Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Wunde der Kahl-Lene heilte sehr langsam, und in der elenden Hütte der Männerverlassenen hätte sich die ärgste Not eingenistet, wenn sie nicht immer wieder von Elisabeth und Lohmann verscheucht worden wäre.
So drängten die Verhältnisse Lenen selbst dazu, ihr Haus zu verkaufen. Lohmann bot ihr eine Summe, auf die sie kaum gerechnet hatte, und so kam's, daß schon im Juni der Bau des geplanten Logierhauses begann. Lohmann ließ es ganz in Holz aufführen, nach Art der nordischen Blockhäuser. Schon im Juli war's zu beziehen und bald auch bis unter das Dach an Sommergäste vermietet.
Die Kahl-Lene aber »lag« nun mit ihrer väterlosen Schar beim Nachbar »zu hausinne« und ließ zunächst Gott 'nen guten Mann sein; denn sie hatte ja vorläufig Geld genug. Und wenn sie nicht so ganz ohne männlichen Zeitvertreib gewesen wäre, dann hätte sie's wohl auch noch erwarten können, daß die Wunde heilte und der Arm wieder beweglich werde.
So allein aber mit ihrer jungen Horde und ohne rechtes Austoben ihrer urwüchsigen Kraft, hielt sie's nicht lange aus, und als sie sich in ihrer ungestümen Art eines Tages die eben erst verharschte Wunde aufs neue aufgerissen hatte, lief sie heimlich zur Riembacher Frau. Die werde ihr, hoffte sie bestimmt, schneller helfen als der »gestudierte Dukter.«
Tüchtig verpflastert kam sie zurück, und zwei Tage später eilten die Kinder in aller Herrgottsfrühe zu Mariannen, um Hilfe flehend: die Mutter habe den »Brand« im Arme.
Lohmann wurde sogleich benachrichtigt und stellte eine gefährliche Blutvergiftung fest. Als er von der Lene erpreßt hatte, wer das angerichtet habe, ließ er sogleich den Schimmel anspannen. Eine bessere Gelegenheit, die Kurpfuscherin im Riembachtal zu stellen, konnte sich ja gar nicht bieten!
* * *
Es war heute einer der großen Tage der Frau Böhme; seit sechs Uhr morgens war die saalartige »Krankenstube« im Erdgeschoß des Bauernhauses, die als Wartezimmer diente, schon dicht besetzt.
Von dem Komfort, der in ärztlichen Warteräumen dem Harrenden schon so einen ungefähren Anhalt über die Beliebtheit des Heilkünstlers und die Höhe der drohenden »Liquidation« gibt, war hier gar nichts zu spüren. Keine schmierigen, zerlesenen »Fliegenden« lagen umher oder sonstige angehustete Bazillenbehälter; den Patienten stand als einzige Unterhaltung die Betrachtung der Talstraße offen. Und die war bequem gemacht; denn kein Fetzchen Gardine oder Vorhang vor den sieben kleinen Fenstern der großen Stube hinderte an dem Ausblick auf die Straße und auf den so gut »prosperierenden« Gasthof drüben, durch dessen Haustür heute nicht nur der rundliche Firmamentträger von Wirt, sondern auch ein frackschwänziger »Saisonkellner« mit »eminenter« Geschwindigkeit jeder neu ankommenden Kutsche entgegenstürzten.
Unter den Fenstern liefen zwei lehnenlose Holzbänke die Wände entlang. Man sah's dem Speckglanze ihrer Lackierung an, daß sie sehr viel und nicht immer von Gästen in Festtagskleidern benutzt wurden.
Für die, die nicht auf ihnen Platz fanden, standen in frostiger Vereinsamung ein paar Brettstühle im weiten, freien Raum der Stube umher, und die beiden schmalen Bänkchen an dem braunen Kachelofen-Ungetüm waren wohl eine beliebte Zuflucht der besonders Gebresthaften.
Die Ordnung dieser Heilstätte forderte, daß sich jeder schon in diesem Raume der irgend entbehrlichen Kleidungsstücke zu entledigen habe, ehe er ins »Dukterstübla« durch die niedrige Tür in der Ofenwand eingelassen wurde.
Des Wächteramtes über diese Tür und diese Ordnung aber waltete eine handfeste Riembacherin, ein lediges Mädchen in reiferen Jahren, das sich die Böhm'n »für Pflegetochter« angenommen hatte.
Es war aber das Regiment dieser weidlichen Maid ein streng demokratisches. Vorzüge und Vornotierungen gab's nicht. Mehr als eine vornehme Stadtdame und hie und da auch wohl mal eine blutechte Komteß oder Baroneß hatten diese Armeleutstube unverrichteter Sache wieder verlassen, chockiert darüber, daß sie stundenlang unter übelduftendem Volke wartend sitzen sollten. Die wortkarge Marie mit den harten Augen ließ aber auch fernerhin nur in der Reihenfolge ins »Dukterstübla« vor, in der man die »Krankastube« betreten hatte.
Und auch an der Entkleidungssatzung hielt sie eisenstarr fest. –
Das Menschenhäuflein, das sie zu der Stunde mit kalten Augen überzählte, in der Lohmann das Riembachtal aufwärts kutschierte, bot eine förmliche Musterkarte von Ständen, Alters- und Bildungsstufen, Charakteranlagen und Leiden.
Am längsten schon unter allen harrend, saß ein von der Gicht ganz krumm gezogenes Weiblein auf der Ofenbank, frierend, trotz des heißen Julitages. Immer und immer wieder fuhr sie mit den krummgezogenen Fingern hinter sich, jedesmal vor der Kälte der glatten Kacheln zurückzuckend. »Ach Gott, ach Jees 'nee! Ach Gott, ach Jees 'nee!« stöhnte sie kurzatmig und unaufhörlich leise vor sich hin, und mit dem scheuen Augenaufschlage eines vielgeprügelten Hundes sah sie unter der Stirn hervor manchmal die Türhüterin mit dem bange fragenden Blicke an, ob sie nicht bald »zum Verpfloastarn« dran sei. Jacke und Mieder hatte sie bereits abgelegt; aber ihr welker, skelettartiger Körper zog keinen Blick der beiden Männer auf sich, die mitten unter den harrenden Frauen saßen.
Der Magnet für die Männeraugen waren vielmehr die runden, köstlich frischen Schultern eines jungen Landmädchens, das an der andern Seite der Tür saß.
Da es bald nach dem Weiblein vorgelassen werden sollte, war es von der starren Marie auch schon gezwungen worden, das Mieder abzulegen. Sie trug es zwar bald wieder über die Schultern gehängt, hatte aber beim Abstreifen doch die spähenden Männer nicht um alle Augenweide bringen können.
»Du, Glasla-Koarle,« hörte man den einen, ein dürftiges Männlein, vernehmlich seinem Nachbar zuraunen, »niehm der doas woahr! A su woas sitt ma ni olle Tage!«
»Recht huste, Schneider-Franze,« stimmte der andre zu, und seine Stimme klang wie das Grunzen eines Dickhäuters. »Doas wär' a Bissa! Do leeft eem ju 's Woasser eim Maule z'somma!«
Und dabei grinste der knotige, schwarze, struppige Kerl, dem ein Bart wie ein losgerissenes Stück Urwald im Gesicht hing, so gutmütig, daß man trotz allem sein Vergnügen dran haben mußte.
»Nee, 's luhnt schunt derwegen, doas ma und ma läßt sich moanchmol dohie eipfloastarn!« griente der Schneider. »Meine Ahle, die wees doas goar schmuck. Ei am Bißla wuld' se mich goar ni alleene giehn loahn.«
»Ich gleeb der'sch, Bruder Franze!« nickte der Schwarze, und seine knarrende Stimme machte jeden Laut in der großen Stube verständlich. »Die Weiber sein der a su, funzemol die oabschätziga! Und die erschta goar siehr! Hä, hä, Briederla, ma wiß ju: nischte wie ock blankig Brutneid is!«
»Nu, Du hoast's ju schiene, Glasla-Koarle,« sagte der Schneider elegisch, »Du hust ju ken'n sichta Tracha!«
Er büßte den Ehrgeiz der kleinen Männer nach einer großen Frau nun schon zwanzig Jahr und mit manchem blauen Flecke.
Der andre knurrte wieder sein sehr vergnügtes Lachen, das aber plötzlich in ein »Himmel-Schuckschwer-Dunnerwater!« schrill abbrach, und dabei faßte er mit beiden Händen an sein rechtes Knie.
»Nee, woas huste denn ober, Glasla-Koarle?« fragte der Schneider teilnehmend. »Du machst ju a Gesichte, scherr, als hätt'st de ei zahn quietsche-saure Hulzbärna gebissa!«
»Nee verflucht, Briederla!« stöhnte der andre mit dem sonderbaren Beinamen und wand sich so vor Schmerzen, daß ihm der helle Schweiß auf der Stirn stand. »Do kimmt's wieder, doas luderbänd'ge Reffma (Rheumatismus)! Als sellde der Teifel die Knucha hull'n, nät'rell a su reßt's.«
»Nee jeemersch, Glasla-Koarle, woas huste denn do wieder amol oangegahn? Do huste Dich wull wieder amol gehörig zugedackt gehoat und bist dernochert bei der Mutter Grün ei Schlofstelle gewast! Hoat se Dich ei an recht schin'n noaßa Stroaßagroaba gebett't? Hä?«
»Nee, Bruder Franze, do biste uf'm Hulzwage, biste,« ächzte der Schwarze und rieb verzweifelt das rheumatische Knie. »Da Schoada hoa ich do dar roas'niga Schinderei mit me'm Handel. Siehste, verwichna Monda, wie's und's wurde no amol a su verpucht kahlt, do woar ich ei Freibrig (Freiburg) gewast und hotte mei Wahnla dune vul ale Feil'n und Gloasscherba. Und wie iech do und zerrte da »ala Berg« uf Surge (Sorgau) nuf – Du bist ju durte bekannt! – do koam iech unflat'g ei a Schweeß; denn iech hotte gude sechs Zentner ufgeloada.«
»Nee, Koarle, schneid' ock ni a su tulle uf!«
»Kee Bißla ies do ufgeschnieta. Siehste, do koam ich der halt'g luderbänd'g ei a Schweeß. Und wie ich do und hott' mich nuff geschind't, siehste, do gieht's duba uf der Walmbriger (Waldenburger) Chaussee a Stickla a su schien groade, do leeft's Wahnla alleene. Und do koam der ober vo der Liebche (Liebichau) a su a verpuchter kahler Wind ruff, doaß und's ging mer durch olle Knucha. Na, siehste, und durte hoa ich mer da Hund gehult!«
Der Erzähler machte eine Pause, von Schmerzen halb abgewürgt, und in diese Stille klang von dem »Dukterstübla« her der gellende Aufschrei eines Kindes, vermischt mit dem Schelten einer rohen Frauenstimme.
»Nu, dam Madla gieht's wull au ni gutt do dinne?« sagte teilnahmsvoll der Schneider, und vier, fünf ländliche Frauen mit niederen Stirnen und geraden Scheiteln, die an der Wand entlang saßen wie in der Kirche, das weiße Taschentuch zwischen den gefalteten Händen, nickten wehmutsvoll mit den schief hängenden Köpfen wie bei den ergreifenden Stellen einer »schönen« Grabrede.
Die Erzählung des Altzeughändlers hatte ihnen die stummen Zungen gelöst, und selbst die feingekleidete Städterin, die mit hochrot-verschämten Backen neben ihrem schief gewachsenen bleichen Mädchen in tapferer Mütterlichkeit all diese »Gemeinheiten« stumm ertragen hatte, sah mit einer gewissen Teilnahme zu dem schwarzen Ungeheuer hinüber, das sich förmlich in seinen Schmerzen wälzte.
Lauter und lauter schwirrten allerhand ähnliche Krankheitsgeschichten von Mund zu Mund, und schließlich geschah, was unvermeidlich scheint, wo sich die leidende Menschheit in Scharen zusammenfindet: einer erzählte dem andern haarklein seine Gebrechen, und der andre hörte zerstreut zu. Er konnte es kaum erwarten, auch seinen Schmerzensbericht auszukramen.
Inzwischen aber ging die starre Marie in monumentaler Isolierung wie das blind waltende, taube Fatum hin und her und hielt die Ordnung in dieser Sammelstelle der Qual aufrecht, unberührt von allem, was da klagend berichtet wurde.
Denn es war ihr ein altes Lied!
Alle Tage hob's mit demselben Crescendo an und brach bei jedem plötzlich ab, wenn sie an ihn herantrat und sagte: »Ziehn Se sich ock derweile aus! Se sein glei droan!«
Dann gab's für jeden nur das gespannte Starren nach der niedrigen Tür, hinter der in fast regelmäßigen Zwischenräumen bange Aufschreie und das Schelten der groben Frauenstimme hörbar wurden.
Und wenn sich dann die Tür auftat, und aus ihr eine halbnackte Person mit kalkbleichem, oft tränenüberströmtem, von den Fäusten des Schmerzes zerschlagenem Gesichte herausschwankte, dann schickte sich der, der nun dran war, an, mit wankenden Knieen in diese Höhle heilkünstlerischer Brutalität hineinzuschleichen.
Die eilige Renkfrau mußte aber immer zwei Opfer zugleich in ihrem Allerheiligsten haben.
Durch die geöffnete Tür sah darum einen Augenblick die ganze Korona draußen einen nackten Männer- oder Frauenrücken oder ein Paar entblößte Beine glänzen, auf denen eine starkknochige Frau mit breiten Männerdaumen über schmerzzuckende Muskeln strich, in barbarischem Drucke, gefühllos, wie man Heuschreckenschwärme in den Boden walzt.
Es gehörten wohl starke Nerven und ein berauschtes Vertrauen zur »Riembacher Frau« dazu, um nun auch noch eine geraume Weile in der engen, heißen, salbenduftenden, von zahllosen Fliegen durchschwirrten Stube Zeuge der Qual des andern sein zu können, ehe man selbst an die Reihe kam.
Es hat sich manche hysterische Salondame hinterher gewundert, woher sie die Kraft genommen habe, genau so und nicht anders das alles über sich ergehen zu lassen, wie's die demokratische Ordnung der starren Marie erheischte. –
Während Glasla-Koarle abwechselnd erzählte und fluchte, hatte sich die gichtige Alte durch das niedre Tor der Tränen neben dem Kachelofen hinein- und wieder herausgestöhnt, auch das frische Landmädchen mit dem bedenklichen Rippenbruche war – hochrot im Gesicht vor Schmerz und Scham – von der ungeduldigen Renkfrau zur Tür hinausgestopft worden, noch ehe sie Zeit gefunden hatte, das reinliche Passenhemd über der blühenden Brust völlig zu schließen, ein Anblick, der dem Glasla-Koarle auf Augenblicke sogar sein »Reffma« vergessen ließ. Auch die Stadtdame hatte, an Händen und Füßen zitternd, ihre schiefgewachsene zarte Kleine hineingeführt. Aber schon nach kurzer Zeit schwemmte sie zusamt ihrem fassungslos schreienden Kinde eine wahre Brandung grober Schimpfreden der Renkfrau wieder in die »Krankenstube« heraus, wie die Flut ein schönlackiertes Zierboot an den Strand gurgelt.
Mit fliegenden Fingern kleidete die Frau das Kind an, das flehend mit seinen guten, blauen Augen im todbleichen Gesichtchen zu ihr aufblickte, wie eine vorzeitig eingeschneite Gentiane zur befreienden Sonne. Dicke Tränen rollten dabei Perle um Perle über die Wangen der innerlich schluchzenden Mutter, und die Bauersfrauen falteten bei diesem Anblicke die Hände krampfhafter um die weißen Taschentücher und nickten noch elegischer mit den glatten Scheiteln, und der Glasla-Koarle strich noch hastiger sein rheumatisches Knie.
Der Schneider aber raunte halblaut: »Ju, ju, Koarle! Die grußa Weiber, doas sein der anne verfluchte Nation!«
Aber deutlichere Zeichen des Unwillens wagte niemand; denn die starre Marie lehnte am Türpfosten und beherrschte alle mit ihrem Blick, und kurzerhand an die Luft gesetzt zu werden, darnach verlangte keinen. Solche Geschichten aber gingen genug von ihr in den Tälern um. –
In diesem Augenblicke trat Lohmann in die Stube. Seine Ankunft am Gasthause drüben hatte niemand wegen der aufregenden Szene im Zimmer bemerkt.
Seine vornehme Erscheinung erregte hier auch durchaus keine Sensation; denn es waren Aussprüche der Riembacher Frau landbekannt wie: »Aus am Barone mach' ich mer goar nischte ni! Sulchte Surte sah ich olle Wucha amol!« oder: »Wenn der Ferschte (Fürst) salber sich amol uf der Joid an Knuche verstaucht und schickt noch mer, do gieh i au no nee. Dar muß ei mei Dukterstübla kumma, wie jeder gemeene Waberschmoan.«
So mußte es wohl andere Gründe haben, daß die starre Marie bei Lohmanns Anblick die Nase aufwarf wie ein guter Spürhund.
Sie war eben so einer!
Lohmann grüßte freundlich nach allen Seiten und überzeugte sich schnell, daß kein bekanntes Gesicht unter den Patienten war.
»Kann ich mal Frau Böhme sprechen?« fragte er die starre Marie, der er sogleich ansah, daß sie hier die Honneurs mache.
»Woas wulln Se denn?« fragte die unfreundlich zurück und setzte hastiger hinzu, als das sonst ihre Art war: »Wull'n Se au eigepfloastert sein?«
Lohmann verneinte und amüsierte sich sogleich, wie schlau hier das Aushängeschild gewahrt wurde.
»Ich möchte Frau Böhme nur sprechen, nicht ihre Hilfe in Anspruch nehmen!« entgegnete er.
»Nu, do müssa Se worta, bis dohie oalles gemacht ies, oder no amol wiederkumma.«
»Dann will ich warten!« entschied sich Lohmann. Es lag ihm ja daran, zu beobachten, was hier vorging.
Er setzte sich neben Glasla-Koarl'n und sah noch, wie die Stadtdame, ohne jemand anzublicken, mit stillem Gruße ihr Kind hinausführte.
Die laute Unterhaltung war ins Stocken geraten. Die Frauen tuschelten nur noch leise miteinander, und so mußte sich Lohmann, der durch eine forcierte Anrede alles zu verderben fürchtete, mit dem begnügen, was er zu sehen bekam, wenn die Tür ins ›Dukterstübla‹ auf- und zuging.
Und das genügte allerdings schon reichlich, ihn in Erstaunen zu setzen.
Jetzt wurden die beiden guten Freunde neben ihm, die in der Stube weiter nichts ›Saftiges‹ mehr zu betrachten fanden, auf seinen Schimmel aufmerksam, der im Schatten der breitästigen Kastanien drüben vor dem Gasthause an einer Krippe stand.
»Dar sitt ju bal aus wie d'r Schimmel vo dar ala Wasnern aus der Laubnitz,« sagte der Schneider verwundert. »Huste die gekennt, Koarle?«
»Ju, ju! Siehr gutt hoa ich die gekennt!« bestätigte der Schwarze, dessen Schmerzen wieder vergangen waren. »Und doas ies au ihr Schimmerla! Ich hätt' a gerne gekeeft, do se und woar gesturba. Ich kennde zu gutt a Fardla braucha. Do hätt' ich's doch a schie Bißla lechter mit m'em Handel. Und do hierte verlechte au amol doas verdommte Gemahre und Geprülle vo da Durfranga uf.«
Der Schneider lächelte verständnisvoll. Es war meilenweit bekannt, daß ›Glasla-Koarle‹ für die liebe Straßenjugend war, was der Uhu für einen Schwarm Stare oder Krähen ist, wenn er sich am lichten Tage blicken läßt. Wenn er in ein Dorf oder Städtchen mit seinem Karren einzog, wirkte er mehr als der Rattenfänger von Hameln; denn hinter ihm her lärmte ohne jede Anlockung sogleich ein dichter Schwarm von Kindern, die ihn mit dem gellenden Jubelruf »Glasla-Koarle! Glasla-Koarle!« begleiteten. Sie ließen auch nicht ab von ihrem Huldigungsgebrüll, wenn er schimpfte, daß ihm der Schweiß in Strömen von der Stirn rann, und dabei so wild aussah, wie sich der schreckhaft belesene Flickschneider Seppelt aus den Vierhäusern einen ›Räuberhauptmann aus den Abruzzen‹ vorstellte. Man hatte nämlich noch niemals gehört, daß der Glasla-Koarle einmal einem unter den tausend Schreiern, die ihn jahraus, jahrein plagten, auch nur ein Härchen gekrümmt hätte.
An das alles dachte der Schneider jetzt und schmunzelte: »Su, su, Koarle, do wullt'st du goar doas Schimmerla keefa? Huste denn a su viel Moos z'somma geschachert?«
»Nu nee, Briederla,« antwortete kleinlaut der andere und kratzte sich hinter den schmutzigen Ohren, »'s reechte ebenst ni ganz, und dernochert, ich wär' wull au zu langs'm kumma, 's hott's, denk' ich, schunt a Dukter gekeeft.«
Lohmann wurde es unbehaglich zumute.
Kannte man ihn und verstellte sich bloß, oder hatte man ihn nicht kommen sehen und war wirklich ahnungslos?
Die Gesichter aller schienen dafür zu sprechen.
»Ju, ju, Koarle, doas hoa ich au gehiert!« bestätigte der Schneider, »'s ies gleech enner, dar no ni lange ei der Laubnitz wohnt. Ma hiert a su ollerhand Necksches vo'm. Ha kricht zu a gewöhnlicha Leuta ei de Stuba und brengt a Büchla und Bildla. Und se sull'n, denk' ich, nimmeh di gala und ruta Hefte keefa, die dar kleene hoalbpicklige Kulpetär verträt, Du kennst a ju au, Koarle, dar mit dar unbänd'ga Ladertoasche!«
»Freilich kenn' ich dan. Ha puckelt sich redlich rim, und do kimmt a su a Grußoartiger und nimmt 'm sen'n Bissa Brut verm Maule weg! Is doas wull recht?«
»Siehste, Koarle, do kumma wer z'somma! Doas ies die Sache! Doas scheint überhaupt a ganz a Genißlicher zu sein, darselbigte Dukter! Ha sol au no moanchmol kuriern. Na, und imsunste macht doch a hichtner nischte ni, wenn ha au und braucht's schunt lange nimeh uf Brut.«
»Do huste recht, Briederla! Die sichta, die sein erscht recht wie de Oare ufs Geld!«
»Verstiehn koan dar ni viel vo der Dukterei!« mischte sich die starre Marie ganz gegen ihre Gewohnheit hier ins Gespräch.
Die gesamte Runde gab darob sichtliche Zeichen des Erstaunens. Lohmann biß sich auf die Zunge, er konnte des Lachreizes nicht anders Herr werden. Doch wurde es ihm bald leichter, ernst zu bleiben; denn die starre Marie fuhr fort: »'s woar ver a poar Taga anne Laubnitzern dohie, die Kahl-Lene.«
»Ach Jee, doas Lungastücke?« platzte Glasla-Koarle heraus. »Nu, do is schunt gutt!«
»Die hoat dar gestudierte Dukter ni schlechte verkuriert,« erzählte Marie weiter. »Bei dar woar'sch Zeit, doas se koam. Suste hätte die im Leben nimeh 's Gelenke uf ihra Oarm wiedergekriegt.«
Jetzt wollte Lohmann eben aufspringen und der Komödie ein Ende machen, da trat die Renkfrau selber mit ihrem letzten Opfer heraus.
Sie grüßte barsch und fragte: »Nu, hiert's denn hinte wieder amol goar ni uf? Ihr denkt wull, ma kriegt's goar ni soat uf de Knucha?«
Niemand muckste, sondern es steckte jeder eine sauer-süße Miene auf. Es wollte ja keiner seinen weiten Weg umsonst gemacht haben.
Durch ein leises Zwinkern der starren Marie gelenkt, fiel der Blick der Frau Böhme auf Lohmann.
»Nu, war sein denn Sie?« fragte sie. »Hoan Se sich au woas verrenkert?«
Lohmann lachte amüsiert in sich hinein; denn er fand, daß die selbstgewisse Art dieser Bäuerin mit ihrem Von-Oben-herab entschieden stark an den Ton weltberühmter »Spezialisten« erinnere.
»Nein,« erwiderte er daher gut gelaunt, »verrenkt habe ich mir nichts. Aber fragen möchte ich Sie doch gern etwas. Und da Sie gerade eine Pause machen, so gestatten Sie mir wohl, daß ich da eintrete?«
Und gewandt schob er sich, ohne ihre Antwort abzuwarten, zwischen ihr und der zu spät zufassenden Marie hindurch ins ›Dukterstübla‹. So blieb der verblüfften Renkfrau nichts andres übrig, als ihm zu folgen. Sie tat's mit einem Brummen, aus dem sehr unschwer ein deutliches ›Ausverschamtheit‹ herauszuhören war.
Lohmann zog, als sei er Herr im Hause, die Tür hinter ihr zu und sagte dann: »Verzeihen Sie, daß ich vorgriff! Ich denke aber, es wird Ihnen selbst angenehm sein, wenn wir unter uns sind. Ich bin nämlich der Sanitätsrat Lohmann aus Laubnitz.«
Einen Augenblick huschte über das breite Gesicht der Frau, die beide Fäuste auf ihre weitausladenden Hüften gestemmt hatte, eine geärgerte Besorgnis, und sie schielte Lohmann ein Wimpernzucken lang mißtrauisch-abwehrend an.
Lohmann sah, daß sie alles durchschaute, und daß der Kampf mit dieser Brunhilde nicht ganz leicht sein werde.
»Su?« sagte sie nun gedehnt. »Dar sein Se? Nu, und woas wull'n Se denn do?«
Lohmann zog sich unaufgefordert einen Stuhl herzu und setzte sich neben den Pflastertisch, auf dem neben einem schmierigen Brett ein länglicher Steg dunkelgrüner, harter Salbe lag, in der ein Messer steckte. Daneben hielt ein eiserner Klemmstab eine ›Schleeße‹. Mit ihr wurde offenbar das Messer erwärmt, um etwas von dem Salbenstege losbekommen und auf die länglichen Leinwandstreifen schmieren zu können, die daneben zu einem kleinen Berge aufgehäuft lagen.
Lohmann dachte, während er diesen primitiven Heilapparat betrachtete: »Da haben wir das Geheimnis von Lenens Blutvergiftung!«
Laut aber sagte er: »Sie haben jüngst die Kahl-Lene aus Laubnitz eingepflastert, Frau Böhme?«
»Ju!« stieß die Frau heraus. »Woas gieht Ihn denn doas oan?«
»Doch Einiges, Frau Böhme! Die Lene war vorher in meiner Behandlung. Und wenn sie nun infolge der Blutvergiftung stirbt, die sie sich hier (er zeigte auf den Pflastertisch) geholt hat, so möchte ich doch nicht gern mitschuldig sein.«
Die große rote Nase der Frau wurde bleich und spitz.
»Ach a su!« stieß sie hervor. »Do wull'n Se mer wull jitzte an recht schinn Strick drehn aus dar Sache?«
»Das kommt drauf an!« entgegnete Lohmann.
Er stand auf und fuhr in sehr ruhigem Tone fort: »Sagen Sie mal, Frau Böhme, haben Sie gar nicht überlegt, was Sie anrichten, wenn Sie auf eine offene Wunde das Dreckzeug da kleistern? Mit dem Messer, an dem die Bakterien ja zu Millionen sitzen müssen? Das ist ja die reine Leimrute für Bakterien.«
»Bakterien?« fragte sie, ungläubig lächelnd. »Sie min'n doch die Oansteckungstierla? Na, mit dam tumma Zeuge lohn Se mich zufriede! Woas goar ni erschta und's koan's a Mensch dersahn, und wenn ha no a su gutt sitt, doas sol woas schoada? Tummes Zeug!«
»Das ist so dummes Zeug, Frau Böhme, daß es der Kahl-Lene das Leben kostet, wenn nicht noch ein Wunder geschieht. Aber lassen wir das! Sie verstehen weniger davon, als ich annahm. Kommen wir also zur Hauptsache!«
»Nu ja, 's ies mer lange recht!« warf sie grob dazwischen.
Lohmann kehrte sich nicht daran, sondern fuhr fort: »Daß Sie hier und da jemanden ein verstauchtes Glied einrenken, regt mich nicht auf. Aber das sage ich Ihnen, mit Ihrem Kurieren offener Schäden oder gar innerlicher Krankheiten muß ein Ende gemacht werden!«
»Oho!« stieß da die Frau wütend heraus. »Doas wull'n mer no sahn!«
»Ja, das werden Sie! Und deshalb bin ich hier! Hören Sie nun! Für den Fall mit der Kahl-Lene entgehen Sie dem Staatsanwalt nicht, wenn Sie mir nicht schriftlich versprechen, daß Sie sich von jetzt ab aufs bloße Einrenken beschränken wollen.«
»Woas, Se wull'n mich oanzeiga?«
»Ja, das will ich!«
»Und soin mer doas ei menner eegna Stube?«
»Ja, wo soll ich denn sonst –«
»Nee verpucht! Doas gieht mer doch über a Spoaß! Doas ies doch goar zu tulle! Do möcht' ma ju –!«
Sie sah sich in dem engen Raume um, als suche sie nach einer Waffe. Lohmann merkte, daß sie vor Wut nahezu sinnlos war. Er durfte sie nicht mehr reizen, wenn er sich nicht selbst ins Unrecht setzen wollte.
So nahm er seinen Hut, ging auf die Tür zu und sagte: »Ich gehe hinüber ins Gasthaus und warte dort eine Stunde lang. Schicken Sie mir dahin Ihre Zusage. Im andern Falle – Sie sind gewarnt! Adieu!«
Damit ging er zur Tür hinaus, hinter der sich, noch ehe er sie schließen konnte, ein maßloses Toben und Schimpfen erhob, das er aber gänzlich unbeachtet ließ.
Schnell schritt er durchs Wartezimmer hinaus und harrte getreulich im Gasthause die zugesagte Stunde; denn ihm lag mehr daran, die Quacksalberin durch ein Versprechen zu binden, als sie bestrafen zu lassen.
Er wartete vergeblich.
Und hätte er Zeuge dessen sein dürfen, was drüben in der Krankenstube die gesamte Runde der wutschnaubenden Renkerin zu liebe von den Ärzten im allgemeinen und von ihm im besonderen zu berichten und zu vermuten fand, er wäre wohl schon früher abgefahren.
* * *
Die Bärennatur der Kahl-Lene überstand auch die gefährliche Blutvergiftung; das hielt aber Lohmann nicht ab, die Riembacher Frau trotzdem dem Staatsanwalt zu übergeben. Sie wurde mit einigen Wochen Gefängnis bestraft, und Lohmann hatte nun in ihr eine unversöhnliche Feindin.
Das beunruhigte ihn nicht weiter. Wohl aber kränkte ihn, daß er offenbar ihren Zulauf dadurch erhöht hatte.
Er vergaß den Ärger aber ziemlich schnell über den mancherlei Unruhen, die der Logierhaus-Bau mit sich brachte und zur Folge hatte. Die Laubnitzer Hausbesitzer erkannten nämlich langsam, daß ihnen Lohmanns Bestrebungen doch nützlich waren. Denn jede Familie mehr an Sommergästen steigerte die Nachfrage nach dem, was ihre Landwirtschaften hervorbrachten. Auch die Weberkinder fanden bald, daß sich an den Fremden mancher Groschen verdienen ließ, wenn man für sie Beeren und Pilze sammelte, Botengänge lief oder sonst kleine Dienstleistungen übernahm.
Schließlich wirkte gerade das Beispiel des so schnell aufgeschossenen Logierhauses ansteckend auf die Hausbesitzer. Jeder brannte darauf, in seinem Hause auch ein oder zwei Stübchen ›zum Vermieten‹ herzurichten. Viele baten dabei Lohmann um Rat, und er war gern bereit, den Leuten nicht nur damit zu dienen, sondern er schoß ihnen auch kleinere Summen vor, damit sie die ersten notwendigen Anschaffungen machen könnten.
Die Schuldscheine, die man ihm dafür ausstellte, wurden aber vielfach zum Dietrich, der seinen Büchern und Bildern ganz heimlich bisher festverschlossene Türen öffnete.