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Kapitel 4.

Im Boudoir der Schauspielerin

Auch der folgende Morgen brachte kein Licht in die Begebenheiten, die dem Privatagenten am Vortage zugestoßen waren. Deshalb zankte Justus Wise zwei Stunden seinen Schreiber aus und durchmaß sein Bureau gleich einem der Beute beraubten Tiger.

Endlich machte sich das ihm angeborene geschäftsmäßige Temperament doch wieder geltend. Gewiß, das Schicksal hatte ihn gestern wieder schändlich behandelt, aber hatte er nicht so viele Jahre wider das Schicksal angekämpft und war doch nicht immer ganz unterlegen? War denn alles verloren? Sollten alle seine goldenen Träume von gestern in nichts zerrinnen?

Er setzte sich nieder, betrachtete die aufgehäuften Rundschreiben und versuchte, ruhig nachzudenken. Und seine Gedanken klärten sich.

Es war richtig, er hatte seinen »ersten Klienten«, den liebenswürdigen jungen Herrn mit dem eigenen Vermögen verloren, der stattliche geheimnisvolle Leichnam war ihm fortgenommen worden, aber der junge Herr hatte ihm doch zwanzig Pfund Sterling hinterlassen und deren Rückgabe in seiner Depesche mit keinem Worte erwähnt. Und der Tote? Zwar verschwunden, ihm von jemand entrissen, dessen Geschicklichkeit Justus Wise verdroß, die er aber zugleich bewunderte. Es war aber eine Leiche gewesen, – die Leiche eines nicht gewöhnlichen Mannes und dafür verbürgte sich Justus Wise, sonst wollte er sich selbst einen Narren schelten.

Ein Mann von einer gewissen Bedeutung aber, ein reicher in Ansehen stehender Mann kann nicht auf lange Zeit verschwinden, ohne daß diese Tatsache die Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Verwandte, Geschäftsfreunde, Bekannte stellen Erkundigungen an und dem, der von der Sache auch nur etwas weiß, fließt Geld zu. Justus Wise wußte etwas. So war noch nicht alles verloren, wenn er nur die Augen offenhielt. Zwar sah Justus Wise in Wirklichkeit am besten, wenn er die Augen halbgeschlossen hielt, aber er verstand die Redewendung richtig auszulegen.

Er gab Dark die Weisung, das Bureau zu hüten, setzte seinen glänzenden Hut auf, zog seine Glacéhandschuhe an und ging hinaus.

Auf der Treppe blieb er stehen und besah sich die Tür des Bureaus, die ihm gegenüber lag. Auf diesem Stock hatte er gestern an der Hintertür gestanden und sich diese betrachtet. Auch die vordere Tür verriet ihm nichts anderes, als das, was er schon wußte, wer das Bureau innehatte: »Das Wapiti Syndikat, Limited, eingetragene Genossenschaft. S. Wyvill, Generalsekretär.«

Gestern hatte er doch geglaubt, daß vor der Hintertür dieses Bureaus die Rußspuren aufgehört hatten. Was konnte er der Vorderseite ansehen? Konnten die Insassen ihm Aufklärung geben?

Er biß sich die Lippen.

Schwerlich konnte er hier Fragen stellen, um seine Neugierde zu befriedigen. So schritt er weiter. Da öffnete sich plötzlich die Tür und zwei Herren erschienen auf der Schwelle.

Den einen von ihnen kannte Justus schon von Ansehen. Es war S. Wyvill, der Generalsekretär des Wapiti Syndikates. Als er den unbekannten Zweiten ins Auge faßte, fuhr er unwillkürlich zusammen. Ein starker, vornehm gekleideter Herr, etwa fünfzig Jahre alt, korpulent, mit dunklem Haar, etwas kahler Stirn! Diese Erinnerung an den grausigen Fund konnte Wise allerdings etwas außer Fassung bringen. War denn die ganze Welt voll von Leuten, die auf die Beschreibung von Herrn West paßten?!

Und als nun der Unbekannte sich verabschiedete und Justus den Generalsekretär die Worte sagen hörte: »Adieu, Herr West,« da mußte er stehen bleiben und, um seine Verlegenheit zu verbergen, zog er sein Notizbuch heraus und schien eifrig darin zu lesen. Also, es war richtig der Finanzmann West selbst, der verschwunden Gewesene!

Ja, der Herr, der verschwunden war und der so rücksichtslos gegen Wise sich plötzlich wieder eingefunden hatte.

Justus sah ihm aus diesem Grunde auch recht scheel nach, als er ihm die Treppe hinunter voranging. Warum war der Narr auch zurückgekehrt? Weshalb war er denn nicht wirklich ermordet? Er hatte doch mit einem Fremden einen hitzigen Streit gehabt, war mehrere Tage vermißt worden, eine seiner Erscheinung ähnliche Leiche hatte durch den Kamin den Weg zu Wise gefunden und nun schritt er hier munter und fröhlich die gleichen Treppen abwärts wie Wise selbst.

Das war einfach ekelhaft, räsonierte Justus, und doch auch wieder von einem gewissen Interesse.

Die Gedanken jagten sich in seinem Kopfe.

Auf der Straße blieb der Finanzmann einen Augenblick unentschlossen stehen und zeichnete mit der Spitze seines Schirmes, der einen goldenen Knauf hatte, Figuren in den Straßenstaub. Seine Schultern senkten sich und die ganze Haltung machte den Eindruck starker Verstimmung. Dann richtete er sich auf, als sei er plötzlich zu einem bestimmten Entschluß gekommen, rief eine vorüberfahrende leere Autokutsche heran und gab beim Einsteigen an: »Ashley Gardens. Nummer 400.«

Wise hatte ihn scharf beobachtet.

»Ashley Gardens! Das ist doch nicht seine Wohnung. Ich habe nichts Besseres zu tun und dank der zwanzig Pfund von Georg Millbank kann ich es mir leisten, der Sache näher zu treten,« sagte er sich und nahm ein zweites Automobil, das bald darauf folgte. Dem Chauffeur gab er schnell die erforderliche Weisung und lehnte sich gemächlich und nachdenkend im Wagen zurück.

Auf der Regent-Straße ließ West halten, stieg vor einer eleganten Blumenhandlung aus und kam nach einigen Minuten mit einem mit Nelken geschmückten Knopfloch und einem Bukett wieder zum Vorschein. Von seiner früheren Verstimmung war durchaus nichts mehr an ihm zu bemerken.

Justus Wise hielt abermals ein Selbstgespräch. »Ashley Gardens – ein Morgenbesuch – Blumen – Nelken im Knopfloch – für einen Herrn in diesen Jahren – mit einer erwachsenen Tochter zu Hause – das kann ja nett werden!«

Sein Blick heftete sich aus das Auto, das ihm voranfuhr.

Vor Nummer 400, Ashley Gardens stieg Herr West behende aus und betrat das Haus. Justus folgte ihm wenige Minuten später. Es war ein großes Gebäude mit mehreren Etagen. Er las die auf kleinen Schildern angebrachten Namen an der Seitenwand des Haupteinganges, als der Portier, der West mit dem Lift hinaufgefahren hatte, wieder herunter kam.

Schnell hatte er den Mann abtaxiert und ließ ein Geldstück, das er aus der Tasche gezogen, in seiner Hand sichtbar werden.

»Meinen Sie, daß Herr West lange bleiben wird?« fragte er und blickte von dem Pförtner auf das Geldstück und dann wieder von diesem aus den Mann.

Der Gefragte folgte diesen Blicken verständnisvoll.

»Ich würde an Ihrer Stelle nicht warten, es kann eine Stunde dauern und noch länger,« lautete die Antwort.

Justus Wise besah sich noch einmal die Namentafel und zog die Brauen.

»Ach, Du meine Güte, ich habe nur wenige Minuten Zeit,« sagte er und nahm wiederum die acht Namen in Augenschein, unter denen sechs mit »Frau« oder »Fräulein« versehen waren. Da wagte er es denn auf gut Glück: »Vermutlich findet er sie sehr – sehr hübsch!«

Der Pförtner grinste. »Das ist sie auch.« Dabei nahm er dankbar die halbe Krone in Empfang, die endlich ihren Weg zu ihm gefunden hatte. »Für das Geld können Sie sie aber auch selbst sehen – bei Warndorffs. Sie spielt famos und tanzen kann sie.«

»Fräulein Gertie Tillet,« sagte Wise, nachdem er noch einmal die Tafel überflogen hatte. »Ja, ich glaube auch, daß sie famos ist. Ich werde Ihren Rat befolgen und noch – hem – eine halbe Krone daran wenden, sie zu sehen. Ich werde nicht auf Herrn West warten können. Schönen Dank. Adieu!« Damit entfernte er sich.

Er machte indeß nur wenige Schritte, und da er bemerkte, daß der Pförtner ihm nicht folgte, blickte er sich um. Der Nummer 400 gegenüber entdeckte er ein Portal, unter das er sich stellte und wo er wartete, den Blick auf das von Fräulein Tillet bewohnte Haus gerichtet.

Er wappnete sich mit Geduld und sagte sich, daß nur der Erfolg hat, der die Gelegenheit beim Schopf nimmt. Er hielt sein Beginnen für vielverheißend.

Und das mochte es sogar noch mehr sein, als er geglaubt hatte, denn während er sich auf das Warten von einer Stunde gefaßt gemacht, waren kaum zehn Minuten vergangen, seitdem er seinen Beobachtungsposten bezogen, als West wieder auf der Straße erschien.

Trotz der kurzen Zeit seines Verweilens in dem Hause hatte sich in der Erscheinung des Herrn aber eine ganz wesentliche Veränderung vollzogen. Seine unternehmende Haltung, das selbstbewußte Lächeln, das gesunde Rot in dem massigen Gesicht waren völlig verschwunden. selbst die prachtvolle Nelke im Knopfloch schien verwelkt und flach geworden zu sein; er sah um zehn Jahre älter aus. Seine Niedergeschlagenheit von vorhin war in stärkerem Maße wiedergekehrt; er taumelte förmlich, als er das Trottoir betrat. Dann blieb er eine Minute stehen, schlug sich mit der geballten Faust an die Stirn und entfernte sich rasch.

Diese plötzliche Umwandlung versetzte Justus Wise naturgemäß in große Verwunderung, sodaß er zuerst müßig dastand und dem Davoneilenden sogar den Vorsprung ließ, um eine Ecke zu biegen, ehe er ihm folgte. Als er gerade im Begriff stand, seinen Platz zu verlassen, sah er eine zweite Person aus dem Hause gegenüber treten.

Es war eine Frau in mittleren Jahren, die einen Korb am Arme trug und wie ein Dienstmädchen gekleidet war. Sie erschien aufgeregt und sprach mit sich selbst, als sie sich in der entgegengesetzten Richtung von West eiligst auf den Weg machte.

Justus hielt sie für den Typus des Mädchens, das einer Schauspielerin zugleich Dienerin, Gesellschafterin und Vertraute ist. Dann folgerte er weiter: auch die Person ist außer Fassung und stürzt mit einem Korbe davon. Vermutlich zum Drogisten – denn es hat einen großen Radau gegeben und da wird man Beruhigungsmittel, Riechsalz, vielleicht auch Brandy nötig haben. Wenn die Person nur das einzige Mädchen ist und dafür sehe ich sie ja an, dann befindet sich Fräulein Gertie allein. West hat sich nach Hause begeben, sie hat ihm eine Szene gemacht oder er ihr. Aber den kann ich zu jeder Zeit in seinem Hause sehen, wenn ich das will – indeß Fräulein Gertie – ich denke doch –«

Justus sah der Dienerin nach, bis sie eine gute Strecke zurückgelegt hatte, zog dann einen kleinen Spiegel aus der Tasche und glättete sein Haar und den Schnurrbart.

»Das ist schon recht lange her, daß ich dergleichen getan habe, aber ein Privatagent muß sich allen Dingen gewachsen zeigen.« Damit überschritt er den Straßendamm.

Das Glück wollte, daß vom Pförtner nichts zu sehen war. Nachdem er die ihm bekannte Tafel zu Rate gezogen, schlich er unbeachtet zu der von der Schauspielerin bewohnten Etage hinauf.

An der Tür ihrer Wohnung blieb er stehen, um den Knopf der Klingel zu suchen. Da bemerkte er aber zu seinem Erstaunen, daß die Eingangstür offen stand; die Dienerin hatte vermutlich in ihrer Eile vergessen. sie zuzuschließen. Auf dem Vorplatz, auf der Treppe war niemand, rasch und geräuschlos schlüpfte Justus hinein.

Das Entree war in rosa und weiß gehalten und reich ausgestattet. Nach jeder Seite führten ebenso angestrichene Türen in die Zimmer, die aber nicht geöffnet waren. Nur aus einem wurde eine weibliche Stimme vernehmbar; dann folgte das Geräusch entzweigeworfenen Porzellans, was sich nach einem Augenblick wiederholte.

Justus horchte, lächelte und rückte an diese Tür näher heran.

»Hysterisch«, sagte er und nun hörte er ein wildes Gurgeln, ein aufschreiendes Gelächter, einen schweren Fall! dann wurde alles still.

Er klopfte leise an die Füllung der Tür. Es erfolgte keine Antwort; da öffnete er und trat ins Zimmer.

Auf dem Fell vor dem Kamin des raffiniert schönen Boudoirs lag eine außerordentlich hübsche Dame wie aufgelöst. Rings herum Trümmer zerschmetterten Porzellans und umgeworfene Stühle. Nach einem kurzen Blick über den ganzen Raum schritt er auf sie zu. Bewußtlos war sie wohl kaum, denn noch tappten ihre Hacken auf dem Boden; sie nahm jedoch von seiner Anwesenheit keine Notiz, so stand er kurze Zeit unentschlossen vor ihr.

Dann kniete er nieder, brachte den Kopf der Dame in eine Lage, die er für die beste hielt, löste den Spitzenschal von ihrem Halse und rieb ihr kräftig die Haut.

Seine Bemühungen hatten zunächst nur den Erfolg eines erneuten hysterischen Anfalls, doch endlich schien ihr das Bewußtsein zurückzukehren.

»Dieses Untier! Dieser alte Dummkopf.« sagte sie. als sie die Augen öffnete.

Sie starrte Justus an.

»Wer sind Sie?« rief sie überrascht und versuchte dann beim Aufstehen möglichst viel Würde zu entwickeln. »Sind Sie der Arzt?«

»Nein, ich bin nicht der Arzt. Ich bin – hem – mein Name ist Wise – Justus Wise.«

Fräulein Tillet wurde rot vor Zorn. Sie richtete sich hoch auf.

»Da möchte ich denn aber wohl wissen, wie Sie in meine Wohnung kommen.«

Justus Wise rieb die Hände aneinander und verbeugte sich in untertänigster Weise. »Es ist ein Zufall. der reine Zufall«, murmelte er. »Ich kam gerade die Treppe hinauf, als ich einen Schrei hörte und« – als wollte er sich wegen der herrschenden Unordnung entschuldigen. blickte er ringsherum – »und ein Geräusch, wie wenn Porzellan in Scherben ginge. Die Tür stand offen und in der Annahme, daß sich vielleicht jemand in Gefahr befände, wagte ich es, einzutreten –«

»Und nun können Sie auch wieder hinausgehen.« meinte Fräulein Tillet, nachdem sie ihn nachdenklich betrachtet hatte.

Justus kam dadurch etwas außer Fassung und verbeugte sich abermals mit verbindlichem Lächeln. »Hoffentlich verzeihen Sie mir mein Eindringen, es geschah in der besten Absicht. Ich glaubte, jemand nützlich sein zu können, und nun, da mir dieser Zufall das Glück gebracht hat, die Dame außerhalb der Bühne zu sehen, die ich auf dieser schon seit so langer Zeit bewundere und verehre, kann ich im Innersten meines Herzens doch keine Reue über mein Handeln fühlen.«

Fräulein Tillet gönnte ihm einen kurzen Blick und trat dann vor den Spiegel, um ihre dunklen Haarwellen zu ordnen.

»Blech!« sagte sie. »Deshalb sind Sie nicht hierhergekommen! Sie gehören nicht zu der gewissen Sorte. Hat er Sie hergeschickt? Hat er das, so sagen Sie ihm. daß ich nicht mitgehen will. Es wäre töricht, gerade zu einer Zeit, wo ich so großen Erfolg habe. Sagen Sie ihm, daß mir der Plan mit Südamerika nicht gefällt. Er mag nur getrost allein dort hingehen oder meinetwegen auch zum –«

Justus unterbrach hier voller Hast, noch ehe das unbekannte Reiseziel aus dem Munde der Schauspielerin genannt war. »Ich gebe Ihnen die Versicherung, gnädiges Fräulein, von niemand gesandt worden zu sein, meine Erklärung beruht auf Wahrheit. Gestatten Sie mir, Ihnen meine Karte zu geben? – Justus Wise. Bitte lesen Sie auch meine Adresse und sollten Sie jemals die Dienste eines Privatagenten nötig haben, so hoffe ich, daß Sie sich meiner gnädigst erinnern werden.«

»Ein Privatagent, also eigentlich ein Privatdetektiv. Dann sind Sie doch von West hergeschickt!«

»Ich versichere nochmals, es ist das nicht der Fall. Ich kenne Herrn West von Ansehen, das ist richtig, habe aber noch niemals ein Wort mit ihm gesprochen, auch stehe ich in gar keiner Beziehung zu ihm.«

Fräulein Tillet sah ihn an. Justus hielt dem Blicke ihrer dunklen Augen tapfer stand und nun schien sie zu einem Entschluß gelangt zu sein.

»Es kommt mir vor, als ob Sie mir die Wahrheit sagten, aber man kann nie wissen ... Jedenfalls habe ich für den alten West nichts übrig. Er kann mir nichts anhaben, aber ich vermute, daß mit ihm etwas nicht ganz richtig ist, und ich möchte wohl erfahren, was das ist.«

Justus Wise strahlte vor Vergnügen.

»Ich verstehe. Sie wünschen ihn unter Beobachtung zu haben.«

Die Schauspielerin biß sich die Lippe, wandte sich um und stand nun Justus gerade gegenüber.

»Sehen Sie mich einmal an,« sagte sie. Sie war ein stattliches, hübsches Mädchen von etwa achtundzwanzig Jahren, mit dunklem, in der Mitte gescheiteltem, üppigem Haar, das sich zu beiden Seiten türmte, großen braunen Augen und einem bezaubernden Lächeln, das allenthalben bekannt war, wohin nur immer Ansichtskarten gelangten. Ihr etwas verwirrtes Aussehen und die Tränenspuren auf ihren Wangen taten ihrer Erscheinung keinen Abbruch. Justus Wise bewunderte sie aufrichtig.

»Es handelt sich hier nicht um Eifersucht.« meinte Fräulein Tillet nach einer Weile. »Es geht mit West etwas vor und das muß ich herausbringen. Auf diese Börsenmenschen ist nie Verlaß, und als er nun herkommt und von mir verlangt, mit ihm nach –«

Sie unterbrach sich: Justus hing förmlich an ihren Lippen.

»Nach? –« fragte er voll Eifer.

»Mit ihm nach –« Sie brachte den Satz nicht zu Ende, denn in diesem Augenblick wurde gewaltsam die Schelle gezogen. Beide fuhren zusammen und sahen ohne jeden Grund wie Schuldige aus.

Fräulein Tillet erhob sich und ging eilends zur Tür, die von der Stelle, wo Justus saß, deutlich zu sehen war.

Draußen stand ein Messengerboy, der geklingelt hatte, und Justus beobachtete, wie die Schauspielerin mit einem leichten Ausruf das ihr gebrachte Billett ergriff und aufriß.

»Von West, da möchte ich hundert Pfund Sterling darauf wetten,« dachte Justus und seine Augen hefteten sich aus die Schauspielerin, als könne er dadurch ihre Gedanken erraten. Er hat vermutlich seinen Plan aufgegeben. Was er wohl schreiben mag?«

Fräulein Tillet knüllte das Papier lachend zusammen.

»Warte mal einen Augenblick, mein Junge. Ich gebe die Antwort gleich mit.«

Sie trat wieder in das Zimmer zurück und setzte sich ohne weitere Umstände an einen kleinen Schreibtisch. der neben dem Fenster stand. Hurtig flog die Feder über das Papier.

Den empfangenen Brief hatte sie neben sich gelegt. Die Schrift lag zwar nach oben, aber sie hatte das Papier ja zerknittert. Deshalb konnte Justus, der sich allmählich näher an sie herangeschlängelt hatte und ihr über die Schulter sah, nur wenige Worte entziffern, deutlich war aber die Unterschrift: »Will.«

»William West, – Will.« Es war natürlich der Finanzmann. Bei der Erinnerung an die gewichtige Gestalt und das Alter des Verehrers von Fräulein Tillet stahl sich ein Lächeln über die Züge von Justus Wise.

Er trat immer dichter an ihren Stuhl heran, um möglichst viel zu erforschen. Als nun Fräulein Tillet die von ihr zu Papier gebrachten Hieroglyphen schnell ablöschte und aufstand, stießen ihre dunklen Locken nahezu dem Agenten an die Nase.

»Nimm das hier.« sagte sie zu dem Messengerboy der an der Tür stehen geblieben war, und gab ihm den Brief und Trinkgeld.

So rasch war sie in all ihren Bewegungen, daß sie schon wieder in die Nähe ihres Schreibtisches kam, ehe Justus noch Zeit gefunden, sich darüber schlüssig zu werden, ob es sich wohl verlohne, das dort liegengelassene Briefchen von West zu stehlen. Es wäre ihm sehr lieb gewesen, hätte er es fortnehmen können, denn ihre Mienen bewiesen ihm deutlich, daß dadurch die Dinge jetzt eine ganz andere Wendung genommen hatten.

Als der rotgekleidete Bote die Klingel gezogen, war Justus im Begriff, etwas sehr Interessantes zu erfahren. Jetzt mußte er sich gestehen, daß die günstige Gelegenheit unausgenützt geblieben war.

Fräulein Tillet zeigte sich durchaus nicht mehr zu Mitteilungen geneigt und in der ihr scheinbar zur zweiten Natur gewordenen Offenheit machte sie daraus auch weiter kein Hehl.

»Sie müssen mich jetzt entschuldigen. Herr Wise. ich habe argen Kopfschmerz und muß mich ruhig hinlegen.«

»Ihr Ton und ihre Haltung sprachen sehr deutlich. Justus wagte aber trotzdem noch einen Versuch.

»Ich glaubte, Sie wollten mir gerade angeben, in welcher Weise ich Ihnen nützlich sein könnte –«, sagte er einschmeichelnd.

»Ach, ich hatte es mir nicht recht überlegt – lautete ihre kühle Antwort. »Sie hatten mich ein wenig überrascht. Bitte, entschuldigen Sie mich jetzt.«

Justus war entlassen, das sah er ein. Er seufzte, nahm seine Visitenkarte aus der Tasche und händigte sie der Schauspielerin ein. »Ich habe nichts zu entschuldigen. aber Sie wollen mir verzeihen. Es mag nun doch einmal ein Tag kommen, an dem Sie sich meiner Dienste gern erinnern werden. Bitte, hier ist meine Adresse.«

Fräulein Tillet nahm die Karte etwas zögernd in die Hand, es lag ein feines verächtliches Lächeln um ihren schönen Mund, aber Justus bemerkte, daß sie die Karte nicht niederlegte.

Er verbeugte sich tief und ging fort.

»Sie wird die Karte aufbewahren und West nicht zeigen.« sagte er sich. »Es ist also nichts Schlimmes geschehen. – Und der Messengerboy?«

Seine Verabschiedung von Fräulein Tillet hatte nur wenige Sekunden in Anspruch genommen, noch konnte er des Bürschchens laute Tritte auf der Treppe hören.

Wie der Blitz ließ sich Justus mit dem Lift hinunter. Als er auf die Straße trat, befand sich der Junge nur wenige Schritte vor ihm.

»Einen Augenblick, Messengerboy.« sagte er atemlos und klopfte dem Jungen auf die Schulter. »Fräulein Tillet hat sich verschrieben.« Er nahm dem Boten den Brief aus der Hand.

»Ei, das geht doch nicht!« rief der Bursche aus.

Justus stellte sich taub. Der Gummi am Briefumschlag war noch feucht: eine Sekunde später hatte Justus die Zeilen gelesen:

»Schon gut, lieber Freund. Ich bin sehr froh, daß Du vernünftiger geworden bist. Es gibt doch schließlich nichts schöneres als die Heimat. Ja, ich werde mich einfinden.

Gertie.«

Der Messengerboy, der sich wohl erinnerte, den Herrn vor einigen Augenblicken in der Wohnung der Schauspielerin gesehen zu haben, beobachtete dessen Treiben mit zornigen Mienen und überlegte noch, ob er ihn, so gut es gehen mochte, mit seinen Fäusten bekannt machen sollte, als der von diesem Angriff bedrohte Justus, nach sorgfältigem Wiedereinfalten des Briefes in den Umschlag und nachdem er die Adresse notiert hatte, ihm sagte:

»Ach, es war ganz zwecklos. Fräulein Tillet glaubte bestimmt, einen Irrtum begangen zu haben, und nun ist es doch nicht der Fall. Hier sind zwei Pence für Sie. Jetzt laufen Sie aber und verlieren Sie den Brief nicht.«

Die Hand des Jungen umschloß freudig Geld und Brief. Noch zögerte er zwar, als jedoch der Herr ihm so freundlich zulächelte und ruhig seines Weges schritt, als sei nichts geschehen, setzte auch er die unterbrochene Tour fort und machte seinem Aerger durch Knurren Luft.

Justus wandte sich nach einigen Sekunden um und sah, wie der Bote die Straße weiter entlang ging. »W. West, Esquire, 200 Berkeley Square,« sprach er vor sich hin. »Hat seine Pläne geändert. Stand im Begriff, durchzubrennen, konnte sie aber nicht dazu bestimmen. Wird also hierbleiben und den Brocken ausfressen müssen. Was es wohl da geben mag? Das zu erforschen, ist meine Aufgabe. Zunächst will ich einmal sehen, wie ich an ihn herankomme.«

Mit der Absicht, sich das ruhig zu überlegen, begab er sich in ein kleines italienisches Restaurant, in dem er häufiger zu verkehren pflegte und wo er sicherlich ungestört blieb.

Beim Kellner bestellte er Macaroni à l'Italienne und eine Flasche Chianti-Wein. Dann forderte er eine Zeitung, auf die er jedoch ziemlich lange warten mußte; das Essen kam früher und er war schon mit dem Macaroni fast zu Ende, als er die Mittagsausgabe des »Star« in die Hand nehmen konnte. Das hatte wenigstens etwas Gutes für sich, denn in dem Moment, in dem Justus in die Zeitung blickte, war auch schon sein Appetit vergangen. Er saß da, starrte auf die Druckzeilen und vergaß sein Lieblingsgericht.

Eine kleine Notiz hatte das verursacht.

»Die Leiche eines gut gekleideten Mannes wurde heute morgen früh in der Themse, in der Nähe der »Temple-Stufen« treibend aufgefunden. Der Verschiedene, der etwa fünfzig Jahre alt gewesen sein mag, gehörte sicherlich den bessersituierten Kreisen an und muß das Opfer eines Verbrechens geworden sein, denn an seinem Kopfe klaffte eine Wunde, die den Tod herbeigeführt hat und offenbar dem Unglücklichen beigebracht wurde, ehe man seinen Körper ins Wasser warf. In den Kleidertaschen fand sich gar nichts vor und keinerlei Zeichen in der Wäsche ist mehr vorhanden, das die Leiche identifizieren könnte. Zunächst hat sie im Totenschauhause von St. Giles Aufnahme gefunden.«

Die Gabel voll überhängender Macaroni zwischen Teller und Mund haltend, saß Justus da. Seine schmerzerfüllten Blicke wanderten in dem kleinen Zimmer mit den plüschüberzogenen Sitzen und dem goldumrahmten Spiegel umher, als könnten ihm diese Trost bieten.

»Natürlich – sie – die Leiche! Ihm gestohlen, in die Themse geworfen und nun wieder zum Vorschein gebracht, um ihm sein Frühstück zu verderben. Die Notiz war klar genug. Kein Erkennungszeichen – welchen Vorzug hatte er nun noch der Polizei und der übrigen Welt voraus? Und doch, und doch!«

Justus legte Gabel und Zeitung nieder, sein natürlicher Optimismus regte sich wieder. Wer konnte wissen? Auf jeden Fall würde er den Leichnam ansehen, an dem er ja sogenannte Prioritätsrechte besaß. Er wußte doch etwas mehr als irgend jemand außer Dark wissen konnte, das stand fest, und auch dieses Wissen ließ sich immerhin noch verwerten. Herr West mußte schon auf ihn warten; die Leichenhalle zu besuchen, das ging vor.

Herr Privatagent Wise kannte sein London, wie nur wenige Leute die Riesenstadt kennen, und deshalb brauchte er auch gar nicht zu lange Zeit, um den Weg zu dem trübseligen Gebäude zu finden, in dem schon so mancher im Leben Schiffbrüchige Aufnahme fand. Auch hatte Justus keinerlei Schwierigkeit wegen des Eintrittes. Der wachthabende Beamte kannte ihn gut und so blickte denn Justus zum zweiten Male auf den Leichnam hernieder, der in so seltsamer Weise in sein Leben gekommen war.

Denn es war tatsächlich die Leiche, wie er es vermutet hatte, dieselbe Leiche, die den Rauchfang in seinem Bureau verstopft und so falsche Hoffnungen in ihm erweckt hatte.

Er kaute wie verrückt an seinem Schnurrbart und betrachtete sinnend den Toten.

»Ich hege nicht die geringste Abneigung gegen Herrn West, noch gönnte ich ihm etwas Böses, aber wenn er es wäre, der hier läge, welchen Unterschied bedeutete das für mich.« meinte Justus. »Wer mag das wohl sein?«

Die Leiche eines starken Mannes mittlerer Jahre ruhte da friedlich auf einer Bahre, als ob der Tote den früheren Erlebnissen nichts nachtrage, aber sie verriet auch nichts von seinen Geheimnissen. Nachdem Justus mit photographischer Treue die blassen Gesichtszüge dem guten Gedächtnis eingeprägt, wollte er sich entfernen; da wurde die Tür der Halle geöffnet und schnell wieder zugemacht.

Es hatte jemand hineingesehen und sich schnell wieder entfernt, doch schneller noch als der Betreffende gewesen, war Justus ihm gefolgt und hatte einen Blick auf den Davoneilenden erhascht, der ihn vor die Frage stellte, wo er doch diese Gestalt schon früher einmal gesehen habe.

Endlich löste sich ihm diese Frage und er holte tief Atem.

Der Mann war S. Wyvill, Generalsekretär des Wapiti Syndikates, den er noch heute morgen im Gespräch mit William West gesehen hatte. Sollte er das wirklich sein?

Immerhin, wer es auch sein mochte, er hatte Justus gesehen und war seinetwegen davongestürzt. Das stand für Justus völlig fest und blitzartig schnell eilte er ihm nach, um noch gerade einen Rockzipfel an der nächsten Straßenecke verschwinden zu sehen. Aber so leichtfüßig Justus auch sein konnte, seine Absicht erreichte er nicht, weil er in seiner Hast beim Biegen um eine Ecke so heftig gegen einen Schutzmann anrannte, daß dieser ihn einen Augenblick unter sorgfältiger Besichtigung festhielt und ihn erst nach erlangter Ueberzeugung, keinen Taschendieb vor sich zu haben, wieder freigab. Dieses Aufhalten war für Justus verhängnisvoll geworden, denn in der belebten Straße sah er sich nunmehr nur einer fremden Menschenmenge gegenüber.


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