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Kapitel 8.

Verhaftet!

Wise ging seinem Begleiter hurtig voran.

Er hatte Millbank versprochen, daß sie ihre Unterredung während des Weges fortsetzen würden, in Wirklichkeit war er aber durch die Neuigkeit, die er soeben gelesen, viel zu ausgeregt, um sich ruhig unterhalten zu können.

Der Ermordete – sein Fund – identifiziert, die Polizei aus der Spur! Und er, Justus Wise, kalt gestellt. er, der auf alle Fälle viel, viel mehr wußte, als die Polizei ahnen konnte! Was wußte sie denn überhaupt? Das war es, was er jetzt auf diesem Wege herauszubekommen suchte. Er wußte wohl, daß es nicht leicht war, dies festzustellen, aber er besaß ein unbeschränktes Vertrauen zu sich selbst und damit glaubte er, auch hier zum Ziele zu kommen. Ueberdies hatte er einen Bekannten, dem er noch etwas Geld schuldete, das er bis jetzt vergessen hatte zurückzuzahlen, und aus diesem Grunde setzte er gerade in ihn starke Hoffnungen. Doch das Schicksal wollte ihn noch nicht so bald mit seinem Gläubiger zusammenführen.

Nachdem sie aus der Berklandstraße in die Hauptverkehrsader eingebogen waren, stieß Millbank, der Justus wie in einer Art Traum folgte, mit einem Herrn heftig zusammen, der von der entgegengesetzten Seite um die Ecke kam.

Der Fremde entschuldigte sich und kehrte dann in gleicher Richtung zurück wie die beiden Herren, als Justus sich jetzt gerade nach seinem Begleiter umsah. Hatten ihn auch die letzten Tage an mancherlei Ueberraschungen und an ein gar merkwürdiges Zusammentreffen von Ereignissen gewöhnt, dem gegenüber, was er jetzt sah, war er völlig sprachlos. Denn der Unbekannte, der sich bereit erklärt hatte, ihm dreißig Pfund Sterling und mehr dafür zu zahlen, wenn er ihm die Adresse von Georg Millbank nannte, war gerade der Mensch, mit dem Millbank soeben karamboliert hatte. Sie hatten sich beide in die Augen gesehen, sich gegenseitig entschuldigt und waren dann ihres Weges weiter gegangen. Von einer Bekanntschaft konnte keine Rede sein. Dazu sahen Wises Adleraugen zu scharf – er hätte sein Leben darauf verwettet, daß sie sich völlig fremd waren.

Nun wanderte sein Blick von dem jungen Manne neben ihm aus den breiten Rücken des Fremden, der wenige Schritte vor ihnen dahinschritt. Wise nahm ein langsames Tempo an und überlegte sich, ob es nicht richtig wäre, an dem Unbekannten vorüber zu gehen.

Dieser ging gemächlich vorwärts, schaute weder rechts noch links und gab Wise doch die Möglichkeit, seine Absicht auszuführen, ohne das Millbank etwas davon merkte. Es blieb aber zu fürchten, daß der Unbekannte jeden Augenblick stehen bleiben konnte, um sich eine Geschäftsauslage anzusehen, und Wise mußte immerhin einen Entschluß fassen. Aber auch hier beantwortete das Schicksal die Frage.

Während Wise noch nachsann, kamen ihnen die Ausläufer mit gellendem Geschrei entgegen, die eine neue Ausgabe der Abendzeitungen noch feucht vom Druck feilboten.

Welche Neuigkeiten da ausgeschrien wurden, war Wise kaum verständlich, aber der Fremde mußte sie verstanden haben, denn er beeilte sich, den ersten Jungen abzufassen, dem er eine Kupfermünze gab und dafür das rosafarbene Zeitungsblatt in die Hand nahm, das er mit einer Gebärde höchster Erregung auseinander faltete.

Justus blieb stehen und beobachtete ihn mit wachsender Neugier, Millbank verwunderte sich über das Verhalten seines Begleiters und folgte der Richtung seiner Blicke.

Was der Fremde las, war sicherlich nicht dazu angetan, seine Erregung herabzustimmen, denn nachdem er eine gewisse Spalte mehrmals gelesen, zerknitterte er wütend das Blatt, schleuderte es von sich und starrte wie geblendet um sich her. Dann streckte er die Hand ungestüm empor und setzte seinen Weg fort.

Justus behielt ihn noch im Auge und winkte einen Zeitungsjungen heran.

»Hier, mein Herr! Das Neueste über den schrecklichen Mord des afrikanischen Herrn. Verhaftung von William West! William West, der große Finanzmann verhaftet! Hier, mein Herr. Danke!« schrie der Bursche wie toll.

»West verhaftet!« Wise riß das Blatt an sich und Millbank sprang mit einem Schreckensruf neben ihn. William West verhaftet!

Zusammen lasen sie die Zeitungsnotiz. Ja, es war wahr! William West war verhaftet und nach der Bowstraße überführt aus Grund einer Anklage, an dem Tode von Peter Dunton, Kaufmann aus Südafrika, mitschuldig zu sein, der ermordet war und dessen Leiche man in der Themse aufgefischt hatte.

Eine Sturzwelle von Gedanken strömte auf Wise ein, nachdem er das Gelesene in sich aufgenommen. Er wandte sich schnell nach der Stelle um, wo er den Unbekannten zuletzt gesehen hatte. Das war natürlich zwecklos; jener war in der Menge verschwunden und was zunächst für Justus von ihm übrig blieb, war nur das rosafarbene zusammengeballte Papier, das im Rinnstein lag.

Aus seiner Grübelei wurde Wise durch einen starken Griff am Arme erweckt. Millbank hatte ihn gepackt und beugte sich mit gerötetem Gesicht und vor Erregung blitzenden Augen zu ihm nieder.

»Gott im Himmel, das ist ja furchtbar, Herr Wise! Meine arme Sophie! Das ist ihr Tod! Sie liebt ihren Vater grenzenlos. Es kann nicht wahr sein, Herr Wise. Er kann das nicht getan haben. Nein, bei Gott nicht. Er hat mich nicht gut behandelt, er mag seine Fehler haben, er ist aber kein Mörder! Dafür setze ich mein Leben zum Pfande. Es ist nicht wahr. Die arme Sophie. Ich muß sofort zu ihr. Mein liebes, gutes Mädchen voller Verzweiflung und keinen Menschen, der sie tröstet. O, Herr Wise. Sie sind klug und erfahren. Sie werden uns beistehen und uns helfen. Kommen Sie mit mir und sehen Sie, was sich tun läßt. Können Sie, wollen Sie?«

Wise raffte sich auf.

»Gewiß, Herr Millbank. Sie können selbstverständlich auf mich zählen. Beruhigen Sie sich, bitte. Es ist wirklich eine schreckliche Nachricht und Fräulein West wird Ihres Beistandes und Ihres Trostes dringend bedürfen.«

»Sie kommen also gleich mit mir? Sie wollen mir helfen?«

»Weshalb nicht?« sagte er sich. »Die andere Angelegenheit kann noch eine Stunde warten. Wie sonderbar das alles ist. Ich werde mir keine Chance dabei entgehen lassen,« und laut wiederholte er:

»Gewiß, ich werde Sie begleiten. Verlassen Sie sich nur auf mich, mein junger Freund, ich werde Ihnen meine ganze Zeit widmen. Ich hatte zwar eine Verabredung, aber unter diesen traurigen Umständen muß ich sie verschieben. Lassen Sie uns sogleich zu Fräulein West fahren.«

Millbank rief ein vorüberkommendes Auto an und sie stiegen ein.

Die Fahrt gab Wise Gelegenheit, darüber nachzusinnen, was den Unbekannten wohl so aus der Fassung gebracht haben mochte. Er glaubte, annehmen zu dürfen, daß es nichts anderes war als die Meldung von der Verhaftung von West. Und daran schlossen sich die weiteren Fragen: Kannte der Mann den Finanzier! Oder war er gar der Fremde, der diesen besucht und sich mit ihm gezankt, ihn bedroht hatte?

Mit diesen Gedanken beschäftigt, schwieg Wise und Millbank, der voll Ungeduld und Unrast war, verspürte auch keine Neigung, sich zu unterhalten.

Endlich hielt der Chauffeur an Berkeley Square an und sie sprangen ab.

Millbank hielt sich nicht auf, warf dem Fahrer eine halbe Krone hin und eilte die Stufen zum Haustor hinauf; Wise folgte ihm.

Auf ihr Klingeln öffnete ein alter Diener die Tür. Er sah elend und besorgt aus, seine Züge erhellten sich aber bei dem Anblick Millbanks. Doch gleich darauf trübten sich seine Augen wieder.

»Das gnädige Fräulein – Herr Georg? Ja, Herr, sie ist zu Hause, nun – Sie wissen doch, Herr Georg, der gnädige Herr hat befohlen –«

Millbank unterbrach ihn hastig. »O, ja, Butt, ich kann es mir gut denken, – ich sollte nicht hineingelassen werden. Aber, Mann, das ist doch jetzt natürlich etwas ganz anderes. Fräulein West weiß wohl, was in den Zeitungen steht, das brauche ich nicht erst zu fragen –«

»Ob sie es weiß, Herr Georg? Wie sollte das wohl anders möglich sein? Hier ist ja alles geschehen. Sie sind ja gerade hierhergekommen und einer von ihnen ist noch im Hause. Ach, Herr Georg, Sie glauben doch auch nicht, daß da etwas Wahres d'ran sein kann.«

»Nein, nicht einen Augenblick. Es muß ein toller Irrtum vorliegen, Butt. Also die Polizei ist noch hier? Ich glaube aber kaum, daß man mich daran hindern wird, Fräulein Sophie zu sprechen.«

»Gewiß nicht, Herr Georg. Weshalb sollte man das wohl tun? Ich denke auch, daß sich jetzt alles geändert hat und ich Sie hereinkommen lassen darf. Aber wenn die Sache erst beigelegt ist und der gnädige Herr erfährt, daß ich gegen seinen ausdrücklichen Befehl gehandelt habe, dann müssen Sie mir aus der Patsche helfen.«

»Gewiß, Butt, das wird schon alles in Ordnung kommen. Wo ist sie?«

»Im ersten Stock. Das gnädige Fräulein weint in einem fort, seitdem man den Herrn weggeführt hat. Ich will melden, daß Sie hier sind, bitte gehen Sie einstweilen ins Rauchzimmer. Unser armes Fräulein! Sie wird froh sein, Sie wiederzusehen, Herr Georg. Das kann ich mir denken.«

Er führte die beiden in ein Rauchzimmer im Hochparterre, nachdem ein Herr erschienen war, der Millbank einen oberflächlichen Blick gegönnt und den Privatagenten forschend angesehen hatte.

Millbank zappelte nervös vor dem Kamin, Wise umfaßte mit einem verständnisvollen Blick den Raum.

West hatte Geld, daran war nicht zu zweifeln, alles in dem Zimmer bedeutete Reichtum, der vernünftig, wenn auch nicht verschwenderisch zur Geltung gebracht war. Der Agent zog die Brauen hoch, wie schade, daß er den Mann nicht besser und nicht früher kennen gelernt hatte!

Die Tür öffnete sich und ein junges Mädchen trat ein. Es war eine junge, frische und anmutige Erscheinung und wenn auch das liebliche Gesicht die Tränenspuren deutlich zeigte, so meinte Justus doch, ein so reizendes Mädchen noch nie gesehen zu haben.

Bei dem Anblick des fremden Herrn war Fräulein West zurückgewichen, Millbank ging auf sie zu.

»Nur ruhig, liebe Sophie! Das ist Herr Justus Wise, ein guter Bekannter von mir, der mir versprach, uns beizustehen. Aengstige Dich nicht, Liebste! Es muß unbedingt da ein Irrtum vorliegen, den wir schon richtig stellen werden, damit Dein Vater bald wieder ruhig in sein Haus zurückkehren kann.«

Justus Wise machte seine beste Verbeugung und Sophie West versuchte mit einem schwachen Lächeln den Gruß zu erwidern. Millbank hatte ihre Hand ergriffen, seine Berührung brachte aufs neue Tränen in ihre Augen.

»Glaubst Du wirklich, daß er so bald heimkehren wird?« schluchzte sie. »Ach, Georg, ich war so entsetzt – die Polizei kam hierher und dann –«

»Ja, Liebste, sehr gut, laß nur,« entgegnete Millbank und führte sie zu einem Ruhesitz. Er bot alles auf, sie zu trösten und ihre Tränen zu trocknen, während Wise sich diskret umwandte.

Das Zimmer war so groß, daß er nach einer Weile, als er fand, wie sich das junge Pärchen seiner Anwesenheit gar nicht mehr bewußt war, unbemerkt einen großen Lehnsessel aufsuchte, der mit flaumig weichen Kissen bedeckt war. Er rieb sich die weißen Hände und blickte fast väterlich auf die beiden hinüber.

Es lag ein Stück Sentimentalität in Justus Wise, solange das nicht mit dem Geschäft in Widerspruch geriet, und so wäre ihm die Zeit durchaus nicht lang geworden, die Liebenden zu betrachten, es hätte ihm das sicherlich große Freude bereitet, wenn nicht ein Zwischenfall seine Aufmerksamkeit abgelenkt haben würde.

Während er sich sehr behaglich in den Kissen hin und her schob, entdeckte er plötzlich, daß unter ihm ein Papier raschelte. Das Rascheln und Knistern wurde offenbar durch die Bewegungen seines Körpers verursacht, und nachdem er eine Hand unter das Kissen geschoben hatte, fühlte er auch, daß da ein Brief lag. Immer geistesgegenwärtig, umschlossen seine Finger sofort das Schriftstück und seine Augen wanderten zu dem Paare am anderen Ende des Zimmers.

Das nahm nicht die geringste Notiz von ihm oder von dem, was er trieb. So beförderte er den Brief allmählich ans Tageslicht. Noch immer kein Zeichen von Millbank oder dem Fräulein, die flüsternd Hand in Hand dasaßen. Justus blickte auf seinen Fund.

Auf einem Briefbogen des Hotel Metropole geschrieben standen die Worte:

24. Oktober.

»Lieber William.

Finde Dich im Wapiti Bureau Mittwoch nachmittag unbedingt ein. Bedenke, es ist die letzte Frist!

Dein Peter.«

Das Bureau des Wapiti Syndikates! Peter! Peter Dunton?!

Die Augen von Justus Wise traten förmlich aus ihren Höhlungen.

Ein kurzer Blick auf die Liebenden, die noch immer Hand in Hand dasaßen – und schnell glitt der Brief in seine Tasche.

Das Bureau der Wapiti Gesellschaft! Ja! In dem Gebäude, das dieses Bureau enthielt – in dem hinteren Zimmer seines eigenen Bureaus war Duntons Leiche zuerst gefunden worden. Und Dunton selbst hatte West aufgefordert, sich da mit ihm zu treffen. West war dieser Aufforderung gefolgt.

Justus sah zu Sophie West hinüber.

Armes kleines Mädchen!

Welch enorme Bedeutung hatte sein Fund. Und wie kam es nur, daß die Polizei diesen Brief nicht entdeckt hatte?!

Schließlich pflegt man zwar nicht gerade anzunehmen, daß sich das Suchen von Briefen unter Kissen in Lehnsesseln sonderlich verlohnen kann. West mußte den Brief gelesen haben, wo Justus jetzt saß: dort mußte er ihm entfallen sein und so kam er ans Licht.

Mein liebes junges Pärchen, dachte Justus weiter, wie glücklich trifft es sich für Euch, daß ich den Brief fand. Was mag man denn in Scotland Yard für Beweise besitzen? Die Dinge stehen für William West sehr, sehr schlimm. Jetzt wird mir das Interesse Wyvills für die Leichenschauhalle ganz verständlich. Aber wenn Wyvill alles über den Mord weiß, wenn er dort war, was hat er die ganze Zeit über getan und weshalb hat man ihn nicht auch verhaftet? Hallo, sie sind mit Schnäbeln und Kosen fertig.

Millbanks Bemühungen, Sophie zu beschwichtigen, hatten offenbar Erfolg gehabt, denn als das junge Paar sich Wise jetzt nahte, sah Fräulein West viel weniger traurig aus, wenn sie auch noch sehr blaß war.

Wie sich herausstellte, war sie außer stande, noch weitere Auskunft zu geben, als sie bereits besaßen.

Herr West war verhaftet worden, als er beim Frühstück gesessen hatte. Er schien zwar sehr bestürzt, hatte aber zu dem Beamten, der ihm den Verhaftungsbefehl gezeigt, nichts gesagt und sich ganz ruhig abführen lassen, nachdem er sich von seiner Tochter verabschiedet, die sich an ihn geschmiegt und der er die Versicherung gegeben, daß sie guten Muts bleiben könne, weil er bald wieder bei ihr sein würde. Dann waren sein Schreibtisch und seine sämtlichen Papiere untersucht worden, auch sein Arbeits- und sein Schlafzimmer und ein Beamter, den sie beide beim Durchschreiten der Eingangshalle bemerkt haben würden, war im Hause geblieben.

Von der vollständigen Schuldlosigkeit ihres Vaters überzeugt, hatte Sophie von Augenblick zu Augenblick während des ganzen Vormittags auf seine Heimkehr gewartet, befand sich aber gerade vor einem vollständigen Zusammenbruch, als Georg Millbank und sein Begleiter sie aufsuchten.

Beide jungen Leute erwarteten offenbar von Justus Rat und Hilfe und dieser Unglücksmensch fühlte sich jetzt mit dem knisternden Briefe des Ermordeten in seiner Tasche in einer wenig beneidenswerten Lage.

Trotzdem versuchte er, die Angelegenheit günstig zu färben, und es gelang ihm, das bedauernswerte Mädchen in eine solche Stimmung zu versetzen, daß Millbank und er sie allein lassen konnten, um sich nach dem Polizeigefängnis nach der Bowstraße zu begeben, wo sie sich nach dem Ergehen von West und dem Stand der Dinge erkundigen wollten.

Während sie auf dem Berkeley Square auf eine Droschke warteten, fragte Millbank:

»Natürlich hat West den Mann nicht ermordet! Weshalb sollte er eine solche Tat begangen haben? Aber wenn er nicht bald entlassen wird, geht sie zu Grunde. Wie töricht doch unsere Polizei ist! Aber wie tapfer ist sie auch! Ist sie nicht ein Engel? Gott sei Dank, daß wir sie haben. Ich habe Sophie mein Wort gegeben, daß ich nicht eher ruhen noch rasten werde, bis ich den wirklichen Täter gefunden habe, sodaß ihr Vater in Freiheit gesetzt wird. Und das werde ich doch mit ihrer Hilfe können. Sie begreifen, was das alles für mich bedeutet. Herr West wird dankbar gegen mich sein und dann –«

Justus seufzte. Unwillkürlich umschloß seine Hand den Brief, den er in der Tasche hatte. »Ja, ich sollte meinen, daß er Ihnen dankbar sein müßte,« dachte er. »Mein lieber junger Freund, ich wünsche mir auch nichts Besseres, als Herrn West aus der Patsche zu ziehen und« – in Erinnerung an das Lächeln Sophies beim Abschied – »nichts wäre mir lieber als die Angst dieses süßen jungen Dinges beheben zu können, aber ich fürchte, ich fürchte – – Wäre es wohl möglich, daß sich schließlich doch alles als ein Irrtum herausstellen könnte? Kaum; ich habe selten eine Angelegenheit gesehen, die schlimmer für den Beschuldigten stand als diese.«

Und laut sagte er: »Wir wollen unser Möglichstes tun, lieber junger Herr. Sie müssen aber selbst zugeben, daß die Dinge recht schlecht stehen. Durch Geschicklichkeit und Erfahrung erreicht man zuweilen manches. Ich gehöre Ihnen mit Leib und Seele. Wir wollen auch nicht das geringste versäumen, um dem unglücklichen Manne zu helfen. Also sehen wir erst einmal, was wir in der Bowstraße erfahren.«

Sie erfuhren dort aber wenig Erfreuliches.

Herr West war dem Untersuchungsrichter vorgeführt worden, hatte sich auf sein Alibi gestützt und die weitere Verhandlung war nach englischem Gesetz vertagt worden, die Anklage blieb bestehen. Die Polizei war auf Grund einer ihr zugegangenen Mitteilung eingeschritten, deren Ursprung sie einstweilen nicht verriet; es lag aber auf der Hand, daß die Behörde für die Verhaftung des Beschuldigten triftige Gründe besaß. Dieser hatte auch nicht in Abrede gestellt, mit dem Ermordeten in geschäftlicher Verbindung gestanden zu haben; ferner war von ihm zugegeben, daß er sich mit ihm schlecht gestanden habe. Zur Hauptsache war dann ein schweres Bureau-Lineal mit Blutspuren in der Tasche eines Ueberziehers gefunden worden, der in seinem Schlafzimmer gehangen hatte.

Diese Mitteilung hatte Millbank ganz besonders schwer betroffen.

Schweigend kehrten sie aus dem Amtsgebäude zurück und blieben einen Augenblick an der Straßenecke stehen. Wise sagte sich, daß dieses Lineal in Verbindung mit dem Brief in seiner Tasche und dem Erlebnis, das er mit Dark in seinem Bureau gehabt, auch den bestbeleumundeten Mann nicht vor dem Galgen retten könnte. Wyvill mußte ihm beim Fortschaffen der Leiche geholfen haben. Sollte Wyvill den Kronzeugen abgeben, um sich selbst der Strafe zu entziehen?

Wise legte sich nun die Frage vor, ob er der Polizei sagen sollte, was er wisse, wenn er sich auch dabei in die Nesseln setzen würde.

»Ei, Potztausend!« rief er plötzlich, als er zwei Leute bemerkte, die in regster Unterhaltung begriffen an ihm vorübergegangen waren. Sie kamen so nahe an ihnen vorüber, daß Millbank zum zweiten Male an diesem Tage von dem älteren Manne gestreift wurde Die beiden waren indeß derart vertieft, daß sie gar nicht aufblickten, sondern eifrig weiter mit einander flüsterten. Es waren der Mann, der Wise gestern den Auftrag gegeben, Georg Millbanks Adresse zu erfahren, und Wyvill, der Generalsekretär des Wapiti-Syndikates, an den Wise jetzt eben gerade gedacht hatte.

»Was ist denn los?« fragte Millbank, der bei dem erstaunten Ausruf seines Begleiters sich vergeblich nach der Ursache von dessen Erregung umsah.

Justus faßte ihn am Arm.

»Ich weiß selbst noch nicht – ich kann es Ihnen

nicht sagen – aber sonderbar, sonderbar–Gestern wollte er mit Wyvill nicht zusammentreffen und jetzt scheinen sie befreundet zu sein und den Weg zum Polizeiamt gemeinsam angetreten zu haben.«

»Von wem sprechen Sie denn, Herr Wise? Sagen Sie mir doch, was Sie haben. Handelt es sich um die beiden Herren da vor uns?«

Wise hielt noch Millbanks Aermel fest.

»Ja. Sehen Sie sich den Mann in dem braunen Anzug an, den kleineren mit den langen Armen. Sagen Sie mir offen, kennen Sie ihn nicht?«

Millbank blickte dem Paare nach und schüttelte den Kopf.

»Sie sind mir beide unbekannt.«

»Sehen Sie sie noch einmal an. Wir wollen hinübergehen und sie überholen, so daß Sie sie genauer betrachten können. Aber lassen Sie nicht merken, daß wir sie beobachten. »Nun. kennen Sie den Aelteren wirklich nicht?« Millbank hatte sich noch einmal umgewandt und schüttelte abermals den Kopf. »Nein,« beharrte er. »Einen Augenblick dachte ich, daß mir etwas an ihm bekannt vorkam, aber das war ein Irrtum. Ich bin jetzt meiner Sache ganz sicher, er ist mir völlig fremd.

Wise war ganz davon überzeugt, daß Millbank die Wahrheit sprach: er hatte also keine Ahnung davon, wer der Fremde war.

»Kommen Sie, Herr Millbank, wir wollen einmal sehen, wohin die beiden gehen. Es ist für unsere Angelegenheit nicht ohne Bedeutung.«

Und so folgten sie den beiden.


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