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Zehntes Kapitel.

Der Schimmel verlangte stürmisch nach Bewegung und riß vor Ungeduld fast den Stall ein. Darum lieh sich Lohmann am Tage nach dem Begräbnisse der alten Wasnern – das ohne jedes äußerliche Zeichen von Trauer verlief – einen Schlitten und probierte die früher bereits geübte Kutschierkunst.

Es war einer der kalt-klaren Tage, die diesen Winter auszeichneten, und die Schlittenbahn vorzüglich, als der dicke Schimmel mit dem Sanitätsrat so eilig das Dorf hinabklingelte, daß mehr als ein verwundertes Gesicht an die niedrigen Fenster herangelockt wurde.

Vor der Gartentür der »Villa« ward dem Gefährt ein begeisterter Empfang durch die »Klienten«-Schar Mariannens, die hier auf die übliche Weihnachtspfefferkuchen-Spende lauerte. Der Wasner-Schimmel vor einem »Spazierschlitten« diente der kleinen Horde zu einer ungeahnten Erheiterung.

Sie vergaßen Pfefferkuchen, Gönnerin und alles darüber und umringten gleich Evoe-Rufern händeklatschend und johlend das Fuhrwerk so, daß Lohmann Schritt fahren mußte, weil er weder die Peitsche brauchen noch einen der Schreihälse überfahren wollte. Er wäre sie schwerlich auch bald wieder los geworden, wenn nicht auf der Freitreppe des Schulhauses, an dem dieser spontane Triumphzug vorüberjubelte, der energische Herr Lehrer erschienen wäre und die Schimmelbegeisterten durch sein drohendes Fingerwinken verscheucht hätte.

Lohmann hatte dies jugendliche Attentat erheitert, und mit stillem, innerem Vergnügen ließ er den Schimmel zwischen den beschneiten Wiesen unterhalb des Dorfes dahintraben. Jenseits des Bahndammes lenkte er in schnellem Augenblicksentschlusse nach links, fuhr eine Strecke den Damm entlang und bog dann, den Bahnkörper abermals überquerend, in ein Tal ein, das, dem Laubnitzer parallel, als enge Furche ins Gebirge eindrang.

Länger schon als das Laubnitzer erfreute sich dieses, das »Riembach-Tal«, eines regen Besuches von »Sommerfrischlern«. Aber Lohmann fand, daß es doch einförmiger und darum reizloser sei als jenes. Hoch und geschlossen umsäumten es steile Bergwände mit einer allzu gradlinigen Umwallung, und viel weniger malerisch als Laubnitz streckte sich die geschlossene Häuser- und Gehöftreihe von Riembach den heimtückischen Bergbach entlang. Lohmann wußte, daß diese Häuserreihe sich bis hinauf dehnte zu einem der hohen Straßensättel, die in diesem Berglande Übergänge bilden, viel bewundert oder viel geschmäht, je nachdem sie ein schönheitdurstiger Tourist oder ein hochbepackter Frachtwagen überquert.

Nicht weit unterhalb dieses Joches hielt Lohmann sein dampfendes Rößlein vor einer Schneidemühle an, die die in diesen Bergen nicht seltene Verschwisterung mit einem Gasthofe zur Einkehrstätte machte. Er ließ den Schimmel gut zudecken und trat in das behaglich durchwärmte Gaststübchen ein.

Es war ihm so heiter zumute, wie schon lange nicht mehr. Die muntere Fahrt durch die reine, frische Winterluft hatte ihn verjüngt, und etwas von dem optimistischen Behagen, mit dem er früher Welt und Menschen betrachtete, kam über ihn. Und so begrüßte er denn auch in seiner ehedem berühmt gewesenen Leutseligkeit den wohlbeleibten Wirt. Der trug eine blanke Glatze über einem kreisrunden, glatten, heiterkeitstrahlenden Gesichte, als wollte er seine Gäste ständig durch den Anblick der nächsten Nachbarschaft von Sonne und Mond ergötzen.

Er half Lohmann, dem dieser »Firmamentträger« für die Waldschenke eigentlich viel zu geleckt erschien, beim Ablegen des Pelzes mit den runden, schwungvollen Bewegungen im komisch-großen Stile der Dicken.

Und als der Gast einen Grog forderte, dokumentierte er, daß er kein vulgärer Dorfwirt sei, indem er mit derselben großzügigen Armbewegung an den Knopf einer elektrischen Klingel drückte. Und nun erst kam's Lohmann zum Bewußtsein, daß er sich hier in einer »frequentierten Sommerwirtschaft feineren Genres« befinde, die nur augenblicklich ihren winterlichen Dornröschenschlaf hielt.

Auf Rechnung der saison morte sei's auch nur zu setzen – erfuhr er bald in der Unterhaltung von dem das Mündchen zierlich spitzenden Wirte – daß zu seiner Bedienung nicht einer der gewandten »Saisonkellner« bereit sei. Lohmann fand's aber »netter«, daß sich zu diesem Behuf bald des Wirtes sehr niedliches Frauchen einfand.

»Ich würde,« fuhr der Wirt in seiner Selbst-Inszenierung fort, nachdem sein Frauchen wieder hinausgegangen war, »mich auch gar nicht hier einschneien lassen, wenn sich nicht herausgestellt hätte, daß das Geschäft auch im Winter prosperiert, in bescheidenen Grenzen prosperiert, heißt das.«

»So?« sagte Lohmann amüsiert. »Prosperiert's?«

»Gewiß, mein Herr! Es prosperiert!«

Der Wirt versicherte das mit solchem Eifer, daß sich die Weltordnung umkehrte: die Sonne seines satten Antlitzes ward vom Widerschein einer leisen Röte überhaucht, die der leuchtende Glatzen-Mond über sie ergoß.

»Ja, seit sich in den letzten Jahren die Praxis der Frau Böhm drüben so riesenhaft gehoben hat,« fuhr der Wirt fort, »ist doch auch im Winter hier ein eminenter Verkehr. Die meisten Patienten kommen früh, spannen bei mir aus und viele speisen dann auch hier. Wir hatten heut zehn Tischgäste.«

»Patienten?« fragte Lohmann unsicher.

»Wie, Sie wissen nicht, mein Herr? I, ich meinte, der Herr wollten vielleicht selbst Frau Böhm konsultieren.«

»Das nicht!« sagte Lohmann, dachte aber hierbei an Lanzens Andeutungen über die Quacksalberei im Gebirge und tappte sich darum vorsichtig weiter: »Heute nicht, ich meinte auch, die weise Frau wohne weiter droben im Tal.«

»Nein, nein!« ereiferte sich der Wirt. »Hier wohnt sie, drüben über der Straße! Dort in dem bescheidnen Hause! Eminent bescheiden! Nicht wahr, mein Herr? Und könnte sich gut 'n Schlößchen hinbauen. Denn bei der prosperiert's, mein Herr! Bei der prosperiert's.«

»So? Prosperiert's?« Lohmann konnte sich diese Gegenfrage nicht verbeißen.

»Gewiß,« antwortete der Wirt, und ein ganz, ganz leichtes Verdachtswölkchen zog trübend über seine Mienen, die in nachbarlichem Stolze strahlten. »Es ist aber auch in Wahrheit eine ›weise Frau‹!«

Und nun vertiefte er sich in eine zungenfertige Darstellung der »eminenten Heilerfolge« der »bescheidenen« Frau, die das Volk höchst vulgär die »Riembacher Renkfrau« nenne, trotz ihres »eminenten Rufes«.

»Und sehen Sie, mein Herr,« schloß er, »die Nachbarschaft der Frau Böhm ersetzt der Mühle hier die sonst fehlschlagende Wintersaison, so daß sie eben so gut prosperiert wie manches Hotel drüben in Dingsda.«

(Er nannte den Namen eines Kurortes für Lungenkranke jenseits des Riembachsattels.)

Hätte Lohmann nicht das Mitleid mit dem Schimmel zur Heimfahrt getrieben, er würde dem Jongleurspiel wohl noch eine Weile amüsiert zugeschaut haben, das der Dicke mit seinen beiden Fremdwörter-Glaskugeln agierte. Und während der Fahrt talabwärts dachte er immer noch erheitert an die gezierte Art des Mannes, die zu seiner kolossalen Fülle in einem nicht minder lächerlichen Gegensatze stand, wie zu seiner ländlich-ausgestorbenen Umgebung.

So geschah's bei dieser ersten Ausfahrt mit dem nachgelassenen Arbeitsgefährten der zerschmetterten Wasner-Mutter, daß sich der »Weltflüchtling« und »Grabhüter« Lohmann bei einem tiefinnerlichen, stillvergnügten Lächeln ertappte.

Vor sich selber schier erschreckend, scheuchte er's in einen dunklen Herzenswinkel zurück, und während er in Laubnitz hinauf den Schimmel langsam gehen ließ, grübelte er, was dieses »unzeitgemäße« Lachen lebendig gemacht haben könne: die beiden hohlen Wortkugeln, die frische Winterfahrt, der Kinderjubel – oder was war's wohl?

So fuhr er, als es schon dunkelte, an der »Villa« vorüber.

Zurückblickend sah er den matten Lampenschimmer hinter den Tüllgardinen des Mariannen-Stübchens.

Da kam noch einmal die Lachlust schelmisch hervorgeschlüpft, die er eben verscheucht hatte, und sie kam bei dem Gedanken, wie sich wohl die Kranke amüsieren würde, wenn er ihr morgen von seiner Entdeckungsfahrt ins Riembachtal erzählen werde.

* * *

Schon am nächsten Nachmittage ließ Lohmann wieder einspannen – und zwar in seinen eigenen, in einen neuen Schlitten, den er sich von einem Gersdorfer Wagenbauer hatte herausbringen lassen – um Direktor Lanz und Frau nach Laubnitz herauszukutschen.

Lanz war in grimmig-guter Laune. Sein »Muttchen« saß in stiller Freude neben ihm. Sie war eine Winterschwärmerin und kam doch so selten zum Genusse eines winterlichen Spazierganges oder einer Schlittenfahrt. Zu jenem war sie zu anfällig, zu diesem zu sparsam. Und auch zu stolz war sie, um oft das Gespann des Kommerzienrats, ihres besonderen Gönners, anzunehmen, zu stolz und zu rücksichtsvoll gegen die Arbeiter. »Je weniger Kutschen sie sehen,« pflegte sie zu sagen, »desto besser für sie und uns!«

»Also das ist der ›Erb-Schimmel‹?« spottete Lanz, während sie zwischen den förmlich vergletscherten Wiesen hinglitten. »Wieviel haben Sie denn berappt für das faule Stück Fleisch?«

Lohmann verteidigte lachend sein Rößlein. Als er aber den Preis nannte, wurde der Alte fuchswild.

»Wie? Was? So viel? Da sieht man's! Ja, die Heiligen! Am Geldbeutel, da ist die Grenze des Reiches Gottes. Auch bei ihnen!«

Lohmann mußte wieder verteidigen. Wasner hatte gar nichts gefordert, sondern gebeten, der Herr Sanitätsrat möchte das Pferd von einem Sachverständigen abschätzen lassen. Das war dann auch geschehen.

»Und der Sachverständige?« forschte Lanz.

»Der Wenzel-Fleischer!« antwortete Lohmann etwas befangen und entfesselte damit einen förmlichen Lachkrampf bei Lanz.

»Haha!« schüttelte er sich. »Da sind Sie freilich dem Rechten in die Hände gefallen! O, diese schlauen Heiligen!«

»Nein, Herr Direktor, Sie täuschen sich wieder,« wies ihn Lohmann ernst ab. »Durch einen Zufall kam ich selbst auf diesen ›Sachverständigen‹. Es war kein guter Zufall: der Mann hat mich geprellt, prellen wollen! Es ist ihm aber nicht gelungen. Wasner wollte mir aus freien Stücken einen Teil des Geldes zurückgeben, als er von Wenzel erfahren hatte, der habe mich geschneppert, um mit ihm zu teilen.«

»Siehst Du, Alter,« mischte sich hier Frau Malwine ein, »da hast Du wieder mal Deine Lektion von den ›Heiligen‹ weg! Übrigens, meine Herren, sehen Sie sich doch lieber mal da droben die Zimmerberg-Buchen im Rauhreif an! Wundervoll!« –

Lohmann stimmte zu, und da eben jetzt sich schräg vor ihnen der Eingang ins Riembachtal öffnete, erinnerte er sich seiner gestrigen Fahrt und erzählte sein Erlebnis.

Lanz stand gleich wieder in Flammen.

»So, von der Böhm'n hat er Ihnen vorgeschwärmt? Glaub's schon! Der schöpft ja's Fett mit ab von dem Hokuspokus. Schade, daß Riembach nicht mehr zu meinem Amtsbezirk gehört! – Merkwürdig ist, daß noch keiner Ihrer Herrn Kollegen mal dort dazwischengefahren ist. Die sind doch sonst schnell genug mit'm Brotneide zur Hand! Aber unser guter Doktor – na, ich will mal lieber still sein!«

»Das ist gescheit, Alter!« lächelte seine Frau, fuhr aber nach einer Weile ernster fort: »Das heißt: verdienstlich wär's schon, wenn sich mal ein Sachverständiger überzeugte, wieviel Schaden eigentlich die Frau anrichtet. Wie wär's, Herr Sanitätsrat? Da hätten wir schon gleich eine ›soziale Aufgabe‹ für Sie!«

Und dabei sah sie ihn mit ihren klugen Augen an, das kindliche Lächeln um den frischen Mund, das ihn immer so sehr an Mariannens gütestrahlendes Gesicht erinnerte.

Er sann nach und erwiderte dann: »Warum nicht? Wenn sich's tun läßt, was übrigens meistens sehr schwer hält! Die Sache lockt mich in mehr als einer Beziehung. Und dann – der Schimmel muß doch Bewegung haben!«

Bald darauf hielten sie vor der »Villa«.

Lohmann übergab seine Fahrgäste Elisabeth, die mit herzlich erfreuter Miene herbeieilte, und lenkte, nachdem er zugesagt hatte, am Abend vor der Heimfahrt noch ein Stündchen vorzusprechen, seinen Schimmel weiter, um ihn Wasner zu übergeben.

* * *

Einige Stunden später waren Frau Elisabeth und Lanz im Eßzimmerchen des Erdgeschosses in eine eifrige geschäftliche Auseinandersetzung verwickelt. Es handelte sich um Unterbringung einer Hypothek, die den Hauptbestandteil von Mariannens kleinem Erbteil bildete, und Lanz wusch Elisabeth gehörig den Kopf, weil sie im Begriff gewesen sei, ›in leichtfertigem Vertrauensdusel‹ zu handeln.

Sie sah nur auf die Gesinnung und nicht auf die Form und war ihm herzlich dankbar für Warnung und guten Rat.

Inzwischen vollzog sich droben im Giebelstübchen ein erquickliches Anfreunden, das eigentlich mehr ein Wiederfinden war.

Marianne und diese Tante mit dem wunderlichen Namen sahen sich heute erst zum zweiten Male. Aber das erschien beiden höchst unwahrscheinlich. Waren sie nicht doch schon vor langer, langer Zeit einmal aufs innigste miteinander vereint gewesen?

Sie plauderten leise-beschaulich so im Halbdunkel miteinander. Und in dem Maße, wie draußen der harte Glanz des Wintertages erblaßte, wanderten die Gedanken der Direktorin von den verschneiten Halden des Alters hinunter zu den sprossenden Frühlingsauen der Jugend.

»Ich wundere mich nicht, mein Kind,« sagte sie, das bleiche Gesicht auf den Kissen mit seinem braunen Umkräusel von zuchtlosen Stirnhärchen zärtlich betrachtend, »daß Du an Wald und Wiese so sehr hängst, und daß Dich der Stadtlärm erschreckt. Das ist das Hohberg-Blut! Wir Hohbergs waren immer Natur-Fanatiker und stadtfremde Gesellen. In Pastoren- und Amtmannshäusern haben so ziemlich alle Hohberg-Wiegen gestanden, so weit ich von ihnen weiß. Und wenn's einen von ihnen in die Stadt verschlug, der tat dort so wenig gut, daß ihn die Stadt wieder verächtlich auswarf. Ich bin überzeugt, dann hat er auch sich selbst und seinen Hohberg-Wert wiedergefunden!«

»Nicht wahr, Tantchen, Du und Vater, Ihr gehörtet auch zur Amtmannssorte der Hohberg?« scherzte Marianne.

»Ja, zur Amtmannssorte, mein Kind! Und wie's oft so ist: ich, das Mädchen, war stammechter als Dein Vater. Ihm fehlte das Kommandiersche, das zur Amtmannssorte gehört. Es war auch zu früh das in ihm, was man jetzt ›soziales Empfinden‹ nennt. Schon als Junge paktierte er mit den Hofeknechten und Dienstboten. Zum großen Ärger unsers Vaters. Der war zwar kein Leuteschinder, aber sein zweites Wort war: ›Habt Achtung vor dem Historischen!‹ Was er so ›Historisch‹ nannte! Das waren wohl im großen und ganzen die Bequemlichkeiten der ›guten alten Zeit‹, so weit sie für den Gebietenden bequem sind. Sehr ungnädig war er, wenn einer kam und wollte etwa die arbeitenden Klassen klug machen, besonders die Landarbeiter. Um dieser Dinge willen sah ich ihn ja auch später in so argen Zwiespalt kommen mit dem Bruder und mit Franz, meinem jetzigen Manne.«

»Wie denn, Tantchen?« forschte aufs höchste gefesselt Marianne. »O bitte, erzähl' doch!«

»Die Geschichte mit deinem Vater ist mir heute zu düster, liebes Kind! Vielleicht ein ander Mal!«

»Nun, und die mit deinem Manne? Willst du nicht wenigstens die?«

Die Direktorin sah ihre Nichte ein Weilchen stumm an. Ihr altes Herz wärmte sich an dem jungen, reinen Lebensfeuer der erst Erblühenden.

»Die Geschichte mit meinem Manne?« fragte sie, sich aus der Betrachtung reißend. »Na, sei's denn! Du mußt doch wenigstens Einiges von deinen nächsten Verwandten wissen, Du kassubischer Fremdling! Also höre!«

»Dein Großvater war, was Du vielleicht auch noch nicht weißt, Amtmann auf der großen fürstlichen Domäne in Ober-Gersdorf. Seine Kinder, Dein Vater und ich, sollten von Grund aus eine gute Schulbildung erhalten. So bekamen wir schon früh Hauslehrer. Sie hielten aber nicht lange aus. Es war ihnen wohl zu einsam bei uns droben in dem entlegenen Gehöft. Der dritte in der Reihe war eben mein borstiger Mann.«

»War er damals schon so borstig, Tantchen?« lachte Marianne dazwischen.

»O ja, wenn auch nicht ganz so wie jetzt! Er war noch ›hundejung‹ – so sagte der Vater – als er zu uns kam. Aber Respekt wußte er sich zu verschaffen. Bei Eberhard hielt das nicht schwer. Seine einzige Waffe war von Kind auf die Güte.«

»Und mit ihr hat er viele entwaffnet, Tante!« fügte Marianne ernst hinzu.

»Ich glaub's, mein Kind. Und wo Güte nicht half, ging er still aus dem Wege, wie nachher auch dein Vater. – Bei mir hatte es der junge Dachs von Lehrer schwerer. Ich war schon ein recht großes Mädchen, vierzehn Jahre alt, kaum zehn Jahre jünger als er, und für mein Alter sehr selbständig. Viel Gewinnendes hatte er äußerlich ja nicht, und kurzsichtig war er auch schon zum Erschrecken. Ich bezweifle, daß er vor dem ersten Kusse, den er mir natürlich viel, viel später erst gegeben hat, die richtige Vorstellung hatte, wie ich eigentlich aussah!«

»Aber Tante!« lachte Marianne silbern. »Er hat Dich doch geliebt.«

»Nun ja, so sagte er und glaubte es ja wohl auch, und ich habe es ja auch geglaubt – ganz gern übrigens! – aber ob nicht auch ein gut Teil Opposition dabei war, wer kann's wissen?

Aber ich will's kurz machen!

Es war noch in den fünfziger Jahren. Damals wurden in Gersdorf mehrere neue Spinnereien und Webereien errichtet. So strömte von allen Seiten viel Volk herzu. Selbst aus Böhmen.

Mein Franz, der damals noch mein respektabler Lehrer war, studierte sich den Kopf in allerhand dicken nationalökonomischen Schmökern rot. Denn er hatte mit einem Male die Volksbeglücker-Ader in sich entdeckt. Welchem aufgeweckten und temperamentvollen jungen Manne wär's in den letzten fünfzig Jahren nicht so gegangen? Bei den meisten bleibt's eine Kleinkinderkrankheit, die bald wieder abheilt, wenn man ihr nur Ruhe läßt.«

»Wie schade!« warf Marianne aufrichtig betrübt ein.

»Bei Franz aber kam's, weil der Vater mit seinen Sticheleien immerwährend in den Pustelchen herumstocherte, zu einer hochgradigen sozialen Entzündung, und so ging er hin und gründete mit der Hälfte seines schmalen Einkommens eine Sonntagsschule für Fabrikjungen und -gesellen!«

»Wie brav, Tante, wie brav!«

»So sagst Du, liebes Kind. Und ich sagte es auch damals, oder dachte es vielmehr bloß, denn zum Aussprechen hatte ich junges Ding niemanden auf unserm einsamen Hofe. Mein Vater aber war wütend. Denn seit er 1848 gezwungen worden war, auch einen der kurzen, hölzernen, schwarz angestrichenen Spieße zu schultern und als ›Stängla-Moan‹ jede zweite Nacht auf Bürgerwehr-Wache zu ziehen, betrachtete er die ganze ›Masse‹ als seine geschworenen Feinde und hielt jeden Versuch, sie geistig zu heben, für ›eine Erzdummheit‹ und ›staatsgefährlich‹.

Eines Sonnabends Nachmittags vor der Lohnzahlung an die Tagelöhner – das war ohnehin Vaters kritische Stunde! – kam's zu einer Auseinandersetzung zwischen dem alten ›Reaktionär‹ und dem jungen ›Anarchisten‹ – so bedienten sie sich nämlich gegenseitig! – bei der es stubenhoch zuging.

Ich habe nie das Lauschen und Horchen geliebt, aber diesmal konnte ich mich doch nicht bezähmen. Ich schlich mich unter das hochgelegene Fenster der ›Kanzlei‹ und hörte, ins Weinspalier geduckt, mit pochendem Herzen über mir das ganze Donnerwetter sich entladen. Es war kein Spaß, liebes Kind! Mein Vater hatte nicht umsonst vierzig Jahre hinter Ochsen und Ochsenknechten hergebrüllt, das gibt Stimmmittel und einen ansehnlichen Fonds von Ehrentiteln! An jenem Nachmittage wurden beide so ziemlich erschöpft. Aber Franz wußte dem allen stand zu halten, wenn er auch nicht ganz so laut schreien und nicht mit ganz so plastischen Redensarten wieder dienen konnte.

Und das umgab ihn bei mir gottlosem Kinde mit einer wahren Heldenglorie. Na, und das genügt ja!

Was half's, daß ihn mein Vater Knall und Fall entließ? Er nahm meine begeisterte Verehrung mit sich. Und nicht gar weit; denn der junge Fabrikbesitzer Klaar im Niederdorfe nahm ihn als seinen persönlichen Sekretär in Dienst. Ihm hatte Franzens Schulgründung imponiert, weil ihm selber ein Herz fürs arbeitende Volk schlug und – Gott sei Dank! – heute noch schlägt, wenn er auch schon ein alter Mann ist.«

»Wie prächtig sich das alles gefügt hat, Tante!« sagte Marianne mit leuchtenden Augen. »Nun, und wie kamt Ihr schließlich zusammen?«

»Das möchtest Du auch noch wissen, Närrchen?« fragte die Alte still-lächelnd und blickte ein Weilchen sinnend vor sich hin. Es war nun schon so düster im Zimmer, daß sie Mariannens Gesicht nur noch als Ganzes durch das Dunkel schimmern sah. Da fühlte die starkherzige Frau, wie sie in den Bann eines süß-wehmütigen Erinnerns geriet, das gar nicht mehr recht zu ihrer alterskühlen Art paßte und zu ihrem Wirken in einem großen Kreise, wo eine feste Hand ebenso not tat, wie ein vollgerüttelt Maß von Menschenliebe.

Aber warum sollte sie nicht in dieser reinen, stillen Atmosphäre auch wieder einmal den Nachtigallentönen aus einer versunkenen Zeit lauschen? –

»Es ist keine lange Geschichte, liebes Kind,« sagte sie leise, »und auch keine romantische. Mein Franz hat sich zur Romantik immer sehr bockbeinig gestellt. Aber ihren Schmelz hat sie wohl wie jede Liebesgeschichte.

Es war sechs Jahre später. Vater, der plötzlich starb, war schon zwei Jahre tot; Eberhard hatte eben die Universität bezogen, und ich lebte in der Stadt drin mit der Mutter das stille Leben der Verwaisten und Verpflanzten. Allmählich spannen sich ein paar dünne Fäden mit Altersgenossinnen an. Aber ich war zu sehr hohberg'sch: die Stadt bekam mir nicht. Ich litt an Heimweh nach den Webern und Wäldern. So oft es sich tun ließ, wanderte ich hinaus nach Gersdorf, wo's ja noch manchen gab, der mich freundlich und gastfrei aufnahm. Und siehst Du: allmählich steckte ich meine städtischen Freundinnen mit meinen Waldfahrten an.

So flatterten wir denn auch eines Pfingstmontages zu Fünfen wie ein kleiner bunter Taubenschwarm in die Gersdorfer Gegend, diesmal ins Riembachtal, das Du wohl schon dem Namen nach kennst?«

Marianne bejahte, und die Erzählerin fuhr fort:

»Über seiner Mitte erhebt sich mit jähem Anstiege ein waldiger Berg mit einer ganz unter Buchen verborgenen Burgruine. Sie heißt ›das Steinschloß‹. Auf einem ebenen Waldplänchen unmittelbar unterhalb der Ruine waren rohgezimmerte Holzbänke unter breitschattigen Buchen aufgestellt. Dort verzehrten wir lachend und scherzend unsern mitgebrachten Imbiß, und eine von den Mädchen schmollte über die mangelnde Kourtoisie der alten Ritter, daß uns keiner von ihnen in seinem Revier willkommen heiße.

›So könnte wenigstens jemand aus der lebenden jeunesse dorée beweisen, daß er Sinn für was Hübsches besitzt,‹ setzte eine andre hinzu, die ihre höhere Töchterschulbildung nicht gern brach liegen ließ, ›und uns hier eine Aufwartung machen!‹

Sie hatte noch kaum ausgesprochen, so kamen Stimmen von der Gersdorfer Seite her, und mit einer quickrig-heiteren Erwartung lugten wir, wer sich da zu uns finden würde.

Die vier Herren in reiferen Junggesellen-Jahren, die da mit Franz zusammen unter den Bäumen hervortraten, waren nun freilich nicht ganz das Gewünschte; aber meine Freundinnen nahmen sie ganz gern als Abfindung hin. Und auch die Herren – Direktoren und Inspektoren der Gersdorfer Fabriken – waren nicht unangenehm überrascht, hier auf so lustige Pfingstvögel zu stoßen.

Franz und ich waren zunächst bei dieser Begegnung ein wenig befangen. Allmählich legte sich's aber, und er erzählte mir, während sich die andern Paare anvetterten, was ich schon längst wußte, nämlich, daß ihn Herr Klaar zur Seele aller seiner sozialen Bestrebungen und Einrichtungen und eben jetzt zum Direktor eines Waisenhauses gemacht habe, das von ihm auf Franzens Rat gegründet worden sei.

Einer der Herren hatte wohl mit halbem Ohre zugehört und warf nun spöttisch dazwischen: ›Nun ja, mein gnädiges Fräulein, so ist's! Und nun ist der Waisenvater Franz auf der Suche nach einer geeigneten Waisenmutter!‹

Da kam ich dummes Schäfchen in arge Verlegenheit, die nicht besser wurde, als ein anderer lachend hinzusetzte: ›Keine leichte Schose das, bei solcher Kurzsichtigkeit!‹

Denn eine meiner sogenannten ›Freundinnen‹, die eine gottlos spitze Zunge hatte – mein Gott, das Leben hat sie später recht kleinlaut gemacht! – rief in das allgemeine Gelächter hinein: ›Vielleicht hilft Ihnen die Malwine suchen, Herr Direktor! Die hat spitze Augen!‹

Ich war empört, wie Du Dir denken kannst. Franz aber sah durch seine scharfe Brille zu ihr hinüber mit dem ironischen Blicke, den seitdem schon mancher an ihm fürchten gelernt hat.

›So?‹ schmunzelte er in greulicher Verstellung. ›Hat sie die? Dann ginge es ja an, daß sie mir suchen hülfe. Wenn ich nur Eins hoffen dürfte.‹

›Was denn, Herr Direktor?‹ stieß die Gefoppte ahnungslos und eifrig hervor.

›Nun, daß Fräulein Malwinens Augen nicht etwa minder spitz wären, als Ihre Zunge ist, mein Fräulein.‹

Wir sahen uns alle einen Augenblick stumm an. In diesem Augenblicke pries ich Franzens Kurzsichtigkeit in meinem Herzen. Denn hätte er die entrüsteten Mienen der Mädchen und auch die Verdrießlichkeit seiner Freunde genau gesehen, das wäre doch auch durch sein dickes Fell gegangen.

Wohl mußte er an dem eisigen Schweigen, in das der ganze Kreis seine Klobigkeit hüllte, merken, wie's stand. Er aber saß stillvergnügt lächelnd mit untergeschlagenen Armen da, als habe er uns allen eitel Blumen gestreut. Offenbar gruselte ihm nicht den tausendsten Teil so wie mir bei diesem Kaltgestelltsein. Schließlich aber freute ich mich in meine Hohberg-Seele hinein solcher Unverfrorenheit; denn ich sah in ihr das Kennzeichen eines Mannes, der sich durchzusetzen weiß. Und als müßte ich ihn mit meinem Leibe decken, stürzte ich mich überhastet in ein Gespräch mit ihm über die mannigfachen Aufgaben, die ihm aus Klaars Wohlfahrtsbestrebungen erwuchsen. Erzwungen nur nahmen die anderen daran teil, und ich fühlte wohl die spöttischen Blicke, die die Mädchen nach mir schossen. Aber ich hielt tapfer stand. Es kam der Trotz über mich, nun gerade zu zeigen, wie hoch mir der Mann stehe.«

»Wie prachtvoll von Dir, Tante!« warf hier Marianne mit einem Vibrieren in der Stimme dazwischen, aus dem die Alte zu ihrer Freude viel ›Hohbergsches‹ heraushörte.

»Ach Gott, liebes Herzchen,« spöttelte sie, »prachtvoll war mir gar nicht zu Mute dabei! Am liebsten sah ich noch, daß sich die andern so sachte nach und nach verkrümelten – angeblich zum Blumensuchen. Als ich aber plötzlich merkte, daß wir nur noch allein auf den Bänken saßen, sprang ich in arger Verlegenheit empor, um ihnen nachzugehen.

›Wollen wir nicht mal zur Ruine hinauf steigen?‹ hörte ich da Franz fragen, und den Klang, den seine Stimme dabei hatte, verliere ich, will's Gott, erst auf dem Sterbebette aus den Ohren. Denn siehst Du, Kind, da war's das erste Mal, daß der rauhe Mann so zu mir sprach, wie ich's nun durch nahezu vierzig Jahre an ihm gewöhnt bin. Und nun könnte mich nur Eins wieder so sehr in Erstaunen setzen wie der Stimmwandel damals: wenn er jetzt plötzlich wieder einmal rauh mit mir wäre.«

Marianne suchte in der Dunkelheit nach der Hand der Alten und hielt sie mit warmem Drucke fest. Die Direktorin aber fuhr fort.

»So standen wir nun allein neben einander droben auf der verfallenen Burgmauer in der lichten, warmen Pfingstsonne und wußten nicht recht, was wir miteinander anfangen sollten. Birken in bräutlichem Grün wiegten leise um uns her ihre hauchfeinen Kronen gegeneinander, wie wenn hellhaarige Mädchen sich leise die seidigen Wangen streicheln, und dunkle Tannen in grauen Bartflechten standen dabei und sahen dem neckischen Spiele zu mit dem schmerzlichen Lächeln des alternden Verzichtens. Im Moose und im Rasenpolster der Halde aber, die die Mauer mit ihrem abbröckelnden Schutt zu unsern Füßen aufgeschüttet hatte, summte und brummte das neuerwachte Völklein der Käfer im Rausche flüchtiger Flitterstunden.

Als müßten wir doch irgend etwas beginnen, setzten wir uns ins Moos der Halde, wo zwischen den Bäumen ein Ausblick in das enge, grüne Waldtal drunten freiblieb. Töricht-ungestüm schlug dabei mein junges Herz, das etwas Großes ahnte und doch nicht wußte, was? Und erst nach einigen Minuten konnte ich das Murmeln des Riembaches aus der Tiefe drunten vernehmen.

›Hören Sie den Bach, Malwine?‹ fragte Franz, und er fragte es wieder mit der Stimme, die mir wie ein zweites Gesicht an ihm erschien. ›Welche Rastlosigkeit liegt in solchem Berggewässer! Und welche Kraft! Man glaubt's kaum, daß das auch einmal faul und bequem wird, wenn's erst weit genug draußen ist, wo alles ins Breite läuft. Ja, es ist ein Segen um die Berge und um die Engen: sie halten uns rührig und halten zusammen an Leib und Seele. Und sie müßten uns noch ganz anders zusammendrängen, die Berge, alle, die zu einander gehören, heißt das! Es gibt ja so viel Blöcke zu wälzen in diesen Schluchten und Engen!‹

Mir wurde schwül zumut. Worauf sollte das hinaus? In meiner Verlegenheit sagte ich: ›Wie nett sich da unten am Riembach die Hütten aneinanderreihen, wie Kinder im Ringelreigen, blau das Schürzchen, lachend die blanken Augen und mollig die grüne Mooskappe!‹

Da kam ich aber übel an. Nicht rauh, aber tief erregt fuhr er heraus: ›Prosit Mahlzeit! Kinderreigenglieder sollen das sein? Kettenglieder sind's; eins wie das andre! Und die Kette reißt nicht ab, wo's Riembachtal zuende ist. Sie rasselt den Hörenden im Ohr durch das ganze meilenlange Gersdorf hindurch bis in die obersten Hütten am Passe, und wer Augen hat, sieht, wie sie sich ins Laubnitztal hineinschlingt, um jedes Haus ein Glied, und in alle Täler und Tälchen rings umher, wo dieses Kummervölklein seine Nester angeklebt hat, bis zu den unwirtlichen Weg-Sätteln an der »Hohen Glucke« droben. Und an tausend Armen reißt die Kette jahraus, jahrein, vom Sonnenaufgang bis -untergang rastlos, taktmäßig, den Menschen zur blöden Maschine entgeisternd, daß er nichts sehen darf von all der Pracht, die der Herrgott da um seine elende Kaluppe aufgebaut hat, und daß er taub wird für jeden andern Klang als für den, der ihm wie ein ewiger Fluch und in wahnsinniger Monotonie im Ohre klingt: »Weben müßt Ihr, weben«!‹«

»Mein Gott, Tante, wie schrecklich!« seufzte Marianne gequält auf.

»Nicht wahr,« sagte mit wehem Lächeln die andere. »Das ist Dir eine absonderliche Liebesgeschichte? Mir war sie damals auch absonderlich. Später sah ich ein, daß Franz Lanz nicht gut eine andere erleben konnte. – So genau ich noch alles weiß, was er damals sagte, so wenig bin ich mir klar, was ich dazu gestammelt habe. Er aber fuhr fort, von der Verpflichtung derer zu reden, die Augen hätten, das immer mehr sich türmende Elend zu sehen, und Ohren, all den Jammer, den lauten und den erstickten, zu hören, und Hände, die mit in die Speichen greifen wollten. Und ich weiß auch nicht mehr, wie's gekommen ist, daß er dabei meine Hände faßte, und woher er so schnell die Überzeugung hatte, ich sei so eine mit solchen Augen und Ohren und gehöre darum zu ihm, der sich vorgenommen habe, soviel Glieder als möglich von jener Marterkette loszureißen, und die andern mit dem weichen Baste brüderlichen Beistandes zu umwinden, damit sie die Arme weniger blutig rieben, um die sie sich schlängen. Kurz: aus sonnenklaren sozialen Gründen müsse ich sein Weib werden. –

Ich weiß nur, daß uns die andern bei den ersten herzlich ungelenken Küssen überraschten und uns anstierten, wie die Geister des ›Steinschlosses‹, als Franz mich ihnen als seine Braut vorstellte.

Später ist mir zu Ohren gekommen, die Lästergesellschaft habe in der Stadt ausgesprengt, sie hätten den bockbeinigen Direktor zu der Verlobung gedrängt. Er habe das nur aus Opposition getan. Nun, vielleicht ist ein Körnchen Wahrheit auch in diesem bissigen Salze gewesen, wenn's auch wohl mehr eine Opposition gegen einen andern gewesen sein mag.«

»Nicht doch, Tante! Wie kannst Du nur –« wehrte Marianne ehrlich aufgebracht.

»Laß gut sein!« beruhigte die andere. »Was schadet's mir, da's so ausgefallen ist? Ich hätte ihn so schnell ja auch noch nicht genommen, wenn er mich nicht schon Jahre vorher gerade durch seinen Oppositionsgeist gewonnen hätte, als ich unter dem Kanzleifenster lauschte.«

»Aber nun ist's genug mit dem Geplausche!« sagte sie aufstehend. »Du bekommst am Ende einen heißen Kopf! Ich muß auch mal sehen, daß er sich nicht etwa mit Elisabeth zankt; es wurde mir schon vorhin verdächtig laut drunten.«

Da fühlte sie einen Augenblick Mariannens blutwarme Lippen auf ihrer Hand ruhen, die die noch immer festgehalten hatte.

»Vielen Dank, Tantchen!« sagte das Mädchen leise. »Du hast mich heut reich beschenkt!«

»Nun, nun,« lächelte die Alte, »das geht wohl an! Und außerdem: wir sind ja noch immer ein wenig in der Weihnachtszeit!«

Sie ging; aber um das Mädchen, das im Dunkeln zurückblieb, wogten weiter die Bilder eines längst verschollenen Pfingstglückes in rosenfarbenem Schleiertanze, und in den luftigen Reigen schlichen sich mit leisen Füßen die wunschgebornen Nebelgestalten eines erwachenden Weiberherzens hinein. Noch trug an ihnen nichts festumrissene Formen als die dunkle Glut verheißungsheißer Augen.

* * *

Sanitätsrat Lohmann kam an diesem Abende nicht mehr zu dem verabredeten Plauderstündchen, sondern schickte eine briefliche Entschuldigung – »verstimmende Nachrichten!« – und später den Weber Wasner mit dem Schimmelschlitten, um die Gersdorfer Gäste wieder heimzubringen.

Marianne erging sich, als ihr das nach der Heimfahrt der Verwandten die Mutter erzählte, in bedauernden Vermutungen.

»Wie traurig, daß ihn immer wieder Verstimmendes erreicht, auch hier draußen noch!« sagte sie sinnend. »Er ist ohnehin noch so weidwund im Herzen, wenn er's auch zu verbergen weiß. Er geht wohl nun auch schon seltener zum Grabe hinaus! Ich habe immer das Gefühl, seine wahre Natur müsse ganz anders sein, als er sich jetzt so zeigt!«

»Wohl möglich!« suchte Elisabeth leicht hinzuwerfen. Sie war dem trüben Schein der Lampe dankbar, daß er ihr Mienenspiel verbarg.

»Ich habe das Gefühl,« fuhr Marianne fort, ohne sonderlich auf die Mutter zu achten, »der Sanitätsrat möchte so gern noch lebensfroh sein. Er hat doch offenbar auch die Menschen recht lieb, genau wie wir beide auch. Und man muß sie ja auch lieb haben, wenn solche Prachtexemplare drunter sind, wie Onkel und Tante!«

»Gewiß, Marianne!« bestätigte die Mutter aufatmend. »Die beiden machen manchen Mißlungenen wett.«

»Ach, Muttchen,« sagte Marianne und legte dabei ihre schönen, vollen Arme unter das schwellende Polster der dichten, braunen Haare, indem sie sich wohlig im Bett dehnte, soweit das der Verband zuließ, »so recht kennst Du sie gar nicht, bis ich Dir die köstlich-hausbackene und doch reizvolle Geschichte erzählt habe, wie die beiden auf dem ›Steinschlosse‹ zusammengekommen sind.«

Und sie tat's, die Augen zur Decke gerichtet. Aber es kamen neue Lichter in das schlichte Bild, das Frau Malwinens Erinnerung gemalt hatte. Elisabeth sah wohl, daß da Farben aufgetragen wurden, so rein und frei von jeder erdigen Beimengung, wie sie nur auf der Palette eines Frauenherzens glühen, ›das noch nichts vom Manne weiß‹.

Wer aber mit solcher Hingabe solche Bilder entwirft, in dessen Seele beginnt zu keimen, was zum Lebens- oder zum Giftbaum erwächst, je nachdem.

Auch das wußte Elisabeth, und so tauchte heut zum ersten Mal die bange Frage in ihr auf, in welcher Gestalt wohl das Frauenschicksal an ihr reines Kind herantreten werde. – – –


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