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Achtes Kapitel.

Anders, als er's je hätte ahnen können, verlebte Lohmann den Christabend. –

Es war ein heitrer Morgen gewesen, wie all die Tage vorher. Aber schon am frühen Nachmittage zog dichtes Schneegewölk auf, und eine bleierne, stumme, graue Schwere hing über dem Tal, als sich Lohmann zum Grabe hinaus aufmachte.

Heut war's ihm ein geradezu saurer Gang.

Die Frauen in der »Glasehütte«, die ihn nun schon recht vertraulich grüßten, sahen ihm mit einem Gemisch von Mitleid und Genugtuung nach.

»Woas hoat dar nu vo oll s'em Reichtume?« fragte die Waldarbeiterin Nitschke ihre auch heut emsig spulende Nachbarin, der sie eben eine Kostprobe des frisch gebackenen Christ-Kuchens gebracht hatte, und die beiden Weiber drückten ihre Gesichter neugierig an die Scheiben der kleinen Fenster. »Ha scheint ju ken'n eenziga Menscha meh uf dar Welt zu hoan, dar's gutt mit'm meent, suste stompte ha wull wingstens hinte nee a su eelitzig dohie naus uf a Kerchhof. 's ies haltig zum Glicke ni oll's beinander uf dar Welt, und sei Packla hoat a jed's zu troin.«

»Ju, ju!« pflichtete die Seidel-Webern bei, »'s ies a su. Inse Herrgott surgt schunt derfiere, doaß und's wachsa bei ken'm Menscha de Beeme ei a Himmel.«

»Do huste recht, Seidaln! Do huste ganz recht. Nee, wenn au inserees und ma kreßt's ganze Joahr über doas Heffla Kinder, oam heeliga Obende, do ies halt'g doch bloßig schiene, wenn ma und ma hoat an ticht'ga Himpel Vulk im sich har. Und wenn ma au und koan ken'm ni viel gahn, 's freit sich doch a jed's über jeda Quoark. Ober lab ock gesund, Seidaln, ich doarf mich hinte ni verplaudern!«

Sie eilte rasch hinaus, fand aber draußen doch noch Zeit, Lohmann kopfschüttelnd nachzusehen, wie er so, die Augen auf den verschneiten Weg geheftet, sich müde und einsam in dem grauen, dicken Nebel verlor.

Am Denkmal hing einer der großen Kränze, die der Sanitätsrat aus der Stadt verschrieben und schon am Morgen von Frau Wachler hatte heraustragen lassen, und auf dem beschneiten Hügel lag der andere. Prächtige Christrosen waren in sein Zypressengrün eingebettet. Aber an allem, an dem blutroten Stein und an den bunten Kränzen, hingen zottige Fetzen des schmutzigen Nebels, halb gefroren schon, gleich Standarten der Trauer und des Schmerzes.

In dieser Minute, wie er so fern von allem Atmenden in lautlos-schwerer Stille dastand, und die filzige Nebelumhüllung von der ganzen Welt nichts weiter übrig ließ, als einen Grabhügel mit bleichen Christrosen, da umschwebte ihn das Grauen der Verlassenen wieder einmal unheimlich mit seinen Flor-Fittichen, und im Herzen fröstelnd schritt er dem Dorfe zu, eilig, als hasche etwas Unheimliches nach ihm. – Düstrer und düstrer ward's um ihn her, bis aus der greifbar-dicken Nebelwand große, flattrige Flocken zur Erde taumelten, erst einzeln, dann immer dichter und schneller, lautlos, aber immer dichter und schneller, und schließlich war ein solches Flockengewirr um Lohmann her, daß er beim Weiterschreiten förmlich den Widerstand der lockern Masse merkte.

Da dachte er, so müsse es wohl einmal dem letzten Menschen zumute sein, der auf der ersterbenden Erde durch einen alles erstickenden Flockenfall mit matten Knieen seinem Grabe zuwanken werde. – – – – – –

Und in solcher Stimmung sollte er nun Heiligen Abend feiern?! – – – – – – –

Als er heimkehrte, sagte ihm Frau Wachler, die Frau Pastor aus der »Villa« habe schon zweimal nach ihm geschickt, es gehe dem Fräulein nicht gut.

Da eilte er hastig zur Villa hinunter.

Wolkengrau und Flockenfall hatten mit einem Male nichts mehr für ihn zu bedeuten; denn sie waren ihm in dieser Minute nicht mehr beängstigende Symbole der Einsamkeit. Trotz der Sorge, die die Nachricht in ihm erregt hatte, kam's doch wie eine Befreiung über ihn. Er fühlte, wie sich wieder einmal der Panzer lüftete, in den die stumpfe, interesselose Trauer eines nutzlosen Grabhütertums ihm die Brust einengte. Und es hatte auch gar nichts Befremdendes für ihn, daß es gerade Elisabeths Hilferuf sein mußte, der ihn mit so befreiendem Hauche anwehte.

»Es ist ihr Weihnachtsgeschenk!« dachte er, und eine noch gestaltlose Zuversicht knospte in seiner Brust durch all den Trauerwust hindurch wie Christrosen, die das Schneelaken mit ihren fleischfarbig-lebendigen Kelchen durchbrechen.

Der Abglanz dieser stillen und plötzlichen Christfestheiterkeit seines Innern verlor sich erst von seinem Gesicht im Anblick der verzehrenden Angst, in der ihm Elisabeth entgegen kam. Doch sein rüstiges Hoffen half bald auch ihr über die schlimmste Besorgnis hinweg.

Marianne lag in hohem Fieber.

Gott mochte wissen, wie's dazu gekommen war! Gestern hatte Lohmann noch alles in bester Ordnung gefunden, nur hatte er dringend raten müssen, die Kranke solle sich nicht zu viel mit den mannigfachen Weihnachtsüberraschungen beschäftigen, die sie ihren vielen kleinen Schützlingen in den Weberhäusern zugedacht hatte.

Wahrscheinlich war diese Warnung schon zu spät gekommen. Und nun war die Lage nicht ohne Bedenken.

Offenbar bereitete der Gipsverband des gebrochenen Beines der Kranken heute doppeltes Unbehagen. In ihren Fieberphantasien gestaltete sich das zu einem Kampfe und Ringen mit irgend welchen feindlichen Gewalten um.

Lohmann tat, was sich augenblicklich zur Herabminderung des Fiebers tun ließ, und dann saßen die beiden Menschen wieder still am Bette der Kranken wie jüngst, da der Unfall geschehen war.

Es wurde dunkel, und so stellte Frau Elisabeth eine niedrige Lampe mit einem grünen Schirm auf ein Tischchen an der Längswand des Zimmers, in dem nun ein trauliches Halbdunkel dämmerte. Draußen und drinnen war's ganz still, nur das ruckweise Atmen Mariannens war zu hören. Auch Lohmann und Frau Elisabeth schwiegen.

Von Zeit zu Zeit prüfte er mit der Uhr in der Hand den Pulsschlag der Kranken, und da sich hierbei ein ständiges, wenn auch nur langsames Nachlassen des Fiebers herausstellte, löste sich allmählich auch bei ihm und der Mutter die Spannung der Nerven wieder.

In seinen Korbsessel zurückgebeugt, ließ er die Blicke durch das Zimmerchen wandern, das ihm nun schon in allen Einzelheiten so vertraut war. Das grüne, abgedämpfte Lampenlicht umzitterte die weißlackierten Möbel und ihre zarten Bronzeverzierungen mit einem blassen Schimmer, wie ihn der Vollmond über leichtbeschneite Wiesen huschen läßt, und alles, alles in diesem Raume voll bescheidenen Mädchen-Tändelkrames atmete wieder einmal eine so unsagbare Keuschheit aus, daß sich Lohmann nur mit Mühe der Erinnerung an die Leidenschaften erwehren konnte, die er in Reginas Worten und Trachten hatte aufflackern sehen.

Als müsse er sich vor solchen Erinnerungen retten, wandte er seine Blicke Frau Elisabeth zu, deren Augen sonst den seinen aus dem Wege zu gehen pflegten.

Sie saß in kummervoll vorgebeugter Haltung da: eine alte Frau.

Sonderbar, daß ihm das wunderlich erschien! War nicht auch er inzwischen ein alter Mann geworden? Wie in einem frommen Selbstbetruge hatte er wohl bisher darüber hinweggesehen, daß ihr ehemals so dunkel-kastanienbraunes Haar verbleicht und sein Glanz stumpf geworden war. –

Und auch in Frau Elisabeths Sinnen huschten zwischen den immer wieder auftauchenden Sorgen um ihr Kind ähnliche Gedanken umher.

Auch sie sagte sich jetzt zum ersten Male recht bewußt: »Er ist ein alter Mann!« Und wenn sie dabei auch vor sich selbst zugeben mußte, daß er jünger erscheine, als er war, und immer noch viel Gewinnendes in seinem Äußeren habe, so sprach dabei doch nur ihr Auge und nicht ihr Gefühl mit.

So machten die beiden in diesen stillen Weihnachtsstunden die Entdeckung, daß auf den getrennten Lebenswegen auch ihre Herzen weit voneinander weggewandert waren. Sie fühlten, daß sie sich wohl noch vertraut aus der Ferne grüßen konnten, aber daß ihre Pfade niemals etwa noch ins Schattengehege eines späten gemeinsamen Glückes einmünden könnten, um sich nach dem Sonnenbrande des Lebenstages der labenden Abendkühle Hand in Hand und Seite an Seite zu freuen. Und – so ist das Menschenherz! – diese Entdeckung war ihnen beiden ein liebes Weihnachtsgeschenk. – – – –

* * *

Am andern Tage war Mariannens Fieberanfall gänzlich beseitigt.

Als sie Lohmann in den späten Vormittagstunden besuchte, war's ihm, als sehe sie heut ganz anders aus als sonst. Er fand, daß ihr dunkles Kräuselhaar doch wohl noch niemals so reizvoll wie heut das durchgeistigt-bleiche Gesicht umrahmt habe. Sein künstlerisches Auge sah erfreut, wie wirkungsvoll sich das schwellende Polster ihrer reichen Haarfülle von den weißen Kissen abhob, und bei diesem Anblick ward er sich bewußt, daß er in diesen Wochen und Monaten tiefsten Trauerns eigentlich auch blind gewesen sei für alle Schönheit um sich her. Denn nicht mit reinem Wohlgefallen, nein, immer mit Beziehung auf seinen Schmerz hatte er Natur und Menschen betrachtet. Nun fiel ihn mit einem Male wie ein lange unterdrückter Hunger das Sehnen nach der befreienden Freude am Schönen an, und leise murmelte er:

»Trinke, Auge, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluß der Welt!«

Mariannens Augen, die ihn erst mit der erwartungsvollen Heiterkeit eines Kindes angelacht hatten, das ein Lob für seine tapfre Haltung einzuheimsen hofft, rundeten sich in fragendem und befremdetem Staunen.

Wie sonderbar sah er sie an!

Und was hatte er zu murmeln?

Ihre unsicheren Blicke suchten die Mutter, die inzwischen ans Fenster getreten war, um den Vorhang wegzuziehn. Aber noch ehe sie zurücktrat, waren Lohmanns Gedanken wieder im Alltagsgleise, und für Marianne entschwand damit alles, was sie befremdet angehaucht hatte.

»Eine heimtückische Geschichte war's schon!« sagte Lohmann nun, ihren Puls prüfend. »Sie hat Ihnen die Einbescheerung gekostet, Fräulein Marianne. Auch eine Erstlingserfahrung in Ihrem jungen Leben, nicht wahr?«

»Allerdings!« erwiderte sie und dehnte sich mit der wohligen Mattigkeit, die der Gefolgsmann des Fiebers ist. »Aber was tut's? So habe ich die Freude noch vor mir. Nicht wahr, Muttel?«

»Ja, mein Kind!« antwortete Frau Elisabeth. »Und ich denke, so sollen uns schon lange die Christkerzen nicht gestrahlt haben wie heut!«

In ihrer Stimme lag ein frommer Dank, wie im Klange des Christmettglöckleins, der in tiefen Tälern verschwebt.

Lohmann blickte erstaunt auf.

»Welch fremde Obertöne!« dachte er. »Ist das das Mitschwingen eines gramentlasteten Mutterherzens? Was es auch war: es war schön!«

Und er sann, ob seines Kindes Seele ein einziges Mal in der Flut solcher Laute gebadet worden sei.

»Kaum!« zweifelte er. »Sie wäre sonst wohl stärker geworden im Guten!«

»Es ist völlig beseitigt,« beantwortete er, Mariannens Puls loslassend, den fragenden Blick der Mutter.

Marianne aber schauderte, als sie den Arm zurückzog, leise zusammen und sagte, wie von Bildern einer mühsamen Erinnerung gefesselt: »Ach ja, es war nicht schön! Ich habe wohl stark phantasiert?«

»Stundenlang!« bestätigte die Mutter. »Am meisten vom Heidelberge.«

»Nicht wahr?« fragte Marianne erregt und bohrte ihre Blicke in die Decke des Zimmers. »Manches, glaube ich, weiß ich auch noch! Ich war im Dreiwassertal, droben auf der runden Wiese. Ach, wie war das alles bunt von Farben, die Blumen, die Buchen am Hange, selbst das Moos zwischen den Balken der Waldwärterhütte. Es glänzte wie Gold. Das war schön! Aber dann ward mir's ängstlich. Es drängte mich etwas mit unwiderstehlicher Gewalt in den engen Bergkessel hinein, und der Heidelberg, ja wahrhaftig, der kam mir entgegengeschwebt und war so wie eine riesige, ungeheuer große, starke, treue Männerbrust. Und mir war's, als schwebte ich ihr entgegen und hörte ihr gleichförmiges Atmen so ruhig und groß, wie – nun – wie ich mir den Pulsschlag der Zeit denke!«

»Wie sonderbar!« schob Frau Elisabeth ein, etwas geängstet, die Delirien der Tochter könnten von neuem beginnen. Aber ein Blick und Wink Lohmanns beruhigten sie.

»Nicht wahr?« sagte Marianne versonnen-grübelnd. »Jetzt ist aber eine Lücke in dem Bilde. Nun weiß ich bloß noch, daß plötzlich einer der roten Felsen, wie man sie da droben sieht, hoch über meinem Haupte hing. Und auf seiner Spitze, ja, da sah ich – wie denn? – nun ja: einen flatternden Mantel sah ich und einen langen, flatternden, weißen Bart, und dann den ganzen Mann. Starr wie eine gefrorne Tanne stand er da und hob die geballte Faust gegen den Heidelberg. Und – ach, Muttel, das war zu sonderbar – da kam eine Starrheit in die atmenden Flanken des Berges, von unten her bis in die tannenstarrende Spitze. Und langsam, ganz langsam sank das Ungeheuer in sich zusammen, wie Eisblumen wegschmelzen, wenn man an die Scheiben haucht.«

»Willst Du nicht lieber –« versuchte die Mutter wieder die sie peinigende Erzählung zu unterbrechen.

Aber Marianne fuhr eifriger fort: »Hinter dem Versinkenden aber – o, das war schön! – sah ich ein lachendes Gelände sich öffnen. Darauf ein glitzernder, gewundener Bach zwischen dunklen Laubgehegen auf einer blumigen Wiese! Am Bache aber stand ein junger, stattlicher, starker Mann und winkte mir mit einem guten Gesicht, aus dem zwei Augen leuchteten, die waren – wie Waldweiher am warmen Sommertage!« wollte sie sagen, brach aber errötend ab.

»Und der Fels?« fragte Lohmann, den die kindliche Unmittelbarkeit dieses zwanzigjährigen, körperlich so prachtvoll entwickelten Mädchens geradezu entzückte.

»Der Felsen?« fragte sie grübelnd. »Lassen Sie mich nachsinnen! Ja so! Das selige Schweben fing wieder an, mit dem ich mich getragen fühlte, und ging der fernen blauen Wiese zu. Und da schrie's plötzlich hinter mir ›Marianne!‹ Und wie ich mich wende, sehe ich, wie sich der Felsen um den Mann im grauen Barte bäumt und wulstet und den Mann förmlich in sich hineinschlingt, bis nur noch der Kopf zu sehen war. Und ich mußte immer, wie mich's auch zu dem andern am Bache zog, nach den Augen in dem grauen Kopfe blicken. Die kamen mir so bekannt vor und waren so voll rührenden Wehs und –«

Sie hatte inzwischen ihr Gesicht dem Sanitätsrat zugewendet, der sie in starrer Verwunderung ansah.

»Mein Gott!« brach sie ängstlich ihre Erzählung ab, und eine scheue Purpurglut flutete einmal über ihr bleiches Gesicht, wie ein einzelner Sonnenstrahl über ein Gletscherfeld streicht.

»Nun?« fragten Lohmann und Elisabeth zugleich voll Spannung.

»Ich weiß nicht –« stotterte sie verlegen. »Ich glaube, da bin ich aufgewacht! Es ist dann wohl alles zerrissen!«

Sie hätte es nicht über die Lippen gebracht, daß sie mit einem Male wußte, es sei Lohmanns Kopf gewesen, den der Felsen verschlang.

Elisabeth merkte ihre große Verlegenheit.

»Wär's nicht besser, Herr Sanitätsrat,« fragte sie ängstlich, »wenn Marianne jetzt schwiege? Ich fürchte, die Erinnerung an diese Fieberträume –«

Lohmann fuhr aus dem Sinnen auf, in das er versunken war, weil auch ihn die Erzählung sonderbar berührte.

»Gewiß,« sagte er hastig, »gewiß! Es ist besser, Sie liegen nun noch ein Stündchen ganz still und verhalten sich auch am Nachmittag recht ruhig. Dann können Sie gegen Abend zum Lohne auch dem Christkinde hier den verspäteten Eintritt gestatten.«

Er ging mit einem etwas forcierten Lächeln auf den Lippen und ließ die beiden Frauen stumm zurück.

Als er die Straße hinaufschritt, knirschte der Schnee unter seinen Sohlen. Ihm aber war's so eigen schwül zumut, als läge ein Gewitter in der Luft.


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