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Kapitel 17.

Auf der Lauer

Justus Wise hatte kaum den Berkeley Square überschritten, als er sich zu seiner Ueberraschung von einer weiblichen Stimme angerufen hörte. Er wandte sich und sah ein elegantes Kupee neben sich halten.

»Herr Wise! Herr Wise! Sie suche ich gerade,« rief die Insassin des Wagens, eine sehr elegante, junge Dame, die Wise holdselig anlächelte.

Dieser erkannte sofort Fräulein Gertie Tillet und machte eine tiefe Verbeugung.

»Herr Wise, wissen Sie nichts Neues,« fragte sie, als sie ihm die Hand reichte.

Justus gewahrte, daß, wenn sie auch augenblicklich durch die Anstrengung, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, angeregt war, sie doch elend und besorgt aussah »Wir kommen vorwärts, wir kommen vorwärts,« sagte er rasch, aber in diesem Augenblick habe ich etwas bestimmtes Neues nicht.«

Das Gesicht von Fräulein Tillet verlängerte sich. »Ach, ich hatte so sehnlichst gehofft, daß Sie mir etwas Günstiges sagen konnten. Sie wissen, »er« ist noch immer dort, der liebe gute Kerl, und seit jenem Tage habe ich noch nichts von ihm gehört. Sie können doch nicht glauben, daß es möglich ist. – Ach nein, er hat die Tat natürlich nicht begangen. Aber weshalb sagt er denn nicht, was er weiß, um dort herauszukommen, er hat doch behauptet, er könne das sagen. Es ist doch zu schrecklich, im Gefängnis zu sitzen! Und wenn nun doch etwas schief geht. Ach, Herr Wise, weshalb läßt man ihn nicht frei?«

»Das weiß ich nicht,« entgegnete Justus aufrichtig. »Ich wollte, ich wüßte es, Sie müssen Geduld haben, es geschieht alles, was geschehen kann. Ich glaube behaupten zu dürfen, daß ich mich endlich auf der richtigen Fährte befinde. Dergleichen Dinge lassen sich aber nicht an einem Tage erledigen und dieser Fall ist besonders kompliziert. Wie gesagt, ich bin auf der richtigen Fährte.«

»Wirklich? Sie sind ein Prachtmensch, aber was ich Ihnen noch sagen wollte, ich habe den alten Mann wiedergesehen.«

»Den alten Mann?«

»Ja. Sie wissen doch, den Millbank, über den ich Ihnen schrieb, und von dem ich glaube, daß er der Mörder Duntons ist.«

»Sie haben ihn gesehen?«

»Ja, es sind noch keine zwei Stunden her, und ich weiß auch, wo er wohnt.«

»Sie wissen, wo er wohnt?« Justus wurde rot vor Erregung. »Wo wohnt er denn? Mein liebes gnädiges Fräulein, sind Sie Ihrer Sache sicher?«

»Sicher! Er stand auf den Stufen vor dem Portal, als ich vorüberfuhr, und da es ein Hotel ist, nehme ich an, daß er dort wohnt. Wenn ich nachgefragt hätte, würde er mich gesehen haben, und er kennt mich, weil er mich mit West zusammen getroffen hat.«

»Wo ist das Hotel?«

»In der Brutonstraße – es heißt Lavers. Es ist ein kleines Privathotel, und deshalb ist es um so wahrscheinlicher, daß er dort abgestiegen ist.«

»Sind Sie auch sicher, daß er es war?«

»Ganz sicher, ich würde ihn allerorts wiedererkennen. Seinesgleichen sieht man nicht alle Tage.«

»Ich will sofort hingehen, ich muß ihn sofort aufsuchen. Vielen Dank.«

In seiner Aufregung und Eile wußte er kaum, was er sagte. War es möglich, daß gerade diese oberflächliche junge Dame die Adresse des geheimnisvollen Mannes aufgestöbert hatte. Sollte man ihn endlich finden?!

Er hatte seinen Hut gelüftet und war schon einige Schritte davongeeilt, als Fräulein Tillen ihm zurief: »Vergessen Sie nicht, daß er zwei Namen führt. West pflegt ihn Charleswort zu nennen. Lassen Sie mich wissen, wenn Sie ihn gefunden haben. Herr Wise, und vergessen Sie nicht –«

Justus war schon außer aller Hörweite.

Die Brutonstraße lag nicht weit entfernt, er legte die Strecke schnell zurück und nahm sich fest vor, daß der Mann ihm dieses Mal nicht entschlüpfen sollte. Er wollte eine Unterredung mit ihm erzwingen, eine Unterredung, der jener auch nicht versuchen würde, auszuweichen, schon seines Sohnes wegen. »Wenn also Fräulein Tillet sich nicht irrt, bin ich ein gemachter Mann. Lavers, Lavers, wo ist das Haus?«

»Sein Blick war aus die weiße Laterne mit den schwarzen Buchstaben gefallen. »Lavers Privathotel« und schnell auf das etwas düster aussehende Haus zuschreitend. stieg er die Stufen hinauf.

Ein alter Diener, der mehr wie ein Familien-Hausmeister als wie ein Hotelportier aussah, trat ihm entgegen und fragte nach seinem Begehr.

»Ich suche einen Herrn namens Charleswort.« sagte Justus.

»Herr Charleswort ist ausgegangen,« entgegnete der alte Mann ohne Zögern, warf aber auf Justus einen raschen Blick.

Justus bemerkte den Blick, nahm die Antwort aber gleichgültig entgegen. »Können Sie mir vielleicht sagen, wann er wieder zurückkommt?« fragte er.

»Darüber kann ich Ihnen nichts sagen, mein Herr.« erwiderte der Alte und schickte sich an, ins Haus zurückzutreten. »Er kommt und geht zu allen Zeiten, wollen Sie mir Ihren Namen sagen?«

»Nach einigem Besinnen erklärte Justus: »Bitte, sagen Sie ihm, Herr Wyvill sei hier gewesen. Ich werde später wiederkommen.«

Als er die Stufen wieder hinunterging, sagte sich Justus: »Das wird ihn zum Nachdenken bringen und ihn veranlassen, zu Hause zu bleiben, um Wyvill zu erwarten, wenn er nicht überhaupt zu Hause ist. Ich traue dem Diner nicht zu, daß er die Wahrheit sagt, aber ich kann doch nicht gut ins Haus gehen und nachsehen, ob er da ist. Jetzt heißt es zu warten.«

Er blickte sich um, und einige Häuser weiter hinunter in der Straße entdeckte er eine kleine Gasse, die auf Stallgebäude führte. Er entschloß sich, hier stehen zu bleiben, nachdem er sich, soweit es ging, vergewissert hatte, daß er vom Hotel aus nicht beobachtet werden konnte. Während er einen guten Platz für seinen Zweck eingenommen hatte, dachte er an Dark und Wyvill und bedauerte, nicht zu gleicher Zeit an mehreren Stellen sein zu können. Er tröstete sich damit, endlich die »Höhle« des so lange von ihm gesuchten Mannes gefunden zu haben und beschloß, auf dessen Heimkehr zu warten. Seine Geduld sollte in diesem Falle gar nicht auf eine zu harte Probe gestellt werden, denn es waren kaum fünf Minuten verstrichen, als der alte Diener aus dem Hotel herauskam und sich sorgsam nach allen Seiten auf der Straße umsah.

Justus hatte sich zu seinem Glück, auf alle Fälle vorbereitet, so gut versteckt, daß der Alte trotz seines gründlichen Prüfens der ganzen Umgebung Justus nicht gewahren konnte. Er hielt sich so dicht an der Mauer des engen Durchganges, daß nur seine Nase herausguckte. Nach einer Weile zog sich der alte Mann wieder zurück.

Einen Augenblick geschah nichts, dann kam der Mann, den Justus suchte, heraus, sah weder rechts noch links und eilte in der entgegengesetzten Richtung davon.

Eben so schnell verließ Justus seinen Versteckplatz und eilte ihm nach. Der Fremde hatte aber einen Vorsprung von zwanzig bis dreißig Meter und ging sehr rasch. Justus erkannte bald, daß er mehr Grund und Boden verlor als er gewann und fing an zu laufen, doch der von ihm Verfolgte schien Augen im Rücken zu haben. Sobald Justus zu laufen begann, fing auch er an zu laufen, und so hasteten sie beide die Straße entlang.

»Er hat mich gesehen,« sagte sich Justus und beschleunigte seinen Lauf, »und ich werde noch eine anständige Jagd erleben.«

Darin hatte er recht. Nie würde Justus geglaubt haben daß ein Mann in diesem Alter so schnell laufen könnte. Immer weiter stürmte er, rücksichtslos die erstaunten Blicke der Vorübergehenden mißachtend und ebenso das Murren der Leute, die er zur Seite schob. Justus wurde einen Augenblick verwirrt durch einen Zusammenstoß mit einer korpulenten alten Dame und begann zu fürchten, daß ihm dieser Mann zum dritten Male entschlüpfte.

»Nein, das soll er nicht, ich schwöre darauf,« sagte er sich und konnte bei dem rasenden Laufen kaum Atem holen und dann schier verzweifelnd, wies er mit dem Finger auf die vor ihm fliehende Gestalt und schrie aus Leibeskräften: »Polizei, Polizei, haltet den Dieb!«

Der Verfolgte wandte sich bei dem Ruf um. zauderte, sprang dann wieder vorwärts und verschwand unter einem Torweg.

Soweit es ihm seine bebenden Glieder erlaubten, stürzte Justus an die Stelle und sah sich einer engen Sackgasse gegenüber, die kaum zwanzig Meter maß und von einer hohen Mauer begrenzt wurde. Zu beiden Seiten befanden sich versperrte Hintertüren von Warenhäusern und Magazinen. Von dem verfolgten Manne war nirgends eine Spur zu entdecken.

Justus blieb stehen, holte tief Atem und blickte um sich her. Wohin konnte sich jener geflüchtet haben? Die Mauer am Ende der Gasse war fast 15 Fuß hoch und mit eisernen Spitzen besetzt, darüber konnte jener nicht gelangt sein. Nun blieben die Türen noch. In welche war er hinein gelangt? Sie waren sämtlich versperrt und gaben auf seine forschenden Blicke keine Antwort.

Langsam schritt er die Gasse wieder entlang, blickte sich allenthalben sorgfältig um, aber keine Entdeckung belohnte seine gründliche Durchforschung. Allem Anschein nach waren manche der Türen seit Wochen nicht geöffnet worden. Justus stand ratlos, wie betäubt da.

In diesem Augenblick der Verzweiflung erschien ihm jedoch eine Hilfe, denn die Gasse entlang kam ein kleiner, rothaariger Bursche, der vor sich hinpfiff.

Justus, der noch immer nach Atem rang, blickte ihn gleichgültig an, nicht ahnend, welche Rolle der Kleine noch für ihn spielen werde. »Du kleines, rothaariges Ungeheuer,« dachte Justus dann, »weshalb bist Du nicht fünf Minuten früher aufgetaucht, dann hättest Du mir sagen können, wohin er ging.«

Der Bursche konnte von diesen unausgesprochenen Gedanken zwar nichts wissen, unterbrach aber sein Pfeifen, als er bei Justus vorüberkam. »Alter Schnurrbart,« sagte der Kleine verächtlich, »wonach sehen Sie sich denn um?« Justus ignorierte ihn hochmütig und setzte seinen Weg fort. Der Kleine halte einen bestimmten Zweck im Auge und wollte offenbar bis an das Ende der Sackgasse gehen, blieb aber plötzlich stehen, als ob etwas Besonderes seine Aufmerksamkeit erregt habe.

Das fiel Justus auf, und er beobachtete nun den Burschen genau.

Dieser war vor einer Tür stehen geblieben, neigte den Kopf ein wenig auf die Seite, trat dann langsam vorwärts und schien gespannt aus etwas zu lauschen.

Nun nahm Justus ein großes Interesse an ihm und legte sich die Frage vor, was der Kleine wohl gehört haben mochte. Der Rothaarige nickte verständnisvoll, sah sich um, als ob er sich vergewissern wollte, daß ihm ein Weg zum Entrinnen frei blieb, schlich dann an die Tür heran, drückte die Klinke und öffnete die Tür weit. Dann lief er mehrere Schritte zurück.

Es ereignete sich jedoch nichts und offenbar sicherer geworden. ging er auf den Zehen durch die Tür hindurch.

Die Vermutung des Knaben, daß eine Gefahr drohte, hatte auch Justus beeinflußt, und unwillkürlich war auch er auf den Zehen weitergegangen. Er hatte sich aber schnell auf sich selbst besonnen, und der Junge erschien nun plötzlich wieder auf der Gasse und pfiff wieder sorglos.

Er spielte seine Rolle aber zu gut. Kein Junge, der ihn alter Schnurrbart geschimpft und ihn gefragt hatte, was er sich hier besähe, konnte zum zweiten Male bei ihm mit einer so gleichgültigen Miene vorübergehen, wie sie dieser Bursche aufsteckte, und Justus fixierte ihn deshalb mit ernsten Blicken.

Und gerade in dieser Minute fiel aus dem zerrissenen Beinkleid des rothaarigen Straßenjungen ein Schilling und rasselte aufs Pflaster, offenbar waren die Kleidungsstücke des Burschen nicht gewöhnt, solche Schätze zu bergen.

Der Junge blieb stehen, um das Geld aufzunehmen. Er sah zu Justus mit einem sonderbaren Blick empor und setzte nun voll Verlegenheit sein Flöten fort. Justus zuckte die Achsel und ging schweigend an ihm vorüber.

Er hatte sich die Tür, vor der der Kleine stehen geblieben war, sofort genau gemerkt, trat leise an sie heran und legte die Hand auf die Klinke.

Die Klinke folgte wohl seinem Drucke, aber die Tür ging nicht auf, sie schien vielmehr noch fester in den Angeln zu ruhen, als ob sie plötzlich mit Leben begabt worden sei. Justus atmete schwer.

Nun zog er mit mehr Kraft an der Tür und da dieses plötzlich geschah, gab die Tür einen Augenblick nach, um dann mit einem festen Schnappen sich wieder zu schließen. »Da muß jemand auf der anderen Seite sein und zwar ein starker Mensch. Na, ich will mal sehen, wer von uns beiden der Stärkere ist.« Er setzte den Fuß gegen die Mauer, packte die Klinke fest und stieß mit seiner ganzen Kraft gegen die Tür; sie wich aber keinen Zoll breit, denn man hatte sich offenbar auf der anderen Seile entsprechend vorbereitet.

Eine Weile lang setzte sich der Kampf so fort zum höchsten Gaudium des rothaarigen Jungen, der herangekommen war um zuzuschauen. Nun ließ Justus nach und wischte sich die Stirne ab. Dann aber bediente er sich einer List. Abermals drückte er auf die Klinke und stemmte sich gegen die Tür. Er hörte schweres Atmen auf der Innenseite. Plötzlich ließ er locker, die Tür schloß sich wieder wie vorher, aber dieses Mal stemmte sich Justus mit seinem ganzen Körpergewichte dagegen.

Die List war ihm gelungen, wie er gehofft hatte.

Der vollständig überraschte Verteidiger der Festung gab nach und kam auf die Straße hinaus, während seine Hand aber noch die Tür festhielt.

Keuchend starrten sich Justus und der Fremde eine Sekunde lang ins Gesicht, dann stürzte der Aeltere mit einem Ausruf zurück, aber Justus hatte auch noch die Tür in der Hand, und in einem Augenblick befand er sich auch im Innern des Gebäudes.

Er sah sich in einem weiten, leeren Lagerraum, der Fremde lehnte sich gegen eine Mauer.


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