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»... Und nun sind wir heute hier zur Feier seines sechzigsten Geburtstages versammelt. Wer aber unsern lieben Freund da so frisch und voll Elastizität in Blick und Gebärde sitzen steht, der glaubt's kaum, daß er schon – wie er selber gern sagt – an der Schwelle des Greisenalters stehen soll. Und warum ist er so jung geblieben trotz einer fieberhaft angestrengten Tätigkeit? Weil er noch immer Zeit behalten hat, sich verjüngenden und jungerhaltenden Dingen zu widmen: der Kunst, der Natur und edler Geselligkeit. Aber, meine verehrten Herrschaften, es ist unmöglich, unsern lieben Freund Lohmann zu feiern, ohne zugleich auch seiner hochverehrten Frau Gemahlin zu gedenken, die ihm in kongenialem Geist und anmutvollster Weiblichkeit zur Seite steht, dieser Häuslichkeit ein Behagen einzuatmen, wie man sie wohl schwerlich ein zweites Mal in unserer guten Stadt finden dürfte. Und so lassen Sie uns denn anstoßen auf diese Zierden unserer Gesellschaft. Sanitätsrat Lohmann und seine entzückende Frau Gemahlin: Hoch, hoch, hoch!«
Heller Beifallsjubel der großen Tafelrunde mischte sich in das Klingen köstlicher Kristallgläser. Die Mehrzahl der Gäste, die da in »großer Toilette« erschienen waren, meinte es mit dem Hoch auf den Gastgeber ebenso aufrichtig, wie mit dem Beifall für den »charmanten« und »brillanten« Toast des Kommerzienrats Scheurig, der sich wieder mal als »geborner Tischredner« bewiesen habe.
Die Justizrätin Scharfenberg aber, eine Dame in würdigen weißen Haaren, die dem Festredner schräg gegenüber an der breiten Tafel saß, fragte ihren Tischherrn in spitzem Tone: »Nun, Doktor, habe ich zuviel gesagt? »Kongenial!« hörten Sie's? (Sie kniff dabei ein Auge zu.) Und zum Schluß »entzückend«!? Für eine Fünfzigerin wat reichlich! Nich?«
Der Doktor, ein junger Mann, der sich aus dem Ärzteüberfluß Berlins in die aufblühende schlesische Provinzialstadt geflüchtet hatte, kam ein wenig in Verlegenheit.
»Gewiß!« antwortete er befangen. »Aber er meint's doch wohl so!«
»Scheurig?« Die Justizrätin rümpfte ungläubig die Nase. »Das ist ein Muckativus. Und dann – bedenken Sie – sie ist die Schwiegermutter seines Sohnes!«
»Das ist ja allerdings bedenkenerregend!« pflichtete Dr. Jonas bei. »Und außerdem: solche Phrasen-Orgien sind immer verdächtig.«
Die Justizrätin sah ihn mit aufleuchtenden Augen an.
»Ein gescheiter Mensch!« dachte sie. »Gescheit, wie seine Mutter war.«
Und sie nahm sich vor, ihn ein wenig zu »lancieren«.
Mittlerweile hatte sich die übliche »Völkerwanderung« zu den Gefeierten hin um die lange Tafel her entwickelt. Sanitätsrat Lohmann und Gattin bemühten sich, unter möglichster Schonung ihrer Toiletten und der der andern, mit jedem Gaste dankend anzuklingen. Und auf allen Gesichtern lag dabei das erstarrte Lächeln dressierter Liebenswürdigkeit.
Der nächste Gang brachte wieder Ordnung in das Chaos, und nach schicklichem Zwischenraum reckte der Hausherr, indem er leise an sein Glas schlug, seine schlanke Gestalt mit natürlicher Gelassenheit empor. Und wie nun von den Milchglasglocken der vielarmigen Gaskrone über der Mitte der prunkenden Tafel das strahlende Licht auf seine hohe Stirn fiel, die volles, erst leicht ergrautes Haar eckig umrahmte, flüsterte mehr als eine Dame der Runde ihrem Tischherrn zu: »Er ist doch immer noch der schöne Mann.«
Selbst die Justizrätin zischelte: »Das muß man ihm lassen: Der graue Patriarchenbart kleidet ihn prachtvoll! Kostet aber doch, meine ich, für einen vielbeschäftigten Arzt unsinnig viel Pflege.«
»Hochverehrte und liebe Gäste!« begann der Sanitätsrat mit leise vibrierender, klangvoller Stimme, und sein Tonfall gab sogleich die tröstliche Gewißheit, jetzt würde geplaudert und nicht schon wieder getoastet werden.
»Es ist eigentlich eine traurige Veranlassung, die Sie heute in unser Haus führt. Denn sechzig Jahre zu sein, schon sechzig Jahre, wer sollte das nicht betrüblich finden? Es ist und bleibt die Greisenschwelle, mein lieber Freund Scheurig. Da läßt sich nichts abfeilschen. Die Spannkraft und die Frische, die Du an mir rühmtest, wie alle andern Vorzüge, die Du vorhin so schwungvoll an mir und meinem Hause priesest, sind sie nicht durch die Lupe der Freundschaft gesehen?«
Hier flatterte ein silbernes Lachen in den untern Regionen der Tafel schnell auf und erschrocken nieder. Der Redner aber fuhr leise lächelnd fort: »Laß mich das alles aufs bescheidene Maß der Wirklichkeit reduzieren! Nimm aber meinen herzlichsten Dank für die Meinung, in der Du's sagtest! Denn, meine Hochverehrten, die Meinung bleibt schließlich doch in unserm Verkehr die Hauptsache. Nicht die Form! Und das ist vielleicht die kostbarste Frucht, die mir in den sechzig heißen Jahren meines Lebens gereift ist, daß ich gelernt habe, immer nur auf die Meinung zu achten. Und da habe ich gefunden, daß die Meinung der Menschen untereinander in sehr vielen Fällen schofel genug ist. Mir gegenüber aber bin ich fast immer der besten Meinung begegnet. Es wäre undankbar, wollte ich das nicht anerkennen. Und ich müßte allen meinen Lebenserfahrungen geradezu ins Gesicht schlagen, wenn ich heut eine andere als die Ansicht aussprechen wollte: ›Optimismus gilt mir als die einzig berechtigte Weltanschauung!‹«
Ein spontanes »Bravo!« der ganzen Runde bewies, daß sich auch die Herzen dieses Kreises williger zu heitern Höhen tragen als in düstre Tiefen ziehen ließen.
Die Justizrätin aber flüsterte Dr. Jonas zu: »Optimismus?! Kunststück! Wem's so gut gegangen ist im ganzen Leben!«
»Sodann,« fuhr der Sanitätsrat fort, »hat Freund Scheurig das Stillglück in diesen Mauern gepriesen, und er sei dafür bedankt. Bescheiden aber hat er verschwiegen, was ich wohl hinzufügen muß, wie sehr es sich nämlich vertieft hat, seit es seine Fäden hinüberspinnen durfte in seinen eigenen Familienkreis.«
Verstohlen wandten sich hier viele Blicke nach einer prachtvoll gewachsenen Dame in reicher hellvioletter Robe, die am untern Ende der Tafel neben einem stark gebräunten Herrn saß und nun mit etwas hastigem Rucke ihr Tafelbouquet vor das Gesicht hielt. Nur einen Augenblick, dann senkte sie rasch den schöngeformten Arm wieder, den ein breiter Goldreif mit einem einzigen großen Onyx umspannte, und ein gewohnheitsmäßiges, aber krampfhaftes Lächeln schob die eben noch wie drohend genäherten Brauen über der männlich geformten Nase auseinander.
Der Sanitätsrat aber vergalt nun der erstaunten Runde alle Glückwünsche dieses Tages mit einer Einladung für nächsten Sommer in das Landhäuschen, das er soeben in Laubnitz, einem stillen Walddorfe im Gebirge, zum ständigen Erholungsaufenthalte erworben habe. Die Kunst und die Freunde sollten dort im Gehege der Natur eine Willkommenstätte finden.
Lautes Gläserklingen und Bravorufen lohnten dem Sanitätsrat für diese Eröffnung; er aber hatte sich zu seiner neben ihm sitzenden Frau herabgebeugt, die in dankbarem Impulse nach seiner Hand faßte. Trotzdem Lohmann seine Rede nun mit kurzem Schwunge dem Hoch auf seine Gäste und auf die ewig jung erhaltenden Mächte Kunst, Natur und Freundschaft zuführte, fand er nur noch eine geteilte Aufmerksamkeit. Er hatte mit seiner Einladung den Sinn der Alten hinausgelockt in die wäldergrüne Urheimat, zu der die Sehnsucht den Menschen immer stärker zurückzieht, je höher und dichter sich die Gefängnismauern der Großstadt um ihn türmen. Und die Jungen schielten verlangend durch die Portieren des Speisesaales nach der Diele hinaus, wo schon leises Klimpern und Saitenreißen verriet, was die schönste Überraschung dieses »netten Abends« werden sollte.
Im kirchenhohen, geräumigen Raum der »Diele« entschädigten sich bald darauf diese Ungeduldigen in ungestümer Tanzlust für das lange Stillsitzen und Zuhören, und die Älteren suchten den Ausgleich in einer Besprechung der Redner und des Menus, des Festgebers und seiner Art, die manchmal doch »so, so« sei, seiner »urbehaglichen« Häuslichkeit und seines »unverschämten« Glückes. Sie saßen dabei in den angrenzenden Räumen oder in lauschigen Plauderecken rings um die Tanzfläche her.
Eine von ihnen hatte sich auch die Justizrätin ausgesucht, um ihrem neuen Schützlinge »reinen Wein« über das »Drum und Dran« dieses Hauses und der hier versammelten Gesellschaft einschenken zu können.
Und Dr. Jonas war ganz Ohr.
Behaglich lehnte sich die Justizrätin auf dem Polster der eichengetäfelten Nische zurück, das nur für zwei Personen Platz ließ, und sagte, mit ihren Augen den ganzen strahlenden Dielenraum bestreichend: »Na, Doktorchen, wenn Sie's erst mal zu so was gebracht haben werden! Feudal! Was?«
Dr. Jonas lachte gepreßt auf.
»Ja, meine Gnädigste, das wird wohl schwer halten!«
»Wie so?« machte die Rätin ironisch. »Sie haben ja in unserm guten Lohmann das beste Muster. Machen Sie's eben so. Sie sind doch noch frei?«
»Gewiß – gnädige Frau!« antwortete er zögernd.
»Keine Furcht!« lachte sie. »Ich bin völlig töchterrein! – Also – lernen Sie eins zunächst von unserm Gastgeber: nur nicht verplempern!«
Sie beugte sich näher zu ihm.
»Sehen Sie: ich kenne ihn von Jugend auf!«
»Nicht möglich! Gnädigste können unmöglich –«
»Doch bin ich's! Genau so alt wie er. Es ist artig, daß Sie mich für jünger halten. Sie täuschen sich aber – leider! – Wir sind Landsleute, Breslauer! Er stammt aus einer Professorenfamilie. Geistreiche Leute allesamt; aber eigentlich hatten sie nie Geld. 's ist das so'n Erbfehler dort. Der aber ist aus der Art geschlagen. Zunächst sah's auch nicht danach aus. Er war noch Student, als er sich in ein ganz aussichtsloses Techtelmechtel einließ. Armes Kirchenmäuschen, wissen Sie, besuchte das Seminar, um Erzieherin zu werden. Es wäre wohl auch dabei geblieben – denn sie war schlank, stattlich und sehr hübsch. Und etwas vom Idealisten steckte in ihm, hat sich später in seiner Kunstfexerei Luft gemacht. Sie aber – was die Elisabeth Mildner war – die war eben noch idealistischer als er. Und weil es sie beide nach dem Privatdozenten lüsterte, meinte das Schäfchen, sie müsse sich opfern.«
»Da bin ich wirklich gespannt!« schaltete Dr. Jonas ein.
»Mein Gott, es ging sehr einfach zu. Der Vater Professor starb plötzlich, und nun war unser Lohmann als der Älteste dran, die Familie über Wasser zu halten. Hat's auch brav getan, muß man sagen. Mit allen Jugendträumen war's freilich aus, zunächst mit dem Dozententraum. Da »verschlug« ihn ein günstiger Wind hierher, wo damals noch nicht die Welt los war. Na, und er war eine nicht üble Erscheinung – und mit seinen angenehmen Manieren – Sie glauben ja gar nicht, wie wenige Menschen seine vielgepriesene »Natürlichkeit« durchschauen! – Na, kurz und gut: es dauerte nicht lange, so saß er hier in einer recht guten Assiette.«
»Und Elisabeth Mildner?«
»O, die saß inzwischen da an der Memel wo rum unter den beschränkten Gören eines stiernackigen Pruzzen.«
»So, so!«
»Hier aber wollt's das Glück, daß der alte Sanitätsrat Plüddemann seinen Rheumatismus nach Warmbrunn fahren und sich von dem jungen Dr. Lohmann vertreten lassen mußte. Und ausgerechnet in die Zeit fiel so 'ne Kopfrosengeschichte der schwer reichen Lilli Menzel, deren Hausarzt Plüddemann war.«
»Und das ist –?«
»Ja, das ist sie! Er hat sich natürlich nicht die Hände auf den Rücken gebunden, als er sah, wie der Goldfisch nach seiner Angel zappelte. Und schließlich – als sie noch dreißig Jahre jünger war wie jetzt, paßte auch wohl das »reizend« auf sie, das ihr heute der fade Schwätzer Scheurig aufgebrummt hat.«
»Das glaube ich!«
»So?« Es klang ein leiser Ärger durch ihre Stimme.
»Und leben sie glücklich?« fragte abweichend der Doktor.
»Nun,« lachte sie, »er hat's uns ja heute mit Trompetenton versichert, wie glücklich sie ihn gemacht hat. Vermögend jedenfalls. Das sieht man ja. Denn so was hängt bei einer Provinzialstadt-Praxis nicht heraus, und wäre sie noch so glänzend.«
»Glänzend –« sagte Dr. Jonas mit verlornem Sinnen, »glänzend ist sie wohl.«
»Gewiß ist sie's und wurde es auch sogleich, als er in diesen Rattenkönig von Verwandtschaft hineingeheiratet hatte. Und das ist ja's Geheimnis! Vetternschaft! Doktor, trachten Sie bloß nach Vetternschaft! Das gibt Praxis und gesellschaftliche Folie! Sehen Sie, Lohmanns brillante Position in unsrer gesellschaftlich so schwierigen Stadt ruht auf den beiden Säulen Geld und Vetternschaft.«
Und nun entwarf sie dem interessiert aufhorchenden Doktor eine Art Nationale von jeder der jungen Damen, die da in den Armen von Referendaren, Assessoren, jungen Ärzten und einigen Leutnants über den Linoleum-Belag der »Diele« hinschwirrten wie ein Flug bunter Falter. Die beiden Hauptrubriken dieses Nationals aber waren: Mitgift und Klique.
Sie hatte sich's nun schon fest vorgenommen, ihren jungen Schützling gegen den »geckigen« Sanitätsrat »auszuspielen«. Und es reizte sie dabei die Lust, Lohmann vielleicht in diesem neuartigen und interessanten Großstädter einen ernstlichen Rivalen schaffen zu können, viel mehr als der Gedanke, sie tue damit dem Sohne »ihrer guten alten Renate« einen Gefallen.
Es ist aber immer dasselbe, ob Salome das Haupt des Johannes fordert, oder ob die Justizrätin Scharfenberg den Sanitätsrat Lohmann aus seiner »guten Assiette« verdrängen möchte. –
* * *
Mit einem kleinen Zirkel ihrer erlesensten Gäste saßen inzwischen Lohmann und seine Frau im sogenannten »blauen Salon«, der von der Diele durch halbzurückgeschlagene Portieren teilweise getrennt war.
Anders als in der Scharfenberg-Nische drehte sich das Gespräch auch hier um die Vergangenheit.
Die im allgemeinen etwas wortkarge Kommandeuse hatte eben bedauert, daß ihr Mann, dem der Dienst erst nach der Tafel zu erscheinen gestatte, nun um die trefflichen Toaste gekommen sei.
Scheurig verneigte sich tief, für das Kompliment dankend. Er hätte für dies Lob seiner dilettantischen Steckenpferd-Reiterei gern einen Teil seines nicht unbedeutenden kaufmännischen Rufes hingegeben.
»Ja, wer hätte das denken sollen, alter Freund,« sagte Lohmann heiter, Scheurig die Hand auf die Schulter legend, »so vor dreißig Jahren, daß du noch mal so ein furioser Tischredner werden würdest? Damals nämlich, meine Gnädigste, hatten wir noch ganz andere Dinge im Kopf. Damals waren wir noch die Ringer. Er rang nach Patenten und ich nach Patienten.«
Das Wortspiel fand einen ungemessenen Beifall bei einer stark aufgetakelten älteren Dame, Fräulein Preiser, allgemein wegen ihrer starken Anhänglichkeit an die Sanitätsrat-Familie »der Lohmannsche Planet« genannt. Man sah sie stets in Begleitung einer semmelblonden Freundin, die deshalb den Spitznamen »Trabant« trug und von jener so abhängig war, daß sie ihr lebendiges Echo abgab. Und so stimmte sie denn auch jetzt dem halblauten »Sehr gut!« des »Planeten« treulich zu.
Durch Lohmanns Worte hatte der gutmütige und selbstironisierende Spott eines Menschen geklungen, der von einer so glücklichen Heiterkeit erfüllt ist, daß er alles »gut und schön« finden muß.
»Ich finde,« mischte sich nun Frau Lilli Lohmann neckend ein, »daß man meinen Mann immer mehr verwöhnt, je älter er wird!«
»Nicht doch!« warf mit ehrlicher Entrüstung der »Planet« ein, und »Ach, nicht doch!« echote der »Trabant.«
Ohne auf diese Demonstration zu achten, spottete Lohmann: »Du gehörst doch nicht etwa auch zu den ›mans‹, mein Schatz?«
»Vielleicht! Aber gut tut's nicht. Dein Optimismus schießt in einer Weise ins Kraut, na, man muß fürchten, er könne demnächst mal entsetzlich verhageln.«
»Nun und –« forschte er gespannt.
»Nun, dann tätest Du mir doch wieder leid!«
»Aha!« lachte er und haschte nach ihrer bleichen, blaugeäderten Hand.
Frau Oberst von Malten sah der kleinen Scene mit leisem Amüsement aus ihren müden Augen zu und sagte dann in ihrer gedämpften Art: »Ich muß auch sagen, Herr Sanitätsrat, daß ich Ihr großes Zutrauen in die Meinung der Menschen zwar sehr schön finde, aber doch auch höchst verwunderlich. Zumal für einen Arzt. Sie erfahren doch so sehr viel Trübes –.«
»Gewiß, gnädigste Frau!« rief da Lohmann voll Eifer. »Mehr als andre! Wir sehen die Menschen auch, wenn die blanke Lackschicht runter ist, die sonst so viel verbirgt. Da kommt viel Häßlichkeit zutage. Viel Kleinliches und Schlechtes. Aber doch auch viel, viel Rührendes und Liebes, was sonst die vielgerühmten Formen entstellen und unnatürlich machen.«
»Ist das nicht herrlich?« fragte Fräulein Preiser enthusiastisch ihren »Trabanten,« ohne aber eine Antwort abzuwarten; denn sie horchte bereits wieder auf Frau von Malten, die Lohmann entgegnete: »Ja, aber ist das nicht zumeist Mitleid und oft auch Reue?«
»Gewiß, meine Gnädigste! Aber immerhin! Sind nicht Mitleid und Reue auch schon recht schöne Sachen? Und die sind doch mindestens immer da, meist aber noch viel mehr!«
»Weißt Du, lieber Freund,« mischte sich hier der Kommerzienrat ein, »Deine Menschenbeurteilung ist erquickend naiv. Und –« zu den Damen gewendet, fuhr er fort – »es kann ja gar nicht anders sein. Er ist der übrigen Menschheit immer nur als Helfer gegenübergetreten, und zwar meist mit großem Glück, immer aber mit großer Liebenswürdigkeit. Da haben sie ihn natürlich auch alle gut behandelt. Und das, was den Menschen die Zähne bloßlegt, hat er niemals gekannt: die Konkurrenz.«
»Na, na!« warf Lohmann ein.
»Wie denn?« entgegnete Scheurig. »In deinem Kreis gab's von Anfang an keinen Einbruch. Das wußte jeder und hielt sich fern. Aber, wenn Du einen einzigen wirklichen Konkurrenten gehabt hättest, da hättest du mal was von ›Meinung‹ kennen lernen sollen. Ich für meinen Teil bin der Ansicht: es ist Vogel-Strauß-Politik, die menschlichen Verhältnisse anders als solche auf Gegenseitigkeit einzuschätzen.«
»Er redet schon wieder wie vor versammeltem Kriegsvolk!« dachte Lohmann amüsiert, laut aber sagte er: »Auch das zwischen uns beiden, alter Freund?«
»Nicht doch!« entgegnete Scheurig rasch. »Du bist da zu sehr im Übergewicht. In kranken Stunden gibst du uns Beruhigung und Genesung und in gesunden Anregung und Unterhaltung. Und wir haben dafür nichts als gute, dankbare Meinung zu geben, denn der Mammon zählt bei dir doch nicht mehr mit.«
Lohmann lachte hellaus und offenbar von Herzen erfreut auf.
»Da hören Sie's, meine Gnädigste!« wandte er sich an die Frau Oberst. »Kann ich anders denken? Nach dieser einen Probe schon läßt sich's beurteilen.«
»Nicht gut!« pflichtete sie bei. »Aber mir bangt um Sie, Sie moderner Polykrates.«
»Mir auch!«
Verwundert sahen alle auf Frau Lilli, die diesen selbstvergessenen Ausruf mit solchem Ernste getan hatte, daß er wie ein fremder, düstrer Eindringling in diesem heitern Kreise stand.
Auch Lohmann empfand das.
»Keine Sorge, meine Gnädigste!« versuchte er abzuschwächen. »Auch mir ward gegeben ein Pfahl ins Fleisch!«
Er sah dabei sein »blühendes« Weib mit einem Blicke sorgender Liebe an. Da erinnerten sich alle plötzlich an das, was man so allgemein über den Gesundheitszustand der Sanitätsrätin munkelte, die nicht gern krank erscheinen wollte und doch nur durch sorgsame Kunst und Schonung erhalten werde.
Und das Planeten-Fräulein trocknete in sichtlicher Rührung ihre aufrichtig fließenden Tränen. Als aber Frau von Malten, um die etwas peinliche Stille auszufüllen, die Sanitätsrätin fragte: »Wo ist eigentlich Ihre Frau Tochter, gnädige Frau?« da antwortete Fräulein Preiser statt ihrer: »Draußen, beim Tanz!« Denn sie war in jedem Augenblicke über alles und jedes unterrichtet, was irgend ein Glied der vergötterten Sanitätsrat-Familie vornahm.
Da aber führte der Diener den verspätet erscheinenden Oberst in den blauen Salon. Er bildete, begrüßend und glückwünschend, selbstverständlich bald den Mittelpunkt des kleinen Zirkels, von dem sich übrigens der »Planet« und sein »Trabant« lautlos ablösten, um einmal zur Abwechselung Regina, die Tochter des Hauses, von ferne zu umkreisen. –
* * *
Regina Lohmann, jetzt Frau Oberleutnant Scheurig, tanzte schon längere Zeit nicht mehr, sondern saß mit ihrem Vetter Heinz Rist in einer Dielen-Nische, ähnlich der der Rätin Scharfenberg, die immer noch mit ätzender Schärfe ihren neuen Klienten aufklärte.
Regina hatte sich in den Schatten der Nische zurückgebeugt. Sie wollte den zahlreichen Spähern ringsum ihre Züge möglichst verbergen; denn sie war in maßloser Aufregung.
Auch in dem Gesicht des gebräunten Mannes, der schon bei Tisch neben ihr gesessen hatte, ging's mit Flammen und Aufruhr um.
»Mäßige Dich, Heinz,« flüsterte sie mit pfeifendem Atem. »Man beobachtet uns!«
»Ach was!« stieß er heiser hervor. »Es geht mir über die Kraft! Und dann –« er lachte bitter – »wir sind ja Muhme und Vetter, Jugendgespielen. Also ist's unschuldig!«
»Wenn sie nicht so dächten, könnten wir auch nicht so hier sitzen! Und was wird nun?«
Die Frage klang drohend. Auf seiner überhohen, dunkelbraunen Stirn quollen fingerdicke Adern auf, und die spitzwinklig gekreuzten Schmisse auf der linken Wange glühten in drohendem Rot.
Sie sah ihm in seine flackernden schwarzen Augen, die Lippen zusammengepreßt und die Brauen düster zusammengezogen: aber ihr Blick, den erst nur Zorn durchglühte, wurde immer weicher und bittender, bis alles andre im feuchten Glanze willenloser Hingebung versank.
»Ach Heinz,« flüsterte sie wie im Selbstgespräch, »warum liegst du nicht tot am Kongo, wie sie sagten?«
»Mir wäre wohler, sicherlich!« stieß er hervor und schloß die Faust, als brauche er einen Anhalt im Versinken.
»Oder – warum sprachst Du nicht, ehe Du gingst?«
»Weil ich nichts war und bedeutete damals, und weil ich's nicht für nötig hielt! Soll ich's immer wieder sagen? Und weil ich Deiner so gewiß war, wie meiner selbst. Wenn ich mich täuschte –«
»Mein Gott, nein!« schrie sie förmlich auf. »Ich gehörte Dir ja!«
»Und jetzt?« Sein Blick bohrte sich in den ihren.
»Gehöre ich Dir noch!« hauchte sie atemlos, und ihre hohe Gestalt beugte sich in rührender Ergebung.
»So wage es!«
Sie wand sich förmlich unter seinem suggestiven Blicke, und visionär flammte ein Bild vor ihr auf. Sie sah ihn im Anschlage liegen, und wenige Schritte vor ihm den riesigsten Löwen, zum Sprunge gebückt, und wußte, der Löwe werde den Sprung nicht wagen, wenn auch der Schuß versagte. Denn aus des Mannes Auge strahlte ein lähmender Bann, dem auch die Bestie sich nicht würde entwinden können.
»Ich will's!« stieß sie hervor, seufzend aufatmend, als entringe sie sich einem hypnotischen Tiefschlafe.
»Wann also tun wir's?« fragte er, immer noch so, wie man ein Medium behandelt.
»Was?« entgegnete sie unsicher.
»Was? – Nun – das Einzige, was zu tun bleibt: verschwinden!«
Da ging's wie ein Erstarren durch ihren Körper, und in seinen Augen schwankte einen Pulsschlag lang die Unsicherheit.
»Oder wie dachtest Du Dir's?« fragte er rauh.
»Nicht so!« fuhr sie aus der Erstarrung empor. »Nicht so!« Es schüttelte sie innerlich. Ihr Blick traf ihn vorwurfsvoll. »Muß es sein – und es muß wohl – dann wenigstens offenes Visier!«
»Wie?« fragte er glücklich erstaunt. »Du wolltest?«
»Ja!«
»Feierlich vor sie hintreten und sagen: ›So und so!‹?«
»Ja, so oder gar nicht!«
»Regina!«
Erstaunen, Spott, Bewunderung und Verdruß, alles das lag in seinem Tone, und sie hörte jede Nüance heraus. Sie sah ihn groß an und fragte: »Du begreifst das nicht?«
»Offengestanden: nein! Es ist mir zu romanhaft und auch – verzeihe – zu unklug. Aber – es macht mich glücklich bis zur Raserei!«
»Ich aber brauche es, wenn das Ganze nicht bloß ein Zertrümmern werden soll. Und ich will mehr: ein neues, mein eigentliches Leben!«
Einen Moment bohrten sich ihre Blicke wieder ineinander und waren wie Ringkämpfer, die Brust an Brust keuchen.
Da stand vor beiden das Bild, das sie vorhin allein gesehen. Und er dachte: »So sah ich sie oft vor mir, die Augen, gierig nach meinem Herzblut und doch voll stummergebener Anbetung des Überlegenen. Und alles in einer Lohe glühend!« Und sie dachte: »Der Blick des Löwentöters und sein Bann!«
»So versuche es!« sagte er wieder suggestiv. »Es wird ihm viel kosten, Deinem Vater.«
»Viel! Vielleicht seinen ganzen Optimismus!«
»Und Deine Mutter?«
Sie senkte stumm die Stirn, fast wie in trotziger Feindschaft.
»Und Dein Mann –?«
Da richtete sie sich hastig wieder auf, kalte Abneigung in ihren Zügen.
»Er wird tun, hoffe ich, was er als Ehrenmann muß, und nicht ferner beanspruchen, was ihm nicht gehört!«
»Ich hoffe es auch!« sagte er, froh aufatmend und reckte sich; denn er dachte sich die Lösung anders, richtiger als sie und lechzte förmlich nach dem bevorstehenden Kampfe um diesen Preis.
So haschte er nach ihrer Hand, ließ aber schnell die seine sinken, denn er sah, daß Lohmann mit dem Obersten auf ihre Nische zukam, vom kreisenden Doppelgestirn seiner Verehrerinnen zurechtgewiesen.
Lohmanns Gesicht strahlte, wie er so neben dem vornehmsten Gaste seines Hauses einherging, in der Heiterkeit, die den Hausherrn auf dem Gipfel eines wohlgelungenen Festes umglänzt, und mit unverkennbarem Stolze sagte er: »Hier, Herr Oberst, stelle ich Ihnen unsern Afrikaner vor, den Sie kennen zu lernen wünschten. Herr Dr. Heinz Rist, Subgouverneur einer unaussprechbaren Provinz oder so was derartigem im Kongostaate.«
Der Oberst begrüßte zunächst Regina, dann den »Kolonialmann,« den man ihm als ›eminent energisch‹ gerühmt habe, und war sehr liebenswürdig.
»Mit Bedauern höre ich, meine Gnädigste,« fuhr er artig fort, »daß Herr Kam'rad Scheurig leider dienstlich verhindert ist –«
»Ja leider!« fiel ihm Lohmann ins Wort. »Er wird's umsomehr bedauern, wenn er hört, daß uns Vetter Heinz da so in die Festschüsseln geschneit ist. Denn, wissen Sie, Herr Oberst,« setzte er ein klein wenig weinselig hinzu, »wer weiß, wie's gekommen wäre, wenn dieser Dollkopf da – (er schlug Heinz kräftig auf die Schulter) – das is er nämlich – 'n doller Dollkopf! – wenn den nich seine Hitze und eine Handvoll dummer Streiche so vor 'nem halben Dutzend Jährchen in noch ärgere Hitze getrieben hätten!«
Der Oberst sah ein wenig befremdet von einem der beiden Gesichter zum andern; denn er ahnte etwas bei dem fiebernden Ringen nach Fassung, das Lohmann durch den feinen Alkoholnebel nicht mehr erkennen konnte.
»So, so!« lachte er aber doch weltmännisch. »Ich verstehe, Herr Sanitätsrat!«
»Na ja!« lachte Lohmann glücklich, »'s wäre kein übles Gespann geworden. Aber offengestanden: es ist mir so lieber!«
Und damit zog er den Oberst mit sich fort, um mit dem verspäteten Ehrengaste noch eine Art Cercle auf der Diele abzunehmen.
Regina und Heinz sahen sich lange stumm an, und durch den Todesernst in ihren Zügen zuckte irrlichtartig ein Fünkchen grimmen Humors.
»Du hast recht, Regina!« flüsterte Heinz. »Es kostet ihm seinen Optimismus! Aber das mag sein. Um den ist's nicht schade!«
Sie nickte nur stumm und mit zusammengepreßten Lippen.