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Sechzehntes Kapitel.

Je mehr Lohmann seine soziale Tätigkeit ausdehnte, desto klarer wurde ihm, was das Ehepaar Lanz schon seit Jahrzehnten wußte, daß jeder, der der Menge dienen will, von vornherein auf den Dank und Beifall der Menge verzichten muß.

Und doch war gerade in diesen Hochsommer-Monaten eine Hast in ihm, sich überall und rastlos im Dienste der Allgemeinheit zu versuchen.

So tat er manches, was mangelhaft vorbereitet war, andres, was gar nicht in die Zeit paßte. Es geschah das unter dem Einflusse einer ihm selbst unverständlichen, schäumenden, prickelnden Unruhe. Er fühlte, daß ihre Quellen in den tiefsten Schächten seiner Brust sprangen; aber er scheute sich, diesen Quellschächten einmal auf den Grund zu sehen.

Er unternahm aber nichts, wobei nicht Mariannen irgend ein Pöstchen an seiner Seite zugefallen wäre.

So hatte er es auch angeregt, daß sie sich an den Vorlesungsabenden beteiligte, die er nun in verschiedenen Gasthäusern von Laubnitz und Gersdorf regelmäßig veranstaltete. Sie brachte auf seinen Wunsch hin durch ihre zwar bescheidenen aber sehr korrekten Klaviervorträge Abwechslung in diese Vorlesungen.

Wo er selbst mit der Einschmuggelung der guten Bücher keinen Erfolg gehabt hatte, betraute er sie damit, und die kindliche Heiterkeit, mit der sie ihm berichtete, wie sie die guten Leutchen zu der erwünschten Lektüre gebracht habe, bereitete ihm ein ebenso tief innerliches Vergnügen wie der Ernst und Eifer, mit dem sie ihren Klavierpart einübte und ausführte. So empfand er's auch kaum als eine Enttäuschung, daß die Zahl seiner Zuhörer der ungünstigen Jahreszeit wegen immer spärlicher wurde. Ja, es konnte ihn fast kränken, von Frau Elisabeth auf einer der nun sehr häufigen Abendfahrten zu Dreien von Gersdorf heraus hören zu müssen, daß seine Bemühungen eigentlich »unlohnend« seien. Man dürfe da nicht vorzeitig die Geduld verlieren, verteidigte er sich, nicht gleich nach Früchten ausschauen. Es gelte da, noch sehr fleißig zu ackern, Unkraut auszurotten, neuen guten Samen mit unverdrossener Hand auszustreuen. Und man könne damit auch nicht früh genug anfangen.

Dies und Ähnliches brachte er vor; nur das scheute er sich zu sagen, daß er für alle seine Mühe keinen andern Lohn brauche, als diese Heimfahrten durch die lauen, lichten Nächte, durch Blütenduft und Heimchengezirp, wenn das begeisterte Mädchen in dem offnen Kaleschlein hinter ihm so heiter-interessiert von allem plauderte, was der Abend gebracht hatte: von dem verhaltenen Kichern der Spinnmädchen bei den »verliebten Stellen« der Geschichte, von dem unüberwindlichen Schlafgelüst anderer, von dem neuen jungen Lehrer, der heillos kritisch durch seinen Kneifer auf den Vorleser, die Klavierspielerin und das bäurische Publikum geschaut habe, von Onkel und Tante Lanz, vom Herrn Apotheker und zuletzt auch von dem Herrn Vikar.

Von dem aber sagte sie meist nichts anderes als: »Und der Herr Vikar war auch wieder da!«

Dessen aber hatte sie sich fast jedesmal zu erinnern; denn der Herr Vikar fehlte nie an diesen Abenden, wenn der Sanitätsrat las und sie Klavier spielte.

Und jedesmal, wenn sie von seiner Anwesenheit sprach, klang ihre Stimme wie das Glöcklein hinter geschlossenen Turmluken.

* * *

»Der Herr Vikar!« – »Der Vikar!«– »Vikar Stiller!«

Keiner wurde seit einigen Wochen in Gersdorf öfter genannt als er, und zwar je nach der Schicht in einer dieser drei Fassungen.

Wenn in der ›Sonne‹ sich zur Dämmerstunde der Stammtisch der Honoratioren zusammenfand, war nach halb sieben Uhr die ständige Frage: »Nu, kommt heute der Vikar nicht?«

Wenn eine Invalidenrentnerin vom Landratsamte eine Zuschickung in Hieroglyphen-Schrift und pythischen Ausdrücken bekam, so daß das ganze Familienhaus nicht klug draus werden konnte, kam unbedingt schließlich einer auf den Gedanken: »Gieh ock morne amol zum Herrn Vikar! Dar werd's schunt wissa.«

Wenn der Herr Kommerzienrat sich einmal zu satt gearbeitet und sich auch seinen Ruisdael und Meunier übergesehen hatte, dann sagte er zu seinem Diener: »Friedrich soll zum Vikar Stiller hinauffahren, einen schönen Gruß bestellen und fragen, ob er mir nicht ein Stündchen Gesellschaft leisten wolle.«

Wenn dann der Vikar nicht gerade an einem Sterbebette saß oder einem Kranken mit seiner ruhigen, klaren Stimme ein Kapitel aus der Bibel oder ein Gesangbuchlied vorlas, dann kam er sicher mitgefahren, und jedesmal, wenn er in den braunen Arbeitssaal eintrat, fragte sich der Kommerzienrat, was diesen hausbackenen Schwarzbart eigentlich so beruhigend und unterhaltsam mache. Er tat doch nichts besonderes und funkelte auch nicht von Geist und Satire. Er erzählte meist nur schlicht und warm von Menschenleid und -freude, die er in buntem Wechsel erlebte. Und am Stammtisch machte er oft nichts weiter, als daß er manchmal so recht herzlich aus seiner vollen, starken Brust heraus lachte. Und an den Betten der Kranken und Sterbenden ging er auch nicht mit hohen Worten einher, sondern hielt oft nur die fiebernden Hände in seinen charaktervoll-männlichen Fäusten und senkte seine ruhigen Blicke ins flackernde Feuer der andern. Dann aber kam das Gefühl des Geborgenseins über die Todesnot-Bedrängten, wie ein Kahn zu rütteln aufhört, der in den Windschatten eines breiten Felsen einlief.

Es gibt Magnetberge des Gemütes unter den Menschen, denen alle Herzen entgegenschießen müssen, wie das Nägelwerk treibender Schiffe jenen Klippen der Sage. Es sind nicht immer die bedeutendsten Geister, meist auch nicht blendende Gestalten, häufig nicht einmal gewinnende Erscheinungen; aber es liegt etwas in ihrem Wesen, das winkt und lockt und zieht wie der kühle Schatten einer bergigen Waldbucht am heißen Sommertage.

Und ein solcher war Vikar Stiller. –

Als er nach seinem ersten Besuche im Waisenhause das Zimmer Frau Malwinens verlassen hatte, saß die noch eine Weile stumm in ihrer Plauderecke und sah versonnen zu den Laubnitzer grünen Waldwipfeln hinüber. Dann sagte sie zu Lanz, der im Zimmer umherschritt, wie er zu tun pflegte, wenn er eines starken Eindruckes Herr werden wollte: »Franz, das ist ein Gesegneter!«

»Glaube ich auch!« klang die Antwort, und nur Frau Malwinens geübtes Ohr konnte heraushören, was in dem Tone lag.

»Der könnte es sein!« fuhr sie fast zaghaft fort.

»Vielleicht, Muttchen, vielleicht!« entgegnete er ungewöhnlich weich, und die Arme wie erleichtert dehnend, setzte er mit sauer-süßem Lächeln hinzu: »Ach, es müßte wohl prächtig sein, wenn man mal hier so recht beruhigt ausspannen könnte und wüßte, es veraast nicht alles wieder, wenn wir mal die Augen zugetan haben, der drüben im Rollstuhl, Du und ich!«

»Du mußt trachten, daß der Vikar die vakante Pastorstelle erhält!« sagte mit heiterem Eifer die Frau.

»Wollen sehen! Wollen sehen!« nickte er.

»Und dann, Franz, dann muß ich mal so recht als Weib reden: ich wünschte brennend, daß er Mariannen nähme!«

Lanz blieb mit einem Ruck stehen und sah seine Frau komisch verdutzt an.

»So seid Ihr!« lachte er dann hell heraus. »Vom Kuppeln kann keine, keine lassen! Keine! Das glaube ich nun felsenfest, seit ich das an Dir erlebe.«

»Nun, wär's nicht höchst passend? Sind sie nicht wie für einander geschaffen?«

Lanz meinte, darüber habe er kein Urteil; wohl möchte er aber behaupten, die beiden jungen Leutchen könnten sich gegenseitig zu einander gratulieren. Und so hatte er denn nichts einzuwenden, daß sich sein kluges Weib auch einmal zur Abwechslung in eine Art unschuldiger Kupplerin verwandelte. Er lachte vielmehr sein vergnügtes Kichern in sich hinein, als er sah, wie meisterhaft sie eine Begegnung nach der andern in ungezwungenster Weise herbeizuführen wußte.

Das Paar aber begegnete sich nur gar zu gern – denn den Sanitätsrat hatten seine Ohren nicht betrogen, als er damals beim Heimwege durch den Wald neue Klänge in Mariannens Stimme entdeckte.

Die geschickten Hände der Direktorin praktizierten den Vikar auch bald unter Lohmanns Gehilfenschar. Leicht war das nicht. Denn der Sanitätsrat behauptete merkwürdigerweise, der Vikar sei für seine Zwecke zu »nüchtern«, »zu wenig Schöngeist.«

Auf die Frage, wie er zu diesem Urteil komme, konnte er allerdings nur sein Empfinden als Beweis anführen. Marianne aber, die er als Kronzeugin anrief, lehnte errötend die Entscheidung ab, und Elisabeth meinte, der Vikar komme bei der Seelsorge in so viele Arbeiterwohnungen, daß er wohl etwas zur Verbreitung der guten Bücher tun könne.

So durfte Lohmann einem Versuche nicht länger widersprechen, und schon nach kurzer Zeit stellte die Direktorin auf ihren Gemeindegängen fest, daß der Vikar stundenlang an den Betten der Siechen und Kranken aus den neuen Büchern vorlese.

Am nächsten Lesetage in der ›Villa‹ erzählte sie davon und besonders ein Erlebnis. Die alte Leisnern, die schon über Jahr und Tag im Bette lag, hatte gestern zu ihr gesagt: »Nee, ach Gott, Frau Direktern, ma hot's doch itzunder goar zu schiene mit dam neua Herrn Vikare. Dar kimmt scher olle zwee Tage amol und sitzt dohie naba mer und list mer aus dam Bichla vier, 's leit durte eim Schränkla – (es war Storms ›Pole Popenspäler‹) – und do hoat ma dernochert a ganza Tag hübsch woas zu simmelieren, und die Zeit werd em goar ni meh a su roasnig lang.«

Lohmann mußte zugeben, daß man sich kaum einen bessern Gebrauch der neuen Bücherschätze denken könne. Die Direktorin aber sah, still und scharf beobachtend, daß über Mariannens liebes Gesicht ein schneller Freudenschein ging, wie der Lichterglanz eines Christbaums flüchtig über spähende Gesichter huscht, die rasch an den Fenstern vorüberfahren.


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