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Elftes Kapitel.

Lohmann aber ging in derselben Stunde rastlos in seinem Zimmer auf und ab, in stummem Schmerze die Zähne tief in die Unterlippe grabend.

Während er die Lanzes aus Gersdorf holte, waren die Postsachen eingegangen, und unter ihnen ein Brief, dessen ausländische Marken Lohmann sogleich befremdeten. Die patzigen Schriftzüge der Adresse drohten ihm wie ein bekanntes Gesicht entgegen, und noch ehe er den Umschlag geöffnet hatte, wußte er, daß der Brief von dem »Afrikaner« kam.

»Regina tot!«

Das war der erste Gedanke Lohmanns, und ob ihm gleich dabei die Knie wankten, lockerte sich's doch wie eine Erlösung auf seiner Brust.

Eine Weile mußte er die Hände beschattend über die Augen halten, ehe er lesen konnte. Als aber der erste Schauder überwunden war, flogen die Blicke schneller und schneller über die trotzigen Schriftzeichen des nur wenige Sätze umfassenden Schreibens. Dann warf er es aufspringend mit einem wuterstickten Zischen auf die Platte des Diplomatentisches.

Erst nach langem, hastigem Umherstürmen fand er Fassung genug, die Zeilen noch einmal und in größerer Muße zu überlesen.

Da stand:

 

Port Banana, Kongostaat, den …

Verehrter Herr Oheim!

Soeben habe ich Regina auf einen Dampfer der Hamburg-Amerika-Linie gebracht. In zwanzig Tagen kann sie, wenn's gut geht, in Amsterdam sein. Es hat sich gezeigt, daß ihre Natur selbst für die Tropen zu ungestüm ist, und da ich sie nicht dem Fieber opfern möchte, sind wir übereingekommen, daß sie wieder nach Europa zurückkehrt.

Mein Rechtsbeistand (hier folgt der Name eines Berliner Justizrates) wird sogleich mit Ihnen in Verbindung treten wegen Auszahlung des mütterlichen Erbteils an Regina. Ihm können Sie ja auch mitteilen, wie Sie sich sonst Ihrer Frau Tochter gegenüber zu stellen belieben.

Wir ersparen uns wohl gegenseitig Ausdrücke des Bedauerns über diese Angelegenheit, deren angenehmer und nützlicherer Ausgang lediglich an Reginens körperlicher Indisposition gescheitert ist.

Heinz Rist.

 

»Der Bube!« keuchte Lohmann wieder und immer wieder. »›An ihrer körperlichen Indisposition!‹ Natürlich! Was ist sie ihm ohne den blühenden Körper?!«

Wie mag ihr nun zumute sein?!

Krank und gedemütigt, entwurzelt und verächtlich beiseite geworfen!

Und das alles um eines kurzen, rasenden Rausches willen!

Die Mutter tot!

Der Vater lebendig begraben!

Und alles um ein Nichts! – – –

Und nun begann der Tratsch und Klatsch von neuem, kaum daß eine schleierdünne Narbe über all den Spektakel gewachsen war!

Ein rasender Unmut faßte ihn beim Gedanken an das neu anhebende Geschwätz unter denen da draußen in der Welt.

O, sie hatte es wohl verdient, was nun ihr stolzes Selbstgefühl martern mochte!

Tausendfach verdient!

Und vor ihn – vor ihn sollte sie nicht wieder hintreten dürfen, niemals wieder!

Sie hatte ihm doch zu weh getan, ihn zu grausam getäuscht, zu hinterlistig aus der Bahn geschleudert!

»Wenn sie nur einen Hauch von Mariannens Herzensreinheit besessen hätte,« stieß er im Selbstgespräch hervor, »es wäre das alles undenkbar geblieben!«

Und gerade beim Vergleich der »Gefallenen« mit Mariannen verhärtete sich sein Gemüt immer mehr und mehr in den einsamen Stunden dieses unheilvollen Abends.

Der Wirbelsturm, der da von draußen her in seine stille Waldeinsamkeit einbrach, schien auch alles wegzufegen, was ihm das neue Leben in der Enge an neuen Reizen dargeboten hatte. Im hellen Zorne über den Verführer und die Verführte schienen alle Schätze einer friedlichen Selbstbesinnung brennend zu verlodern, die er, ohne es selbst zu merken, mit stillem Sammlerfleiße in diesen letzten Wochen zusammengetragen hatte.

Die Schreckenspost von draußen riß ihm gewaltsam den Kopf herum, daß er wieder nur zurückschaute auf das, was er verloren hatte, und so fehlten ihm Augen und Ohren für die Verheißungen, die ihm hier im weltfernen Tale mitten in Eis und Schnee erblühten – – – – – – – – –

Aufs neue verfiel er in die ihm so wesensfremde Menschenscheu.

Einmal noch kam er in die »Villa«, als es nötig wurde, Mariannen den Gipsverband abzunehmen. Dabei fiel beiden Frauen sein düsteres, krampfhaft-trauriges Wesen auf. Ihre Deutungen aber wichen sehr von einander ab.

Elisabeth erblickte in diesem Wesen nur die Ratlosigkeit, mit der der Wandrer sich und seine Weggenossen quält, ehe er sich entschließt, vom gemeinsamen Pfade ins weglose Dickicht abzubrechen.

Marianne aber war ganz Wehmut darüber, daß er wieder in den Trübsinn zurückverfalle, den sie gefühlsmäßig als so unnatürlich an ihm empfand.

Nach diesem Besuche ließ sich Lohmann weder in der Villa noch bei Lanz sehen; auch die Fahrten mit dem Schimmel stellte er ein. Wasner mußte manchmal durch eine Besorgungsfahrt in die Stadt oder nach Gersdorf das Tier in der notwendigen Bewegung erhalten.

Einsame Spaziergänge – häufig nun auch wieder zum Grabe hinaus – und einsame Lektüre füllten die vergrübelten Tage nur zum geringen Teile aus, und eine grollende Verbissenheit gegen Kunst, Natur und Menschen, die er immer aufs neue in sich aufstachelte, schienen Lohmann wieder einmal die richtigste Rache »an dem elenden Bißchen Leben« zu sein. – – – – – – – – – – – – – – –

Von seinem eigenen Rechtsbeistande, durch den der Verkehr mit dem Berliner Vertreter Reginens ging, erfuhr er, daß sie sehr elend zurückgekehrt sei, sich in eine Berliner Privatklinik in Pflege gegeben habe und nun den langwierigen Heilungsprozeß der Malaria-Kranken durchmache.

Lebensgefahr sei nicht vorhanden.

» Zwei verpfuschte Leben!«

Das war der Strich, den er durch die Erinnerung an sie zu machen – suchte.

Suchte!

Zum Können brachte er's nicht.

»Dazu gehören andre Kraftnaturen,« schalt er sich selbst, »als ich sie bin! So einer wie ich kann sich nur möglichst tief in seinen Gram verscharren!«

* * *

Januar und Februar gingen über diesen Selbstquälereien ins Land. Lohmann sah und sprach fast niemanden außer seiner Frau Wachler, [dem] Hausmädchen und [den] Wasners, die ihm manchmal in ihrer immer gleichen, erdenfernen Art förmlich auf die Nerven fielen. Wären sie nicht auch ebenso gleichförmig arbeitsam gewesen, er hätte sie wohl doch noch für Komödianten angesehen.

Manchmal kam ihm der Gedanke, es sei doch schnöde undankbar, daß sich Elisabeth und Marianne gar nicht um ihn kümmerten. Dann überlegte er aber auch wieder, daß sie ihn nicht gut auffordern konnten, zu ihnen zu kommen, wenn er's nicht freiwillig tat. Gelegentliches Begegnen draußen war ausgeschlossen, weil Marianne immer noch ihr Bein zu schonen hatte. Außerdem wählte er die entlegensten Wege für seine Spaziergänge.

Schließlich erfuhr er, sie seien verreist.

»Aha!« dachte er, »die Laubnitzer Einsamkeit wird ihnen auch zu lastend. O ja, es gehört Übung dazu, ehe man sie erträgt. Selbst zu Zweien! Übung – – – oder ganz zerschmettertes Flugzeug!«

Von Lanz und Frau hörte und sah er nichts. –

Da, gegen Ende Februar – es war eben noch einmal tagelang Schnee gefallen und vortreffliche Schlittenbahn – trat eines Nachmittags Lanz plötzlich bei ihm ein.

Er sei in Amtsvorstehergeschäften da draußen und wolle mal sehen, ob der Schimmel schon ganz lahm gefahren sei.

»Sie müssen doch wohl nun immer auf der böhm'schen Seite rumkutschen, Herr Sanitätsrat, wie die andern Witwer und Lebemänner,« sagte er spöttisch mit einer Anspielung auf den nicht ganz guten sittlichen Ruf mancher kleineren Grenzstädte, »da Sie sich in Gersdorf gar nicht mehr blicken lassen. Aber meine Frau beklagt sich schon sehr über Fahnenflucht. Fragen soll ich, ob Sie ganz vergessen haben, was wir geplant hatten: die gemeinsamen Feldzüge gegen Unverstand und Unglück!«

Lohmann lächelte bitter, als er erwiderte: »Feldzug! Ach, lieber Herr Direktor, Invaliden schickt man nicht ins Feld!«

»Und so einer wären Sie?« schnaubte Lanz gegen ihn, die Wanderung an den Wänden entlang unterbrechend, wo er die Bilder betrachtete und dabei förmlich mit der Nase die Verglasungen einstieß. »Invalide? Sie? Und das sagt ein Mediziner?«

Lohmann mußte wieder lächeln. Er durchschaute die ganze Komödie. Franz Lanz spielte sie ja auch herzlich schlecht. Die guten Menschen wollten ihn aus seinem Brüten herausreißen, über das sie längst unterrichtet waren!

In Lohmann quoll, während er das durchdachte, eine lösende Wärme empor.

»Das liegt nicht auf medizinischem Gebiet, mein guter Herr Direktor,« sagte er, »das ist –«

»Die Laubnitz-Krankheit! Weiß schon!« stieß Lanz hervor. »Bekäme sie auch. Ohne Beschäftigung befällt die hier jeden, der nicht schon Mumie ist. Wissen Sie was? Lassen Sie den Schimmel einspannen und fahren Sie mich nach Hause. Ich bin müde. Und wir kommen dann gerade so schön zur Vesperstunde zurecht. Ich bekomm' dann mal wieder 'nen dankbaren Blick von meiner Alten, und – von der Jungen erst recht!«

Lohmann sah ihn verständnislos an.

»Nu ja!« nickte Lanz amüsiert. »Wir haben uns verändert. 's ging ja bei Abraham, warum sollt's bei uns nicht gehn?«

Und er lachte sein kicherndes Lachen.

»Wir haben nun auch 'ne Tochter!« setzte er mit gut gespieltem Ernste hinzu; aber mehr bekam Lohmann nicht aus ihm heraus.

Dem nochmaligen Wunsche des Direktors gab Lohmann nach kurzem Besinnen nach, nicht ohne innere Freude, trotzdem er sie vor sich selber leugnete.

Als sie an der »Villa« vorüberfuhren, fragte Lohmann nach den Damen.

»Sind verreist!« suchte Lanz jede weitere Frage abzuschneiden. Da wußte Lohmann mit einem Male, wer diese frisch hereingeschneite »Tochter« der Alten sei.

Und es war ihm ein wohltuender Gedanke, Marianne ohne ihre Mutter im Waisenhause treffen zu sollen. –

Es kam auch alles so, wie er sich's gedacht hatte, und als sie dann zu Vieren um den Kaffeetisch saßen (Elisabeth war allein auf einige Zeit verreist), konnte er seine Blicke nur schwer von Marianne trennen.

Sie schien ihm verändert; er trug ein andres Bild von ihr im Sinne. Freilich, er hatte sie nur zweimal vorher außer Bett gesehen: bei der ersten flüchtigen Begegnung und am Tage des Unfalles; dann nur noch als Kranke und Genesende.

Jetzt war er erstaunt über den Strom warmen Lebens, der sichtlich durch ihre ganze prachtvolle Gestalt flutete und sich aus den dunklen Augen unter dem losen Stirngekräusel hervor über das volle Gesichtsoval ergoß, wenn sie in schönen Eifer geriet, die kleine Tischrunde zu erheitern. Und wenn sie wieder ruhiger ward, flutete die Welle langsamer zurück, bis sie auf der lichten Stirn sich wieder unter dem Stirngekräusel verlor, wie der Purpurglanz des Abendrotes in der Meereswelle, die im Dünensande versiegt.

Vor diesem Bilde eines neu die Schwingen regenden Lebens mußte er an das gebrochene, mit dem Fieber ringende, einst so stolze Weib denken, das seine Tochter war. Und er hatte Mühe, seinen gewollten Zorn gegen Mitleid und Rührung zu verteidigen. – – –

Die Tafelrunde verengte sich plötzlich noch mehr, weil der Kommerzienrat Klaar den Direktor durch einen Boten ersuchen ließ, auf kurze Zeit zu ihm zu kommen. Lohmann erfuhr von der bekümmert dreinschauenden Direktorin, es werde sich wohl wieder um eine Besprechung wegen des drohenden Streikes handeln.

»Es gärt unter den unglücklichen Webern!« klagte sie.

»Mit Recht?« fragte Lohmann.

»I Gott bewahre!« erwiderte sie eifrig. »Das heißt: so weit die Klaarschen Fabriken in Betracht kommen. Sie wissen ja, wie viele Opfer der Kommerzienrat bringt. Anderwärts mag wohl auch hier im Tale Grund zur Unzufriedenheit sein. Da haben wir nun gleich den Unsegen von dem Herdenwesen: unsere Arbeiter werden mittun müssen, ob sie wollen oder nicht.«

»Müssen, Tante?« mischte sich Marianne ein. »So weit kann doch der Zwang nicht gehen.«

»Leider, Kind, ist zu befürchten, daß er so weit geht. Ich habe in diesen Tagen dort auf meinem Ausguck am Fenster schon viel finster-entschlossene und viel fatalistisch-schmerzliche Gesichter beobachtet, wenn ich den aus der Fabrik heimkehrenden Arbeitern nachsehe.«

»Nun,« warf Lohmann ein, »wer sich verführen läßt, muß dann auch die Folgen tragen.«

»Ja, mein Gott,« klagte die Alte wehmütig, »wenn's ihnen doch jemand recht klar machen könnte, welchem Strudel sie eigentlich entgegentreiben! Wenn doch jemand käme mit soviel Kraft und Erfahrung und Einfluß auf sie, daß sie's ihm glauben müßten! Sie rennen sonst wie blinde Schafe in den brennenden Stall voll Elend!«

Lohmann hörte voll Bewunderung in so tiefen Herzenstönen für die Allgemeinheit trauern und stand dabei vor etwas ihm ganz Fremdem.

»Nun ja,« sagte er in halber Verlegenheit, »wenn sie's nun einmal nicht anders wollen –«

»So sprechen Sie, Herr Sanitätsrat,« richtete sich die Direktorin hastig auf, »und ich kann's verstehen. Sie haben den Massen bis jetzt fern gestanden. Ich sage ausdrücklich: ›bis jetzt!‹ und hoffe, daß es nun anders wird.«

Dabei legte sie ihre schmale, weiße Hand bittend auf seinen Arm und sah ihm so fest in die Augen, daß er bei sich sagte: »I Gott bewahre, die will mir wohl das ›soziale Empfinden‹ mit aller Gewalt suggerieren!« Aber nur ein Wimpernzucken lang glitt die zarte, tapfere Frau bei ihm in so schiefe Beleuchtung. Bald hörte er ihr wieder mit völligster Hochachtung zu, als sie fortfuhr: »Sehen Sie, mein Franz und ich, wir haben bei dem allen das Empfinden, ein ganzes Leben umsonst gearbeitet zu haben.«

»Tantchen,« fuhr da Marianne auf, »wie kannst Du das sagen?«

»Mit vollem Recht!«

Das klang recht müde, und als sie weiter sprach, würgte eine Wehmut an den Worten der Alten, die ihr sonst fremd war. –

»Sehen Sie, Herr Sanitätsrat, wir beide waren ja frei von allem, was sonst Mann und Frau für sich selbst beschäftigt. Und was wir hier so getrieben haben, vierzig Jahre lang, das hat ja an diesen vier Wänden nicht seine Grenzen finden sollen. Wir dachten immer, der Herr habe uns das Opfer unserer eigenen lieben Kinder nicht bloß der Waisenkinder wegen auferlegt. Dazu wäre mir's – offengestanden – auch zu schwer erschienen. Nein, wir meinten, wir sollten die Hände frei bekommen für alle ›die Sklaven des Webstuhls‹, wie wir sie nannten. In einer seligen Stunde hatten wir's uns gelobt, ihnen die Kette abzunehmen oder wenigstens tragen zu helfen, an die sie alle geschmiedet sind.«

Lohmann sah die beiden Frauen einen schnellen Blick des Verstehens wechseln und dabei in Mariannens Gesicht einen Schimmer treten, wie er in lauen Frühlingsnächten auf hohen Cirruswolken der Sonne vorauseilt. Nur schwer fand er sich, in die Betrachtung dieses Schimmers versenkt, in die Wirklichkeit zurück, als die Direktorin fortfuhr:

»Hunderte hat Franz so dem unseligen Hand-Webstuhle abgerungen, in Güte die einen, mit scheinbar rauhem Zwange die andern. In den gesünderen, lichteren Sälen der Fabriken und bei der lohnenderen Arbeit an den mechanischen Stühlen haben sie ein menschenwürdiges Dasein gefunden. Auch ihr Verdienst ist so, daß sie nur noch vom Hören-Sagen ›das graue Weberelend‹ kennen.«

»O Tante,« atmete Marianne schwer auf und trat voll innerer Unrast ans Fenster, »daß Euch das gelungen ist, so was Herrliches, Gutes – für andre – und so zu –«

»›Zweien!‹ mein Schatz, sprich's nur ruhig aus! Und wünsche Dir was Ähnliches! Es ist kein unweiblicher Wunsch.«

Lohmann mußte dem zustimmen; aber das machte ihm keine Freude im Gemüt.

Die Direktorin jedoch fuhr fort, ohne auf Mariannens Erglühen zu achten: »Es ist auch dabei, wie bei aller menschlichen Mühsal, nicht viel Herrliches herausgekommen. Man sieht ja, was nun droht! Noch ehe die erste Generation ins neue Gehäuse hineingewachsen ist, legen Unzufriedenheit und Selbstsucht ihre Sprengminen dran, und – wenn's Gott in seiner Güte nicht verhütet – gibt's bald viel zertrümmertes Glück in Gersdorf und viel erwürgtes Behagen, das mühsam aufgepäppelt wurde. Franz und ich aber werden an verhagelten Feldern stehen, die unsere Mühen gedüngt haben und (setzte sie unhörbar hinzu) unsere Gebete.«

»Nein, Tante, nein!« rief da Marianne fast leidenschaftlich. »Ich glaub's nicht! Das kann – darf nicht sein! Die Wurzeln sogen ja ihre Kräfte aus gutem Boden! Wie könnten da die Früchte verderben? Was für eine Weltordnung wäre das?«

»O, mein Kind,« sagte müde die Alte, und es zuckte krampfhaft um ihre Mundwinkel, »da wollen wir nicht grübeln. Ich sage Dir, so darf man den Baum der Weltordnung nicht ansehen. Um Gottes Willen nicht so! Nur nicht in seinen Zweigen nach Früchten suchen, die nach unserer Meinung gar nicht ausbleiben durften! Wer kann all die Würmer sehen, die da im Verborgenen nagen? Da hilft nur die Gewißheit, daß der Baum auf Gottes heiligem Boden steht, und daß ihn Gottes reiner Odem umweht. Wer anders denkt, den schlagen seine fallenden Äste nieder.«

Bei diesen Worten stand Lohmann mit einem heftigen Rucke von seinem Stuhle auf und trat an das andere Fenster. Eine Weile starrte er nach den Laubnitzer Bergen hinüber, die im Neuschnee schimmerten; dann wandte er sich mit schnellem Entschluß zu den beiden verwunderten Frauen herum.

»Wie sehr Sie recht haben, liebste Frau Direktor!« stieß er hervor, und es klang, als würge ihn etwas an der Kehle. »Man wird von den Ästen zu Boden geschlagen. Und wehe dem, den's einmal traf! Er soll's nicht wagen, in neuer Hoffnung zu den grünenden Wipfeln hinauf zu schauen, wo die goldnen Früchte hängen! Er mag sich vorsehen! Bald saust ein neuer Astschlag nieder. Ich bin auch so einer, den's lange verschont hat und dafür nun trifft, Schlag auf Schlag!«

Und er erzählte, während sich das Zimmer ins frühe Abenddunkel hüllte, die Geschichte seiner Leiden und verschwieg nichts von Reginens Flucht an bis zu dem brutalen Briefe des Afrikaners. – – –

Als er geendet hatte, war's schon völlig dunkel im Zimmer. Er konnte nichts von dem wehen Lächeln sehen, das um der Alten Mund lag – (sie hatte sich gewöhnt, dem Leben in dieser Form ihren Beifall für seinen grimmen Humor zu spenden). Und er sah auch nicht die zwei großen Tränen, die in Mariannens seidigen Wimpern hingen, lange, zitternd, weil sie nicht wagte, sie wegzuwischen.

So weint der Gequälte, der sich nicht auskennt über das, womit er gequält wird.

Diese Regina war ihr ein schreckhaft-süßes Fabelwesen: sie verstand sie in keiner ihrer Regungen, und doch hatte Lohmanns Erzählung in ihr ein brennendes Mitleid für die Ferne, Kranke entzündet, so daß es sie kaum auf ihrem Stuhle litt.

Zu sprechen aber hätte sie nicht vermocht.

Was hätte sie auch sagen sollen? – –

Wenn einem wohlbewachten Kinde ein Zufall das Wunder der Zeugung enthüllt, dann stürzen in seinem Gemüt kristallene Tempel in Scherben. Wenn aber das Grausen des Zusammenbruches überstanden ist, ziehen die nun erkannten und nicht mehr bloß geahnten Bande des Blutes das Kind näher und näher zu seinen Erzeugern hin, die ihm im ersten grellen Lichte der Wahrheit geschändet erschienen gleich einem, den Unholde nackend durch belebte Straßen hetzen.

Ähnlich erging's Marianne vor dem Phantasiebilde dieser Regina.

So also sah das Weib aus, das liebt bis zur Besinnungslosigkeit?!

O, sie hatte sich das Wunder der Wiedergeburt in der Liebe des Mannes anders gedacht!

Wie das wohl möglich war: über der Mutter Grab hinweg in die Arme des Mannes? – – –

Es schauderte ihr vor dieser Regina, und doch schien ihr, sie habe weiblich gehandelt.

Kindlich gewiß nicht! Aber weiblich – ja – weiblich doch wohl! – – –

So barst in dieser Dämmerstunde die reine Geschlossenheit ihres knospenden Seins scheu aufschreckend auseinander, und mit angstvollen Augen sah sie, wie sich in ihr die geheimnisvolle Kluft zu öffnen begann, die in jeder schließlich einmal Weib und Tochter scheiden muß, wenn die Natur zu ihren guten Rechten kommen soll.

Nun, denken lassen sich solche Dinge wohl, wenn erst einmal die Schleier reißen, die die Rätsel des Frauenherzens umhüllen wie die heiligen Leuchter einer geschlossenen Kirche. Aber von ihnen reden, sie vor Männerohren behandeln, das kann man nicht, wenn man Eberhard und Elisabeth Hohbergs Tochter ist und ihr einziger Pflegling dazu, und wenn man neunzehn Jahr alt wird, ehe man den ersten Schritt in eine Großstadt tut.

Und wenn man Sanitätsrat Lohmann ist und dreißig und mehr Jahre ein beliebter Damenarzt in einem Kreise, dessen halbwüchsige Töchter recht gut wissen, wie man am besten zur Lektüre von »Konfisziertem« gelangt, dann kann man sich ein solches Schweigen nur deuten als ein Zeichen stummer Verdammung, zumal, wenn man weder die Tränen funkeln noch die Lippen zucken sehen kann. –

Wenn man aber ein Herz hat wie Malwine Lanz, geborene Hohberg, ein Herz, um das so viele, viele Wasser fremder und eigner Wehmut schon glucksten, dann fühlt man auch das unhörbare bange Wogen eines erschreckten Herzens und sieht's durch jede Dunkelheit hindurch, wenn zage Menschenhände sich emporstrecken hilfesuchend, weil sie sich fürchten, ins Dunkel zu tauchen, wo die Rätsel lauern und raunen. – – –

Und wenn man Franz Lanz ist, der einem ganzen entlegenen Bergtale und seinen Seitenästen zur rechten Zeit als sozialer Helfer geschenkt ward, so ist's ganz selbstredend, daß man auch zur rechten Zeit dazwischen tritt, wenn tiefbewegte Menschen im Dunkeln in einer Gefühlsverstrickung beisammen sitzen so kompliziert und spinngewebfein, daß keines es wagt, die lastenden Fäden mit dem harten Pralle des ersten Lautes zu durchschlagen. – – –

Derartig voll Eifer, seine »Mission« zu bestellen, stürmte der Alte polternd in die drückende Stille des Zimmers, daß die drei um den Tisch her mit einem schnellen Anruck den Boden der Alltäglichkeit aufatmend wieder unter den Füßen fühlten.

Die »Mission« Lanzens aber bestand darin, Lohmann sogleich mit zum Kommerzienrat zu bringen, der darauf brenne, den »Einsiedler auf der Laubnitzer Johannisklippe« kennen zu lernen. Einen Augenblick war Lohmann entschlossen, diese Einladung abzulehnen; aber Frau Malwine bat ihn in so herzlichem Tone, daß er sich von Lanz mit fortziehen ließ.

Ehe er aber aus dem mittlerweile erleuchteten Zimmer ging, faßte die Direktorin seine Hand und sagte so lieb, daß er sie dafür auf ihren Hohberg-Mund hätte küssen mögen: »Wir sind nun Ihre Mitwisser, Herr Sanitätsrat. Muß ich's erst sagen, daß wir auch mit Ihnen leiden und – hoffen?«

»Hoffen?« wiederholte er ungläubig. »Hoffen? Ich hoffe nichts mehr!«

Er sah sich dabei aber nach Mariannen um. Und als er bemerkt hatte, daß sie ins Nebenzimmer gegangen war, ohne ihm ein Wort zu gönnen, wiederholte er tonlos: »Gar nichts mehr!«

Und in diesem Augenblick sah auch Frau Malwine in ihm nichts anderes, als den Raub einer toten Zukunft.

* * *

Erst im Vestibül der schloßartigen Villa des Kommerzienrats Klaar kehrte Lohmann so recht der Sinn für seine Umwelt wieder. Auf dem Hinwege bebte in ihm immer noch die tiefe innere Erregung, in die Lanz so zur rechten Zeit mit seiner Einladung hemmend eingegriffen hatte. Und immer noch vermochte Lohmann die Frage nicht los zu werden: »Warum fand sie kein armes Wort für meine Schicksale?«

Und wie vorhin schon setzte sich in ihm der Gedanke fest, Marianne verachte Regina ihrer Leidenschaftlichkeit wegen und ihn vielleicht mit, weil er ihrer nicht Herr geworden war.

So hörte er denn auch nur mit halbem Ohre zu, wie eifrig Lanz bemüht war, ihn auf diesen Besuch bei dem Gersdorfer »Großalmosenier« vorzubereiten.

Sobald aber der Sanitätsrat in dem strahlend hellen Treppenhause stand, das ein Wald von Palmen in den Ecken und auf den Treppenwangen in einen wundervollen Wintergarten umzauberte, war's ihm wie einem edlen Renner, der nach langer Fron im Lastwagen wieder einmal unter einem federleichten Jockei »auf dem grünen Rasen« trabt.

Das war ja die Atmosphäre, die er so lange und mit so großem Behagen geatmet hatte! Nun sie ihn plötzlich wieder umschmeichelte, kam's wie eine Betäubung über ihn, und das war – er konnte es nicht leugnen – eine süße Betäubung.

War's nicht doch die eigentliche Lebenslust für ihn?

Hatte er nicht doch unrecht getan, ihr in übereiltem Entschlusse den Rücken zu kehren?

Hätte er nicht lieber versuchen sollen, das zerfetzte Gewebe seines Glanzlebens mit kunstreichen und nachgiebigen Fingern wieder zu flicken?

Er hatte den Menschen dieses Lebenskreises doch etwas gegolten, sicher, zu Zeiten sogar recht viel. Sollte sich ihr Wankelmut – an den er vor seinem »Sturze« gar nicht geglaubt hatte – ihm nicht wieder zugekehrt haben in der alten, fast vergötternden Verehrung? –

In solchem Sinne schritt er neben Lanz die breite, sanfte Treppe hinauf, deren Teppichbelag selbst des Direktors Schritte unhörbar machte. Aber noch ehe sie oben anlangten, war bei Lohmann diese schwächliche Sehnsucht nach dem verlorenen Glanze verflogen.

»Nein,« richtete er sich innerlich empor, »es war zu viel hohler Flitter drumgesetzt. Der wäre durch ein solches Kompromiß zu teuer bezahlt! Schon spüre ich's: im Odem meiner Waldeinsamkeit liegt mehr Stärkendes, als im Parfüm jener Luxusstätten. Ich bin verloren für sie – für immer!«

Ein gut geschulter Diener, der im oberen Flur schon auf sie gewartet hatte, nahm ihnen die Pelze ab und nötigte sie, durch eine der hohen Flügeltüren, die auf den Flur führten, in ein saalartiges Gemach mit durchweg holzbrauner Tönung einzutreten.

Lohmanns geschulter Blick erfreute sich sofort auch hier an der Gediegenheit einer Ausstattung, die eine seltene Verbindung von ebensoviel Reichtum wie Geschmack zur Voraussetzung hat. Die hölzerne Kassettendecke, das gebeizte, reich geschnitzte Wandpanel, die hohen, eichengeschnitzten Büchergestelle entlang den Wänden mit ihrer gepreßten Ledertapete und zwischen den Regalen die wenigen erlesenen Originalgemälde und Skulpturen: das alles löste so sehr viel Mitschwingendes bei Lohmann aus. Schon deshalb – wenn er ihm auch ganz fremd gegenüber gestanden hätte – würde ihm der stattliche Mann sympathisch gewesen sein, der da inmitten dieses Zimmers an einem riesigen Schreibtische im Rollstuhl saß und mit unverkennbarer Spannung seinem Besuche entgegenblickte.

Ohne erst eine förmliche Vorstellung durch Lanz abzuwarten, sagte der Kommerzienrat mit einer Stimme, fest und biegsam zugleich wie ein Stahlstab: »Vielen Dank, Herr Grundnachbar, daß Sie einem Einsamen ein Plauderstündchen schenken wollen!«

Und er nötigte seine Gäste, sich in tiefen Klubsesseln neben ihm niederzulassen.

»Grundnachbar?« fragte Lohmann verwundert, den Scherz aufnehmend.

»Nun ja!« entgegnete Klaar lächelnd, »ich habe mir auch eine romantische Ecke auf dem Laubnitzer Kirchhofe gesichert.«

Lohmann sah ihn erstaunt an.

»Schnurrige Idee, nicht wahr?« fragte abermals und nun schalkhaft lächelnd der andere und grub dabei seine schlanke, von blauem Geäder durchzogene rechte Hand in den gut gepflegten weißen, langen Bart, der seinem Gesicht viel Ähnlichkeit mit dem Lohmanns gab.

»O nein!« antwortete der. »Aber es frappiert zunächst, bei einem Großindustriellen zumal. Es ist so sonderlich einsam da draußen.«

»Wahrhaftiger Gott ja!« mischte sich Lanz lachend ein. »Selbst für Tote mordsmäßig still!«

»Das lockte mich gerade!« sagte Klaar sinnend. »Ich habe von Kind auf die Stille geliebt!«

»Das merke ich, Herr Kommerzienrat, auch an der Auswahl Ihrer Bilder da!« rief Lohmann, auf ein schwermütig-idyllisches Waldstück deutend, das Klaar gerade gegenüber hing. »Und ich bin erstaunt, ein so kostbares Kleinod im Privatbesitz zu finden.«

»Ach, Sie meinen den Ruisdael?« nickte Klaar herzlich erfreut; denn er erlebte es nur selten einmal, daß jemand diesen seinen angedunkelten Schatz nach irgend welcher Seite richtig bewertete, noch ehe ihm der Name des Künstlers verraten wurde. »Ich verdanke ihn einem glücklichen Zufalle und segne die Laune der Stunde, die mich ihn erwerben ließ, so sehr sie mir schon manchmal auch als eine leichtsinnig-verschwenderische erschienen ist. Aber« – setzte er mit halbverlegenem Lächeln hinzu – »es hat eben nicht jeder das Zeug zu einem Tolstoi.«

»Ist auch recht gut!« brummte Lanz dazwischen.

»Na, lieber Freund!« wandte sich da Klaar heiter gegen ihn. »Wenn einer von uns dreien so was für entbehrlich hält, sind Sie's doch! Im Grunde Ihres Herzens grollen Sie ja über die Zinsensummen, die das Bild da dem allgemeinen Besten entzieht.«

»Alles an rechter Stelle!« verteidigte sich Lanz. »Wenn ich mir so was leisten wollte, auch nur im tausendsten Teile des Wertes, wär's ein Unfug ohne gleichen. Bei Ihnen ist's anders! Sie macht so was besser! Ich weiß ganz gut, daß wir dem Bilde schon manche Stiftungssumme verdanken. Es ist mein stummer Bundesgenosse.«

Der Kommerzienrat sah seinen sozialen Helfershelfer einen Augenblick erstaunt an, und ein ganz leichter Schatten von Mißtrauen kam in seine klaren, graublauen Augen. Und auch Lohmann mußte sich gegen ein Gefühl des Befremdens wehren.

»Direktor Lanz, ein Schmeichler? Wär's möglich?!«

Er schüttelte aber rasch den Verdacht ab, weil er ihm bei diesem kernigen Manne zu naturwidrig erschien, und auch in des Gelähmten Augen lag bald nur noch das kindliche Betroffensein dessen, der sich durchschaut sieht, wo er es nicht ahnte. –

»Und da tut unser guter Direktor immer,« scherzte Lohmann, »als sei er nichts Rechtes mehr nütze auf seine Augen.«

»O,« stimmte Klaar in die Tonart ein, »der sieht, wenn's not tut, mit den Fingerspitzen.«

»Das tät wohl not jetzt!« knurrte Lanz. »Jetzt möchte man vorn und hinten Augen haben, um nicht im Schlafe überrumpelt zu werden.«

»Na,« machte da Klaar fast ärgerlich, »da sind wir ja glücklich wieder im alten Gleise!« Er sah zu dem Ruisdael hinauf. »Die glückliche Zeit, in der so was Friedengesättigtes entstehen konnte! Damit ist's vorbei für immer! Es gibt in der Kulturwelt kein ›Abseits‹ mehr! Und das ist fürchterlich! – Unser guter Freund Lanz (wandte er sich an Lohmann) denkt an den Streik, der uns droht!«

»Ich hörte schon davon!« fuhr Lohmann zusammen; denn er hatte seinen Blick förmlich in das bleiche Gesicht des andern hineingebohrt. Ein Groß-Unternehmer mit solchen idyllischen Friedenssehnsüchten war ihm ein zu neuer, interessanter Widerspruch in sich.

»Glauben Sie an den Streik, Herr Kommerzienrat?«

»Ich muß wohl!«

»Mir scheint doch aber, als wäre es von Ihren Arbeitern ein schreiender Undank, wenn sie –«

»Eine Gemeinheit wär's!« schnaubte Lanz dazwischen, und Lohmann verglich mit stillem Behagen bei sich, wie verschiedenartig dieser Mann und seine zarte Frau derselben Furcht beredten Ausdruck liehen.

»Ach, was wollen Sie?« sagte da Klaar mit verschleierten Blicken. »Mensch ist Mensch, und das heißt im allgemeinen doch Raubtier! Kann er mehr haben, faßt er gierig zu, und nur der ganz Satte ist selbstlos. Wer will's ihnen verdenken? Wir fassen ja auch zu. Nicht alle freilich! Aber die Ausnahmen, ach, es ist eine Binsenwahrheit, zu sagen, daß sie so sehr selten sind! Freilich sollten sie nicht noch immer seltener werden. Das ist das Traurigste wohl! Aber welche schauderhaften Kontraste und Widersprüche zeitigt auch diese Kultur von heute! Man sieht sie und verurteilt sie und steckt doch selbst mitten drin und hat nicht mal die Kourage, sich selbst herauszureißen. Ist nicht jeder solcher Fabrikanten-Palast vis-à-vis den Toren der Fabrik im Grunde genommen eine immertönende Fanfare für diese Arbeitstiere? Und doch! Soll man sie niederreißen oder den Plunder mit denen drüben teilen und selber im Weberkittel umhergehn?«

»Na, das wäre noch schöner!« brauste Lanz in ehrlichem Unwillen auf.

»Ein Frevel wär's am Schönen; denn da sehe ich nichts von ›Plunder‹!« stimmte Lohmann zu. »Das Schöne aber gehört auch in die rechten Hände. Und in welchem Schmutze verkämen wir, wenn uns die Bäder der Schönheit fehlten!«

»Das ist's!« stimmte Klaar sinnend zu. »Wir verkämen! Ich sage mir's oft zur Beruhigung. Und dann die Gewohnheit, die Gewohnheit von Kindesbeinen an! Darüber springt man doch auch nicht so ohne weiteres hinweg. Wohl: es mag auch solche geben, die auf der Holzbank hochgesinnt bleiben und ohne Tischtuch innerlich wachsen können! Gott verzeih' mir's: ich brauche dazu, was ich eben von Kind auf hatte: Fauteuils und Bielefelder Leinen, und ich brauche meinen Ruisdael und da den Meunier (er zeigte auf eine wundervolle Bronce, »Bergleute im Schachte« darstellend, die auf dem Schreibtische vor ihm stand) und Goethe und Multatuli!«

»Aber, Herr Kommerzienrat,« entgegnete da Lohmann voll Eifer, »welche Selbstquälereien! Wer wollte es Ihnen verargen, wenn Sie z. B. Ihr Kapital ganz aus den gefährlichen Unternehmungen zögen und in der Stille, die Sie so sehr ersehnen, nur der Freude am Schönen lebten?«

Hier ließ Lanz ein unwilliges Knurren hören. Der Kommerzienrat aber drückte auf einen der elektrischen Klingelknöpfe, die in langer Reihe in die Pultfläche eingelassen waren, und sofort erschien der Diener mit einer offenbar schon bereit gehaltenen Flasche Wein und Gläsern, die er füllte, worauf er gleich wieder lautlos verschwand.

Der Kommerzienrat stieß zur Bewillkommnung mit seinen Gästen an und Lohmann fand, daß der Rüdesheimer, sowie die Zigarre, die Klaar dann noch anbot, mit der sonstigen Gediegenheit dieses Hauses auf gleicher Höhe standen.

»Sehen Sie, Herr Sanitätsrat,« sagte Klaar, das Glas wegsetzend, »Ihre Bemerkung bestätigt mir, daß doch etwas an der suggestiven Beeinflussung der Gedanken und Gesprächsstoffe sein muß.«

Die beiden andern sahen ihn fragend an.

»Nun ja!« fuhr er lächelnd fort. »Eben ehe Sie eintraten, sann ich über ein sehr vorteilhaftes Angebot nach, das mir auf meine gesamten Fabrikanlagen und Liegenschaften gemacht worden ist.«

»Ist ja nicht das erste Mal,« knurrte Lanz wegwerfend.

»Aber dies ist bei weitem die günstigste Proposition,« entgegnete Klaar mit verschlossener Miene. »Zahlungsfähige Leute, Firma von Ruf, unternehmende Köpfe, eine ganze Familie.«

»Dann ist's schon nichts!« stieß Lanz hervor, als habe er zu entscheiden.

Lohmann sah ihn höchst verwundert an; Klaar aber fragte mit leisem Lächeln: »Wieso?«

»Das ist so gut wie 'ne Aktiengesellschaft! Also herzlos! Plusmacherei!«

»Mag sein! – Aber wenn ich nicht mehr hier drin sitze, was geht mich's dann im Grunde an?«

Lanz antwortete nicht; aber um seine herabgezogenen Mundwinkel ballte sich ein Sturm zusammen, wie Föhnwolken auf Hochgebirgskämmen.

»Ich habe ja sonst derartiges weit zurückgewiesen,« fuhr Klaar fort, und es hörte sich an wie das Weitertasten eines Ortsunkundigen auf unbeleuchteten Treppengängen. »Aber nun – der Streik kommt. Und wenn ich ihn auch nicht verschuldet habe, so werde ich doch am meisten unter ihm leiden. Warum da nicht einen Strich durchmachen und all' dem unschönen und unästhetischen Wuste aus dem Wege gehen? Ich bin alt genug dazu mit meinen Sechzig. Ich darf mir die Ruhe gönnen. Meine Töchter sind in alle Welt geflattert. Ehe Fritz (›mein Jüngster!‹ erklärte er Lohmann) sich von dem Langenbielauer Unternehmen wieder frei gemacht hat, können noch zehn Jahre vergehen. So lange will ich nicht mehr schuften. Sie haben Recht, Herr Sanitätsrat: man ist ein Narr, wenn man sich nicht rechtzeitig genug in die Stille zurückzieht, um dort der Freude am Schönen zu leben!«

Lohmann wurde es unbehaglich zu Mute. Der unangenehme Gedanke schoß in ihm empor: »Die beiden alten Knaben haben Dich hierher geholt, um Dir eine Lektion zu erteilen.«

Aber er schalt sich sogleich »häßlich-mißtrauisch«, als er nun sah, wie der Orkan bei Lanz losbrach.

»Nein, Herr Kommerzienrat,« schrie der Direktor förmlich, »er hat nicht Recht! Sie können dem Streik nicht aus dem Wege gehen!«

»Warum nicht?«

»Weil es feig wäre. Und weil Sie der Einzige sind, an dem sich's vielleicht noch stauen kann.«

»Mag sein! Aber ich habe nicht Lust, all die Aufregungen mitzumachen.«

»Lust? Hier handelt sich's nicht um Lust! Hier ist eine Pflicht!«

»Oho! Welche Pflicht sollte ich da haben?«

»Das meine ich auch!« schaltete Lohmann ein. Aber Lanz schnaubte ihn grob an: »Sie können hier gar nicht mitreden! Dazu gehören Einsichten.«

Lohmann mußte dem Berserker im Herzen Recht geben und schwieg nun, das Rede-Duell gespannt verfolgend.

Etwas milder wandte sich jetzt Lanz an Klaar: »Sie haben Pflichten gegen Ihre Familien-Tradition, Herr Kommerzienrat. Was würde Ihr seliger Herr Vater zu solcher Fahnenflucht sagen? Und Pflichten gegen die Gemeinde, deren Haupt-Steuerstütze Sie sind. Vor allem aber gegen Ihre Arbeiter! Wer ›A‹ sagte, muß auch ›B‹ sagen! Und Sie haben ›A‹ gesagt! Alle Ihre Wohlfahrtseinrichtungen veraasen, wenn Sie nicht auf Ihrem Posten hier ausharren, bis Ihr eigen Fleisch und Blut Sie ablöst. Denn so was hält sich nur durch Tradition. Das weiß man ganz genau. Und wenn Sie jetzt abschnappen, dann wünschte ich, ich hätte diesen Kummerwinkel von Gersdorf nie gesehen, oder ich hätte mich von meinem weiland Schwiegervater-Grobian weiter fortjagen lassen als bis ins Niederdorf. Denn eine Stümperarbeit ohne Kopf als Lebenswerk zurücklassen, dazu ist mir Franz Lanz offengestanden zu gut.«

»Sie vergessen, lieber Freund,« sagte der Kommerzienrat mit einer Stimme, hinter der das helle Vergnügen sich nur noch notdürftig verstecken konnte – auch Lanz hätte es kichern hören müssen, wenn er nicht die Ohren voll Wut gehabt hätte – »Sie vergessen, daß ich aber doch auch Pflichten gegen mich selbst habe.«

»Nein, nicht ich, Sie vergessen das!«

Hochrot im Gesicht sprang Lanz aus dem tiefen Sessel empor, stellte sich ganz nahe vor seinen Gönner hin und bohrte seine blinzelnden Blicke wie Dolche in dessen Augen, die Lohmann flackern sah, er wußte nicht, wovon.

»Was hat Sie fähig gemacht, Herr Kommerzienrat,« fragte Lanz mit einer Stimme, die Frau Malwine, wenn sie hätte zuhören können, in der Wärme einer längst, längst versunkenen Pfingstsonne gebadet haben würde, »was hat Sie fähig gemacht, in so jungen Jahren den großen Betrieb hier selbständig zu leiten? Frühgewohnte Arbeit! Was hat Ihnen willige Mitarbeiter geschaffen? Ihre eigene Arbeit! Was hat uns zusammengebracht? Was hat Ihre Söhne zu tüchtigen Menschen gemacht? Was hat Ihnen über den frühen Tod der lichten Frau weggeholfen, die uns allen unvergeßlich bleibt? Die Arbeit und immer die Arbeit! Wem verdanken Sie Reichtum, Ehre und die Möglichkeit, hunderttausende von Tränen trocknen zu können? Wem Ihre Freude an Kunst und Natur? Immer der Arbeit! Und denken Sie doch dran! Wenn diesen Stuhl da in den letzten fünfzehn Jahren nicht ein Urwald von Arbeit umstanden hätte, so dicht, daß für die Verzweiflung nicht die kleinste Lücke zum Durchschlüpfen frei blieb, hätten Sie dann das alles ertragen? (Er wies auf die gelähmten Glieder Klaars). Soviel danken Sie der Arbeit. Und sie ist längst nicht mehr bloß für Sie selbst da, nein, für tausend andere mit. Und da liegt die wahre Pflicht, die Sie gegen sich selber haben. Bloß dem Genusse leben?! (Er höhnte). Dem edlen ästhetischen Genusse des Schönen?! Pah, das ist in meinen Augen für einen Mann wie Sie nur ein eitles Tändelspiel. ›Spielen aber‹, las ich jüngst, ›und sich vom Blute anderer nähren, ist ein Dasein für Mücken, aber nicht für Menschen!‹ Nun, wenn Sie's so treiben wollen – nun, meinetwegen – dann seien Sie zum Schlusse von dem allen – so was! Aber das sage ich Ihnen, Herr Kommerzienrat, ich – ich kann's nicht leiden, wenn mir die Mücken um die Nase summen.«

Er machte auf der Sohle kehrt und stand unschlüssig, ob er gehen oder bleiben solle.

Lohmanns Wangen brannten heiß. Ihn hatte jedes Wort wie ein Faustschlag getroffen, als habe der grimme Hagen da auf ihm selber herumgehackt. Der Kommerzienrat aber lehnte in seinem Stuhle, weit hintenüber, beide Arme auf die Lehnen gelegt, und über sein Gesicht gingen die Wellen einer kaum noch zu zügelnden inneren Heiterkeit, wie der Sonnenglanz über ein Ährenfeld, das ein leiser Windhauch wiegt.

»Na«, sagte er nach kurzer Pause, »wenn Ihnen auch Ihr Schwiegervater sonst nicht viel hinterlassen hat, der Geist seiner göttlichen Grobheit ist zwiefältig auf Ihnen, mein alter Freund. Und Sie sehen, Herr Sanitätsrat, er macht Gebrauch von seinen Gaben, und das ganz, wie's trefft. Heute mir, morgen Dir! Ich rate zur Vorsicht! Möglicherweise wäre diese brillante Philippika auch anderwärts anzubringen. Modulationsfähig ist er auch! – Halt, hier geblieben! Alter Trotzkopf, wo wollen Sie denn hin?« schrie er Lanz nach, der mit großen Schritten auf die Tür zustampfte und nur mühsam aufzuhalten war.

Als er sich endlich umwandte, sah er sich die schmale Hand des Kommerzienrates entgegenstrecken, und wenn er nicht im Zorn noch blinder gewesen wäre als sonst, hätte ihn wohl auch der weiche Schimmer in des andern Augen belehrt, wie unnütz er sich erregt habe.

»Wollen Frieden machen, Alter!« sagte Klaar lächelnd. »Es war nur ein Probepfeil! Knurren Sie nicht deshalb, alter Freund! Es lohnte der Mühe. Wer so zum immerwährenden Sitzen verurteilt ist, dem stocken schließlich die Säfte, auch die rüstigsten. Und dann sind die Schimmelpilze der Bequemlichkeit oben auf, wie die Wasserlinsen in einer Moorlache. So ein Wirbelwind aber fegt alles wieder hübsch rein und spiegelblank. Und wenn er in der Nachbarschaft 'n Bißchen mit an wackligen Buden gerüttelt hat, daß sie möglicherweise einstürzen, ist's recht gut. Und ich denke, Herr Sanitätsrat, man lebt unter Gottes freiem Himmel immer noch besser als in so 'nem modrigen Trauerloch. Nicht, Alter?«

Lanz knurrte eine unverständliche Antwort. Er war sich noch nicht recht klar über die ganze Situation.

Als sie sich dann bald verabschiedeten, versprach Lohmann dem Kommerzienrat, er werde bald mal wieder bei ihm vorsprechen, um nicht in seinem ›modrigen Trauerloch‹ zu versauern. Die beiden andern verstanden den Doppelsinn dieser Worte wohl, und Klaar dankte mit einem warmen Blicke.

Auf der Heimfahrt, die dann Lohmann bald antrat, gab er's nach kurzem Kampf mit sich selbst schnell auf, darüber zu grübeln, ob diese ganze Szene seinetwegen und absichtlich inszeniert worden sei – es sah verzweifelt darnach aus! – oder ob er sie als ein gütiges Zufallsgeschenk zu betrachten habe.

Ein Geschenk war sie in jedem Falle!

Denn das Wort: ›Spielen und sich vom Blute andrer nähren ist ein Dasein nur für Mücken, nicht für Menschen!‹ ging ihm rastlos nach. –


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