, kann sich die Sache schließlich noch als ein Glück erweisen, man muß nur den vernagelten Geschöpfen von Scotland Yard einen Vorsprung abgewinnen. Ja, ja, es kommt darauf an, ob wir herausfinden. wer es war.«

»Macht es Ihnen nichts aus, Dark, so könnten Sie doch 'mal – es wird ja kein Raubmord sein, – Allmächtiger, da ist jemand vor der Tür!«

Die Hand des Schreibers befand sich bereits in der Brusttasche des Toten, der Agent beugte sich voll Eifer darüber, als ein plötzliches Geräusch sie beide erstarren ließ. Ratlos sahen sie sich an.

Nun wiederholte sich das Geräusch und es konnte kein Zweifel mehr darüber sein, was es war: an die Außentür des zweiten Bureaus wurde stark geklopft.


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