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Kapitel 13.

Auf der Verfolgung

»Dieses Mal sollst Du mir nicht entschlüpfen, Freundchen.« sagte sich Justus, indem er seine unvermutete Beute im Auge behielt. »Besser wäre es, wir hätten kein Tageslicht und die Straßen in dieser Gegend wären nicht so menschenleer. – Er würde mich ja sofort erkennen, wenn er sich zufällig umdreht und mich erblickt.«

Der Fremde dachte aber nicht daran, sich umzuwenden. Er schritt immer weiter, zog seine Füße müde nach und Justus wollte bemerken, daß seine ganze Haltung nachgelassen, seine Gestalt älter und weniger aufrecht geworden war, nachdem er sich aus der Nähe des Wyvillschen Hauses entfernt hatte.

Der von ihm eingeschlagene Weg führte über Straßenzüge, die keinen zu starken Verkehr hatten und andererseits doch genügten, um Justus vor der Entdeckung zu schützen.

So wäre denn alles recht gut gegangen, wenn sich nicht ein Zwischenfall ereignet hätte.

An der Ecke der Achardstraße mußte der Unbekannte einen Augenblick stillstehen und konnte erst dann nach der Oxfordstraße hinüberkommen. Er hatte den Platz aber nur zur Hälfte gekreuzt und Justus dicht hinter sich, als ein Radfahrer hinter einem Autoomnibus her in großer Eile hervorraste. Dem Omnibus war der Fremde ausgewichen, aber es erfolgte ein Zusammenstoß und ausgleitend fiel der Mann unter die Räder einer Hansom-Droschke. Das sah so aus, als ob er sich in Lebensgefahr befände, und Justus sprang unwillkürlich vorwärts, um ihn, wenn noch möglich, zu retten. Doch der Gefallene half sich selbst. Mit gewaltiger Anstrengung rollte er sich selbst unter dem Hansom fort und entging der neuen Gefahr, von einem schweren Lastwagen überfahren zu werden, dadurch, daß er sich an die Deichsel klammerte und dann, auf Rettung bedacht, sich so rasch ausrichtete, um seinem Verfolger fast in die Arme zu fallen.

Justus war geistesgegenwärtig genug, sein Gesicht abzuwenden, er senkte das Kinn auf die Brust und wagte nicht aufzublicken, bis der andere sich erholt hatte und nun seinen Weg bis zur entgegengesetzten Seite des Platzes ganz sicher fortsetzte.

Hatte er ihn erkannt? Die Frage hätte Justus für sein Leben gern beantwortet gehabt. Einmal schien ihm das der Fall zu sein und doch hatte der andere nichts davon merken lassen und seinen Weg ganz ruhig fortgesetzt, so daß es Justus dann wieder vorkommen wollte, als sei von ihm, mit dem jener zusammengeprallt, gar keine Notiz genommen worden.

Endlich sagte sich Justus, daß er über die Sache doch bald Klarheit erlangen würde. Er erinnerte sich, wie ihn der Unbekannte in seinem eigenen Bureau angesehen habe und danach erwarten könnte, daß er von Justus fernerhin unbehelligt bleibe. Würde er ihn jetzt erkannt haben, so müsse er darin den Beweis sehen, daß man ihn verfolge. And Justus war erkannt! Diese Gewißheit wurde ihm, als er sah, wie der Fremde ganz harmlos um die Ecke einer Straße bog, auf einen Augenblick verschwand, wieder auftauchte und dann plötzlich in der entgegengesetzten Richtung schleunigst davonlief.

Dieser Trick hätte unter gewöhnlichen Umständen damit geendet, daß der Verfolgte Justus gerade gegenübergestanden, ohne daß dieser die Gelegenheit fand, zu behaupten, er sei ihm erst nachgegangen. Die Umstände begünstigten Justus. Der Ecke gegenüber befand sich außerhalb eines Restaurants ein großer Spiegel und in diesem erhaschte Justus einen Blick auf »seinen« Mann, gerade eine Sekunde, ehe dieser die andere Richtung einschlug.

Wie der Blitz stürzte er in einen Laden, an dem er vorbeiging und machte die Tür hinter sich zu.

Er wartete einen Augenblick und lugte dann über den Vorhang, der den unteren Teil der Tür verdeckte. Vergnügt rieb er sich die Hände, denn der Fremde, der bei seinem Umdrehen niemand vor sich sah, den er erkannte, blieb verwundert und unentschlossen stehen. Dann schüttelte er den Kopf und wandte sich abermals, um nun in der bisherigen Richtung weiterzugehen.

Inzwischen näherten sich aber Justus die Geschäftsleute und Justus sah sich einer stattlichen Dame im schwarzen Seidenkleid gegenüber.

»Was darf ich dem verehrten Herrn vorlegen?« fragte sie. Justus bemerkte zu seiner Bestürzung, daß er in ein erstklassiges Konfektions-Geschäft für Damen geraten war.

»O – hem – ich möchte mich nur nach dem Preise des Mantels erkundigen, des Pelzmantels, der dort im Fenster hängt.«

»Vierhundertundfünfzig Pfund Sterling. Es ist russischer Zobel und Pelze –«

»O, ich danke Ihnen, aber der Preis ist doch wesentlich höher als was ich anlegen wollte –«

»Es ist ein prachtvolles Material dazu verwendet und wirklich äußerst billig,« erklärte die überraschte Dame. »Fräulein Siron, nehmen Sie doch mal das Pelzjakett herunter, damit der Herr sehen kann –«

»Nein, wirklich, bemühen Sie sich nicht,« rief Justus und drängte zum Ausgange.

»Er wird mir entschlüpfen – ich meine, der Betrag ist zu hoch für mich. Entschuldigen Sie. Ich danke Ihnen. Adieu!«

Schweißtriefend kam er wieder auf die Straße. »Hol' der Henker alle Pelze und Rußland dazu,« murmelte er vor sich hin und hielt Umschau. »Wohin mag er gegangen sein?«

Der Unbekannte war nirgends zu sehen. In höchster Aufregung bog Justus abermals um die Straßenecke, die ihm vor wenigen Minuten so verhängnisvoll geworden war. Noch immer keine Spur und schon gestand sich Justus verzweifelt zu, daß er abermals düpiert sei, als sein Blick auf eine vierrädrige altmodische Kutsche fiel, die die Straße hinabfuhr.

Der Wagen kam ihm entgegen, doch als Justus sich auf gleicher Höhe damit befand, kehrte das Gefährt um und der Kutscher schlug wie wütend auf das Pferd und beugte sich nach hinten, offenbar um von seinem Fahrgast Weisungen entgegenzunehmen. Justus fühlte instinktiv, wer dieser Fahrgast war.

Als ob dieser es noch hören könnte und sich darnach richten würde, schrie Justus: »Nein, Sie dürfen nicht fort.«

Aber der Wagen gewann einen guten Vorsprung, auf dem Fußweg drängten sich die Menschen und Justus konnte nicht mehr tun, als den Wagen im Auge zu behalten. Er glaubte selbst nicht, daß er ihn erreichen würde. Schon verging ihm der Atem.

»Das ist schrecklich,« murmelte er, »und wenn sich nicht etwas Besonderes ereignet, werde ich ihn doch verlieren.«

Da stieß er einen Freudenruf aus, denn ein leerer Taxameter hatte ihn überholt und Justus taumelte fast hinein.

»Folgen Sie dem Wagen da vorn«, rief er atemlos dem Kutscher zu und sank auf den Sitz nieder.

Der Taxameter stellte bald eine angemessene Entfernung zwischen sich und dem Gegenstand der Verfolgung her und so begann wiederum die Nachreise, aber dieses Mal wesentlich günstiger für Justus. Das einzige, was ihm jetzt Sorge machte, war der Zweifel, ob das Cab auch tatsächlich den Unbekannten enthielt. Aber der Zweifel wurde auch bald behoben durch den Anblick eines ergrauten Kopfes und breiter Schultern, die aus dem Fenster an der vor dem Wind geschützten Seite hervorkamen, während ihr Besitzer die Straße hinter sich einer genauen Prüfung unterzog.

Justus zog sich in seinen Taxameter zurück. Hatte der Mann ihn jetzt gesehen? Das war wohl kaum der Fall. Er war ja auch schnell wieder verschwunden und der Wagen da vorn setzte die Fahrt gemächlich fort, die durch lange Straßenzüge ging, um auf dem Berkeley-Platz zu enden.

»Hallo,« rief Justus, »er hält ja vor dem Westschen Hause.«

Das stimmte. Das Wagenfenster wurde herabgelassen. die Tür geöffnet und der Fremde sprang heraus. Er lohnte den Kutscher ab und stieg die Vorderstufen von dem Hause des Herrn West hinan.

Auch der Taxameter hatte angehalten. Der Kutscher sah sich fragend um, doch Justus blieb ruhig sitzen, bis der Fremde verschwunden war.

»Im Hause von West? Mein Himmel? Was mag er dort wollen?«

Wie sollte Justus darauf eine Antwort finden?

Die Haustür wurde geöffnet und der Unbekannte dort eingelassen. Nun stieg Justus zögernd aus dem Wagen, zahlte dem Kutscher und, während er sich außer Sehweite von den Fenstern hielt, betrachtete er die wieder verschlossene Tür und hatte Stoff zum Nachdenken.

Wie merkwürdig das alles war.

Der Mann, der sich jetzt im Hause von West befand, war doch derselbe. der den grimmigen Streit mit dem Finanzier gehabt, aus dem allem Anschein nach so viel Unheil entstanden war. Gewiß, es war sonderbar und noch viel sonderbarer, daß er jetzt dort hingegangen war, wo er wußte, daß sich West in Hast befand, hatte er doch das Abendblatt gelesen und dann zusammengeknüllt. Er muhte also nach Fräulein West gefragt haben. Aber weshalb? Er kannte sie ja gar nicht. Sie hatte Millbank gesagt, daß sie den Mann nicht kannte. Wie unglaublich das alles war!

Und der Mann blieb im Hause.

Er blieb so lange, bis Justus, von überwältigender Neugier getrieben, sich dem stillen Hause immer mehr näherte, mit fragenden Augen darauf starrte, die Ohren gespitzt und so einem gutgedrillten Vorstehhunde oder einem Foxterrier glich, der auf ein Kaninchen wartet, bis es sich aus seiner Höhle wagt.

Was würde Justus darum gegeben haben, hätte er im Hause sein können, um die Unterredung mit anzuhören, die zwischen Sophie West und dem Fremden stattfand.

Es war ihm nicht möglich, einen triftigen Grund zu finden, mit dem er seine Anwesenheit hätte entschuldigen können; so blieb ihm nichts anderes übrig, als seufzend auf den Zutritt im Hause zu verzichten. Plötzlich fiel ihm ein, daß sein Jagdwild doch endlich wieder herauskommen müsse, um dann gewahr zu werden, von ihm verfolgt worden zu sein. Bei dem Spionieren wollte sich Justus nicht ertappen lassen und deshalb entfernte er sich vom Hause und sah sich nach einem Versteckplatz um, wofür er gerade in den letzten Tagen Routine bekommen hatte. Sie nützte ihm aber schlecht in diesem Augenblicke, denn während er mit dem Rücken gegen das Haus gewandt dastand, kam jemand da heraus, entdeckte ihn und stülpte ihm mit dem Schlage einer hammerfesten Faust den Hut bis über die Augen hinunter.

Schwindelig und geblendet, schwankte Justus und sank schwer aus das Pflaster nieder. Dann hoben sich seine Hände zu dem glänzenden Seidenzylinder, der seine ganze Form verloren hatte und ihm die Augen zudrückte. Ein kräftiger Zug, noch einer und damit hatte er den Hut vom Kopfe entfernt. Er rieb sich die Stirn und den schmerzenden Kopf. Dann kam er zu sich, blickte umher und rief: »Das war er. Verteufelt, daß ich ihm den Rücken zuwandte. Der Feigling! Und nun ist er fort.«

»Wer ist fort?« fragte eine bekannte Stimme neben ihm. Georg Millbank stand an seiner Seite.

»Er!« wiederholte Justus. »Der Unbekannte, der in mein Bureau kam, in den Kamin hinaufblickte, der Mörder. Aber haben Sie ihn nicht gesehen? Er muß Ihnen doch begegnet sein.«

»Ich glaube, daß ich jemand von hier fortlaufen sah, als ich über den Platz kam, ich beobachtete Sie jedoch, wie Sie mit Ihrem Hute beschäftigt waren. Ich erkannte den Mann nicht und wunderte mich, was Sie denn eigentlich trieben. Erzählen Sie mir doch, was geschehen ist?«

»Den hat er mir über den Kopf geschlagen.« entgegnete Justus und zog Millbank nach der Straße hin. auf die er gewiesen. »Halten wir uns nicht damit auf. Wir müssen ihm nach, wir dürfen ihn nicht verlieren. Kommen Sie!«

Sie eilten in der Richtung, die der Fremde eingeschlagen haben mußte, davon, doch ihr Gespräch hatte Zeit gekostet, und als sie die Stelle erreichten, war von ihm natürlich keine Spur zu entdecken. Er war verschwunden und allem Anschein nach auf immer. Traurig kehrten sie zu dem Square zurück. Unterwegs erzählte Justus von seinen Erlebnissen bis zu der Zeit, wo Millbank ihn angesprochen hatte.

»Gott im Himmel!« sagte dieser bestürzt, »was kann der Mann von Fräulein West gewollt haben? Und weshalb hat er sich gegen Sie so abscheulich benommen? Das ist eine ernste Sache, besonders nachdem er uns in Ihrem Bureau eingeschlossen hat. Ich darf gar nicht daran denken, daß er die ganze Zeit über mit Sophie allein gewesen ist. Wie wird er sie in Angst und Schrecken versetzt haben! Er mag sie vielleicht auch tätlich angegriffen haben. Schnell, lassen Sie uns nachsehen!«

Er stürzte die Stufen hinauf und schellte.

Offenbar hatte sich nichts Besonderes ereignet, denn Butt zeigte ruhige und gesetzte Mienen, als er die Tür öffnete. Er meldete auch sofort, daß sich das gnädige Fräulein im kleinen Salon befände und soeben den Tee befohlen habe.

»Gott sei Dank! Sie ist unverletzt!« rief Millbank. worüber sich der alte Diener sehr verwunderte. »Fragen Sie Fräulein West, ob sie Herrn Wise und mich empfangen will. Bitte, recht schnell, Butt!«

Der Alte zögerte nicht einen Augenblick und kam mit bejahender Antwort zurück. Er führte sie zu seinem Fräulein.

Sie saß in dem kleinen Salon, neben ihr der Teetisch mit dem Gerät. Sie hatte sich indeß damit noch nicht beschäftigt und sah traurig und nachdenklich aus, als sie sich erhob, um ihren Besuch zu begrüßen.

»Armes junges Ding.« sagte sich Justus bei ihrem Anblick, denn ihm fiel ihre Blässe und die dunklen Ringe unter ihren schönen Augen auf. »Das nimmt sie furchtbar mit und vielleicht weiß sie noch mehr als ich.«

»Noch nichts Neues von meinem Vater?« fragte sie besorgt, als Millbank ihre Hand ergriff.

»Leider nichts bis jetzt, aber sage uns. denn es ist von größter Wichtigkeit, Sophie, was wollte der Mann, der eben hier gewesen ist, von Dir?«

Sie fuhr zusammen. »Der Mann« – sie stockte und errötete. »Wieso weißt Du, daß jemand bei mir war?«

»Herr Wise ist ihm bis hierher gefolgt und sah ihn fortgehen. Er griff Herrn Wise, der draußen wartete, auch tätlich an und entfloh dann.«

»Er griff Sie an? Ach. wie leid tut mir das. Herr Wise. Hoffentlich hat er Ihnen kein Leid zugefügt.«

»Ach, es ist nichts.« erwiderte Justus verwirrt und beschämt. »Er hat mir nur den Hut eingetrieben.«

»Ich freue mich wirklich, daß es nichts Schlimmeres ist, denn ich fürchtete schon, er hätte Sie verwundet – es ist sicherlich ein roher Mensch.«

»Aber Sophie, wer ist es denn eigentlich? Du sagtest jüngst, Du kennst ihn nicht und doch – kennst Du ihn jetzt?«

Das junge Mädchen wurde sehr verlegen und sie wich den Blicken Millbanks aus. »Nein, ich kenne ihn nicht. Ich weiß auch heute noch nicht, wer er ist. Aber ich erinnere mich seiner von jenem Tage – wenigstens seines Aussehens von dem Tage, an dem er den gräßlichen Zank mit meinem lieben Papa hatte.«

»Es war also derselbe Mensch und nun kam er hierher, um mit Dir zu sprechen?«

»Ja.«

Millbank war über das Benehmen seiner Braut sehr verwundert; Justus beobachtete sie gespannt. »Aber, was sagte er denn zu Dir. Sophie? Was wollte er denn von Dir?«

Fräulein West wurde noch bleicher und schwieg; sie kämpfte gegen Tränen an.

»Ach, ich kann es Dir nicht sagen – ich kann es nicht,« preßte sie endlich heraus.

Justus erhob sich. »Vielleicht hält meine Anwesenheit Fräulein West von der Mitteilung ab. Ich komme in kurzer Zeit zurück oder besser, ich werde in einem anderen Zimmer warten.«

Millbank wandte sich zu Sophie, und da er bemerkte, daß sie erleichtert schien, nickte er Justus zu.

»Ja. Herr Wise, warten Sie einige Minuten im Rauchzimmer, ich werde gleich bei Ihnen sein.«

Fräulein West blieb regungslos. Sie blickte mit starren Augen ins Leere. Justus verbeugte sich und suchte das Rauchzimmer auf, in dem er schon früher einmal gewesen war. Seine Neugierde war auf Siedehitze gelangt.

»Sie wird sich aussprechen, wenn sie mit ihm allein ist,« grübelte er. »Was es jetzt wohl noch geben wird? Uebrigens erinnert mich das an den Brief, der die Zusammenkunft im Bureau der Wapiti Gesellschaft vereinbarte. Vermutlich liegen dergleichen Dinge hier nicht mehr herum, es ist das kaum glaublich, denn jetzt wird die Polizei hier wohl gründlich aufgeräumt haben. Der Schutzmann, der mich jüngst hier so forschend anblickte, scheint nicht mehr im Hause zu sein.«

Wie sich das auch verhalten mochte, niemand störte Justus, als er das Zimmer durchwanderte und er seine außerordentlich scharfen Augen auf jedem Gegenstand ruhen ließ, an dem er vorbeikam. Auf Briefe fiel sein Blick nicht mehr, und allmählich verzichtete er auf jeden Fund und setzte sich, die Rückkehr Millbanks geduldig erwartend.

Es verfloß geraume Zeit. Dennoch war Millbank nicht in der Lage, ihm etwas zu sagen, das seine Neugierde hätte befriedigen können. Millbank selbst schien von Zweifel und Sorge gepeinigt zu sein, er sah viel älter und ernster aus als zu der Zeit, in der er Justus an diesem Nachmittage angesprochen hatte.

»Ich stehe vor einem undurchdringlichen Rätsel, Herr Wise. Sie hat mir tatsächlich gar nichts anvertraut. Ich hoffte von ihr eine Erklärung über den Zweck des Besuches jenes Mannes zu erhalten und den Inhalt ihres langen Gespräches mit ihm, statt dessen richtete sie lediglich Fragen wegen ihres Vaters an mich und wie weit wir mit unserem Suchen nach dem richtigen Verbrecher seien. Als ich ihr dann sagte, daß unser Verdacht sich in einer bestimmten Richtung bewege, und zwar auf den Mann, über den ich von ihr Auskunft zu haben wünschte, zuckte sie zusammen, wurde totenblaß und nahezu ohnmächtig. Was sein Besuch zu bedeuten habe, sagte sie mir aber nicht. ›Ich kann es Dir nicht sagen!‹ wiederholte sie fortwährend. Es handle sich um Geschäftsangelegenheiten, in die ihr Vater verwickelt sei, es wäre ein Geheimnis und mehr könne sie nicht sagen.«

»Eine Geschäftsangelegenheit. Ein Geheimnis?« wiederholte Justus – »das sie selbst Ihnen nicht sagen wollte –«

»Ja. Ich kann es Dir nicht sagen – ich kann es Dir nicht sagen.« Noch immer klingt ihre klägliche Stimme in mein Ohr. »Ich habe mich verpflichtet zu schweigen, es wäre verhängnisvoll, würde ich es Dir sagen, es würde Papa ins Verderben stürzen. Das sagte er, er beschwor es und ich wagte es nicht –«

»Würde ihren Vater ruinieren?«

»Ja, so sagte sie und schluchzte dabei herzerweichend.«

»Wie schrecklich für sie und auch für Sie! Seltsam, seltsam. Herrn West vernichten? Ach, er wird lediglich versucht haben, der jungen Dame Schrecken einzuflößen, denn die Lage für Herrn West kann doch gar nicht schlimmer werden, als sie jetzt ist; er ist ja schon verloren, wenn es uns nicht gelingt, ihm zu helfen. Aber, daß wir ihr helfen können, die so verschwiegen ist, glaube ich noch weniger. Machte sie denn keinerlei Andeutungen?«

»Sie erwähnte ein Schriftstück, von dem ich annehme, daß der Mann es von West herauszubekommen suchte,« entgegnete Millbank nach kurzem Sinnen. »Vielleicht war das die Veranlassung, noch einmal hierherzukommen, sie sprach davon aber nur unbestimmt, es war, als ob sie das mehr zu sich selbst sagte, denn als ich später in sie drang, mir mehr darüber mitzuteilen, schlug sie mir es aus.«

»Ein solches Schriftstück mag ja gerade die Ursache des Streites zwischen Herrn West und dem Manne bilden.«

»Ja. Sie haben recht. Jemehr ich darüber nachdenke, jemehr weiß ich, daß es sich so verhält, so viel hat sie mir unfreiwillig verraten. Mehr konnte ich aber heute nicht aus ihr herausbringen. Sie war, ehe ich sie verließ, in einem Zustande, in dem ich nicht länger in sie dringen durfte; ich hätte wohl dabei meinen Zweck erreichen können, sie wäre aber zusammengebrochen. Deshalb hörte ich mit meinen Fragen auf, beruhigte sie, so gut ich das eben vermochte, und jetzt wird sie sich wohl zur Ruhe begeben haben. Ich werde sie aber morgen früh sehr zeitig wiedersehen. Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir zusammen hingehen. Sie können dann warten, während ich mit ihr spreche, und hoffentlich wird sie den Schrecken von heute überwunden haben und mitteilsam sein. Die arme Kleine, stellen Sie sich doch einmal ihre Lage vor. Ich als Mann verliere schon dabei den Kopf.«

Justus nickte. »Gewiß, Herr Millbank, trotz all' meiner Erfahrungen in verzwickten Dingen fühle ich doch mit Ihnen ganz besonders mit. Ich will Ihnen auch gestehen, daß ich selbst noch keinen klaren Weg vor mir sehe und von einem starken Kopfschmerz gequält werde. Sie haben vollkommen recht, es hätte sicherlich keinen Zweck, Fräulein West heute noch weiter zu quälen. Sie sagten, daß sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen habe, um sich zur Ruhe zu begeben.«

»Ja, ich hoffe es.«

»Sehr gut, sehr gut. Das ist auch das klügste, das sie tun konnte, und vielleicht wird sie morgen imstande sein, uns etwas zu sagen, das von großem Wert für uns ist. Sie wird sich erholt haben, wie Sie selbst meinen. Daß der grauhaarige alte Herr bei der ganzen Angelegenheit den Mittelpunkt bildet, wird mir immer einleuchtender, Herr Millbank. Bis jetzt hat er noch immer bei den Begebnissen mit mir ganz besonderes Glück gehabt, schauen Sie sich nur einmal meinen Hut an, aber das Blättchen wird sich schon einmal wenden. Es handelt sich ja fast um meinen Ruf in dem Kampfe mit ihm. Ich will Sie morgen früh hier gern treffen. Sagen wir elf Uhr, ich bin pünktlich und Sie dürfen sich auch sonst ganz auf mich verlassen.«

Sie trennten sich. Millbank kehrte in seine Wohnung zurück, während der Privatagent Wise sein Bureau noch einmal aussuchte, um die Begebenheiten des Tages einer gründlichen Betrachtung zu unterziehen.


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