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Drei Wochen später führte der Pastor Stiller seine Marianne als Frau ins Gersdorfer Pfarrhaus heim.
Lohmann war auch zur Hochzeit geladen, teilte aber dankend mit, er müsse unbedingt gerade jetzt verreisen, und sandte eine wertvolle Reproduktion der »Sedia« als Geschenk.
Elisabeth und die Direktorin verstanden ihn völlig. Und Marianne wunderte sich über sich selbst, warum ihr Bedauern, daß er fehlen solle, nicht tiefer ging. Sie schob's schließlich auf ihr unbeschreibliches Glücklichsein.
Als Lohmann von dieser Reise mit übervollem Herzen heimkehrte, kam er auf der letzten Kreuzungsstation vor Gersdorf in einen Wagen zu sitzen, der Abteilungen zweiter und dritter Klassen enthielt.
Ehe er einstieg, sah er an einem Fenster der dritten Klasse das Gesicht des schiefen Kolporteurs, und er erschrak fast über den todfeindlichen Ausdruck, mit dem ihn der kleine Wendehals anstarrte.
Während der Fahrt rüttelte sich die Schiebetür zwischen den beiden Wagenklassen einen Spalt weit auf, und nun hörte Lohmann, wie der Kolporteur seinen Fahrtgenossen gegenüber alle Wut, die in ihm kochte, auslobte und ihn dabei mit allen erdenkbaren ›Ehrentiteln‹ bedachte.
Das konnte ihn nicht aufregen. Der kleine Mann tat ihm noch herzlich leid; denn aus ihm sprachen der Groll und die Verzweiflung dessen, der sich um sein bescheidenes Brot gebracht sieht.
Sehr aber beschäftigte Lohmann, wie sich die andern verhalten würden, die offenbar meist aus Gersdorf waren und wohl auch der Arbeiterbevölkerung angehörten. Er befand sich jetzt vor einer ähnlichen Probe auf den Wert seines Wirkens, wie jüngst der Direktor Lanz in der Streikversammlung. Im voraus aber nahm er sich fest vor, sich durch nichts verstimmen zu lassen, was er etwa hören werde. Denn daß er nicht ganz nutzlos arbeitete, das bewies ja schon die Wut des bisherigen Lieferanten geistiger Kost an die Gersdorfer Arbeiter.
Einige Zeit lauschte er vergeblich.
Er hörte nur die üblichen Ausrufe interessiert Zuhorchender, wie: »Nu do!« – »Su, su!« – »Nu ja, ja, nee, nee!« – »Wär'sch doch!«
Im übrigen schwiegen sich alle aus.
Als aber die Ausfälle des Männleins mit dem »Bande des schwarzen Adlerordens von Leder« immer lauter und maßloser wurden, ertönte die ruhige Stimme eines schon älteren Mannes, die Lohmann sonderbar bekannt vorkam.
»Nee«, sagte er, »wissa Se, woas zu viel ies, is zu viel! Si hoan ju ganz recht, wenn Se und Se sein tücksch, doaß Se a su viel Eibusse hoan. Ober destahoalba ies doas doch no keene Schlechtigkeet ni vo dam Laubnitzer Herrn. Ich kenn' a ni! Ober dar macht ju keene Geschäfte oan ins! Dar kennde ju ganz hübsch stille ei se'm schiena Häusla sitza und vermeintswägen de lange Feife raucha, und do hätt' ha goar keene Unbequemlichkeeta ni. Warum kricht ha denn do ei olla stinkiga Löchern rim und brengt a Leuta schiene Bichla und Bildla? Ha muß doch gutt min'n mit ins.«
Der Kolporteur versuchte eine Gegenrede; aber der Alte fuhr imponierend fort: »Hier'n Se ock amol zu und lohn Se au amol an andern a Wort reda! Ich hoa ollänga gehiert, denn ich lase salber nischte ni meh, weil ich nimmeh gutt sah, und vierlasa koan ich mer au ni lohn; denn sahn S' ock, ich hiere nimmeh gutt. Wenn doas nie wär', do könnde ich ju au immer no miete ei de Fabrike giehn und brauchte de Invalidarente ni.«
Jetzt wußte Lohmann mit einem Male, warum ihm die Stimme so bekannt geklungen hatte: es war der brave Alte, der ihn am Zaune der Fabrikgärten zuerst in Lanzens gemeinnützige Tätigkeit eingeweiht hatte. Und er empfand eine aufrichtige Freude, daß gerade dieser biedere Mann auch sein Anwalt wurde. Denn er hörte ihn nun fortfahren:
»Do hoa ich halt'g vo viela schunt gehiert, doas se und se lasa die Bichla siehr garne, die dar Herr Sanitätsroat brengt und der Herr Vikar, dar itzunder inse Herr Paster 'wurn ies, und dernochert doas hibsche Freilein, woas itzunder seine Frau 'wurn ies –«
»'m Sanitätsroat seine?« fragte eine Frauenstimme dazwischen.
»I, tummes Zeuke!« entrüstete sich der Alte. »Dar hoat schunt graue Hoare, und doas kennde gutt seine Tochter sein! Nee, asu enner ies doas ni!«
Lohmann atmete einmal schwer auf unter der Wucht dieser vox populi, während der Alte wieder in sein Gleis lenkte: »Ja, woas ich soin wullde: se lasa denk' ich olle mitsomma die Bichla siehr garne, und a poarmol hoan schunt de Weiber zu mer gesoit: ›Inse Monne sein viel vernünftiger, seit mer und hoan die schiena Bichla. Suster ginga se ufte eis Wertshaus und koama besuffa heem. Itze blei'n se hübsch derheeme und lasa an Stunde!«
Der Pfiff der Lokomotive gab das Zeichen zur Ankunft in Gersdorf und schnitt die weitere Unterhaltung ab.
Lohmann sprang elastisch aus dem Wagen und eilte seinem Gefährt zu, das hinter dem Bahnhofsgebäude stand: er wollte nicht bemerkt sein.
Mit einem so stillerfreuten Herrn war der Schimmel selten heimwärts getrabt.
* * *
Am andern Tage, es war eine Woche nach Mariannens Hochzeit, saß Frau Malwine gegen Abend strickend in ihrer Plauderecke und überdachte den Wirrwarr dieser letzten Wochen mit Dank gegen Gott im Herzen.
Es war ja alles so gnädig vorübergegangen, und allen winkte ein fröhliches Weihnachtsfest.
»Allen, bis auf den guten Sanitätsrat!« dachte sie. »Wie er nur so drüber wegkommen wird? Der Ärmste, mit seiner verspäteten Liebe! Wie einsam wird's um ihn sein zum Weihnachtsabend! Wir müssen versuchen, ihn herzulocken. Vielleicht kommt er überhaupt bis dahin gar nicht wieder. Reisen lenkt schließlich am besten ab!«
Da klopfte es an die Tür, und in ihrem Rahmen erschien er, an den sie eben mit so viel Teilnahme gedacht hatte.
Sie eilte ihm erfreut entgegen und fand ihn frischer und elastischer aussehend, denn je.
»Wie?« rief sie. »Schon hier?«
»Ja, ich mußte mich doch wohl beeilen!« antwortete er heiter. »Oder soll hier mein ganzes Ressort brach liegen? Jetzt, wo die Gemüter so schön aufgelockert sind?« Und er erzählte ihr, nachdem sie sich in die Plauderecke gesetzt hatten, welche Freude er gestern im Coupé erleben durfte. Mit glänzenden Augen hörte sie ihm zu und sagte, als er geendet hatte:
»Wie ich mich freue, lieber Freund, Sie so reden zu hören! Ich – ich muß es Ihnen einmal sagen – ich war eine Zeit lang wieder so sehr besorgt um Sie! Lieber Freund, es war eine schwere Heimsuchung, die uns da allen gedroht hat. Welch' Glück, daß Sie Ihrer selbst so männlich Herr geworden sind! Sie verstehen mich wohl?« Und dabei legte sie wieder einmal ihre schmale, weiße Hand bittend auf seinen Arm.
»Ganz, liebe Freundin! Es war ein drohendes Wetter und – noch grollt es nach! Aber getrost, es soll an keine andern Ohren dringen!«
»Dafür dank ich Ihnen am meisten! Sie haben unserm lieben Kinde seine Harmlosigkeit erhalten. Wollte Gott, sie könnten zum Lohne dafür noch einmal herzliche Freude an Mariannens Glück empfinden!«
Er stand seufzend auf, trat ans Fenster und sah nach den Laubnitzer Bergen hinüber, die wieder im Neuschnee prangten wie damals, als er zum ersten Male hier hinausblickte.
»Wenn's nur etwas weniger einsam um Sie her wäre da draußen!« wagte Frau Malwine nach kurzer Pause einen kleinen Vorstoß.
Da wandte er sich rasch zu ihr herum und sagte hastig: »Ich komme von meinem Kinde!«
»Herr Sanitätsrat, liebster Freund!« Die Augen der Alten standen voll heller Tränen.
»Ja,« fuhr Lohmann fort, auch mit Rührung ringend, »ich habe den ersten Schritt getan. Und wir sind ausgesöhnt. Zum Weihnachtsfeste wird sie bei mir sein.«
»Mein Gott, welches Glück, welches Glück!«
»Ich halte es auch dafür,« sagte er leise, »nun sie durch diese Schule gegangen ist!«
»Und was hat Sie dazu –?« Sie zögerte.
»Was mich dazu gebracht hat?« Er atmete hoch auf. »Die Erfahrung, die ich an mir selber machen mußte! Liebste Freundin, ich bin hart heruntergefallen vom ›hohen Pferde der Unverzeihlichkeit‹, wie Sie's einst nannten. Wissen Sie noch? Wen aber sechzig Jahre nicht vor der Überflutung von Leidenschaften schützen, sollte der nicht ein Verständnis für eine Dreißigjährige gewinnen, wenn ihr die Zügel einige Zeit entgleiten?« –
Es war lange still in dem dunkelnden Zimmer.
Dann sagte sie, die so viele Falten im Gesicht trug, von fremdem Gram gegraben: »Nun kann's ein köstlicher Abend werden!«
»Jawohl!« bestätigte er. »Ein Abend voll Verstehen, Verzichten und Helfen. Und was könnte ein talwärts Schreitender Besseres tun?« – – – – – –
Ende.