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In der Weberhütte, die Lohmanns Hause schräg gegenüber lag, ging's immer so still zu, daß diese Ruhe schließlich die Neugier des Sanitätsrates wachrief. Drum hatte er sich schon vor einiger Zeit bei seiner Wirtschafterin nach den Wasner-Leuten erkundigt.
Frau Wachler, die mit komischer Grandezza die Deportierte spielte und alles Laubnitzsche von erhabener Höhe herab beurteilte, sagte: »Ach Gott, Herr Sanitätsrat, was werden die Leute sind? Weber und gottverlassene arme Schlucker, wie alles hier! Die haben ja kaum Kraft zum Mucksen. Bei die Wasners hat's aber noch 'ne besondere Bewandtnis: 's sind welche von die Mucker.«
»Also Baptisten!« erklärte sich Lohmann diese Auskunft, denn er wußte, daß die in den Walddörfern ringsum ziemlich zahlreich zu finden seien. Und da ihm »das Bigotte« nicht lag, kümmerte er sich nicht weiter um die lautlosen Nachbarn.
Mit der Zeit aber nötigte ihm doch eine alte, starkknochige Frau Teilnahme ab, die alle Morgen, auch beim ärgsten Wetter, aus dem schiefgerückten alten Holzstalle hinter dem Hause einen wohlgenährten Schimmel herauszog, ihn vor einen niedrigen Bretterwagen spannte und dann auf ihm das Dorf hinunterkutschte. Am Abend sah er sie ebenso regelmäßig wieder mit leerem Wagen zurückkehren. Aber sie saß dann nicht auf ihm, sondern stapfte mit müden Schritten in ihren hohen Schaftstiefeln, die unter kurzen, groben Röcken sichtbar wurden, neben dem Gaule her. Der ließ bei der Heimkehr den Kopf ganz ähnlich matt herunterhängen wie die Alte den ihren. Und hätte sie ihr strähniges, weißes Haar nicht unter einem dicken, wollenen Tuche verborgen, die Köpfe der beiden würden einander noch ähnlicher gesehen haben, als so schon.
Jedenfalls lebte die Frau mit ihrem Schimmel in sehr gleichartiger Interessen- und Gedankensphäre und er mit ihr.
Davon war Lohmann überzeugt, seit er eines Tages im Halbdunkel hinter ihnen das Tal heraufgegangen war und ihrer Unterhaltung zugehört hatte. Denn das war's, wenn auch die Frau nur allein Worte brauchte. Das matte Herumschauen des Schimmels zu ihr, sein Nicken, Nüsternblähen und Augenzwinkern konnten nichts andres sein als teilnahmsvolle Zwischenbemerkungen und wurden auch von der Alten als solche angesehen, denn sie beantwortete sie.
Damals erfuhr Lohmann auch, daß die beiden Tag für Tag mehrere Holztrachten aus dem Walde holten für die Brettschneide in der »Obermühle«, und daß die fast Siebzigjährige sich selbst die Klötzer herbeirolle und auflade. –
Seit einigen Tagen hatte Lohmann dies Fuhrwerklein nicht bemerkt. Er erklärte sich das, wenn er zufällig daran dachte, mit der allgemeinen Weihnachtsruhe. Als nun aber auch mehrere Tage nach dem Feste die gewohnte Erscheinung ausblieb, dafür aber im Stalle drunten übermütig-unwilliges Wiehern und Stampfen laut wurde, fragte er Frau Wachler, ob die alte Wasnern nun auch eingewintert habe.
»O nein, Herr Sanitätsrat,« antwortete die Wirtschafterin, die es nicht verschmähte, sich trotz ihrer universellen Verachtung der Laubnitzer Verhältnisse von der Fleischer- und Bäckerfrau über alles und jedes auf dem Laufenden erhalten zu lassen, »ach nein, die Wasner-Mutter ist verunglückt. Gerade am Nachmittage vor dem Heiligen Abend. Sie hat eben eins von die schweren Klötzer auf den Wagen hinaufgerollt gehabt, und da ist sie ausgeglitten, und da ist ihr der Klotz gerade auf den Leib gerollt. Na, und da hat sie ein paar Stunden im Schnee draußen gelegen, und sie wäre wohl schonst damals umgekommen, wenn ihr Schimmel nicht so einer mit'm halben Menschenverstand wäre!«
»Wie denn?« fragte Lohmann aufhorchend und voll Teilnahme dazwischen.
»Nun, Herr Sanitätsrat, der Schimmel ist ebenst ganz allein mit dem Wägelchen in die Obermühle gekommen. Und da hat er vor der Tür angehalten und solange mit die Ketten gerasselt, bis der Brettschneider rausgekommen ist. Und da hat er mit dem Kopf so klug nach rückwärts genickt, auf die »Dreiwässer« zu, wo der Ladeplatz ist, als hätt' er sagen wollen: »Geht man und sucht se!« Na, und nu liegt se auf'n Tod. Sie hat wohl schonst'n Brand – wie die Fleischern heut morgen erzählte. Und wenn der Herr Sanitätsrat meinten, daß es angebracht wäre – wenn's nicht etwa bedenklich wäre von wegen dem Überlaufenwerden, so könnt' ich vielleicht mal'n Krankensüppchen –«
»Aber selbstredend, Frau Wachler!« fiel ihr Lohmann in die Rede. »Haben denn die Leute einen Arzt?«
»Ich glaube nicht, Herr Sanitätsrat, die mögen keinen. Sie sind wohl zu fromm dazu!«
Und Frau Wachler lächelte das milde, mitleidigbedauernde Lächeln der großsinnig Verstehenden. –
»Zu fromm?!«
Lohmann ging das Wort den ganzen lichten Morgen im Kopfe herum, während er beschäftigt war, den Bilderschmuck seines Zimmers umzuhängen.
Die »Toteninsel«, mehr noch aber zwei große Reproduktionen aus Rethels »Totentanz«, die über seinem Schreibtisch hingen, erschienen ihm seit Tagen schon wie drei prahlerische Ausrufungszeichen, hinter seine Trauer gesetzt. Er verbannte sie an die dunklere Hinterwand des Zimmers und erfreute sich bald an dem lichteren Einsamkeitszauber von Dürers stillzufriedenem »St. Hieronymus im Gehäuse«, den er an die Stelle jener hängte.
»Ein genialer Einfall,« dachte er beim Beschauen des Bildes, »den Löwen der Leidenschaft da, so gebunden vom unnachahmlichen Behagen dieses Gemaches voll Sonnenschein und stiller Freuden, dem wunschlos lächelnden Heiligen wie eine schnurrende Katze zu Füßen zu lagern!« –
Gegen Mittag ließ es ihm keine Ruhe mehr: er ging ins Wasner-Häuschen hinüber, um sich nach der Kranken zu erkundigen.
In dem engen Hausflur, dem ein altmodischer, bunt bemalter Küchenschrank ein heiter-festliches Aussehen verlieh, hörte er schon das Klappern des Webstuhls. Doch meinte er, das Schifflein halte förmlich die harten Pralltöne zurück, mit denen es sonst hin- und herfährt. Mehr wie das gewaltsam gedämpfte Atmen eines von der Angst Gehetzten im Versteck klang es ihm.
Auf sein leises Anklopfen rief eine Frauenstimme »Herein!« und es lag etwas Vorsichtiges in dem Tone, als könne man nie wissen, ob man nicht, ohne es zu ahnen, einmal mit dem Worte »Christ den Herrn« selbst zum Eintritt nötige. Die Augen der blassen Ruferin, die sich dann langsam von dem Spulrad zu dem eintretenden Gaste hin hoben, konnten ebenso gut wie ein gleichgiltiges »Was wünschen Sie?« auch die Frage ausdrücken: »Bist Du, der da kommen soll?« Auch das weberfarbene Gesicht des Mannes, der jetzt den leisen Husch des Schiffleins ganz zum Stillstehn brachte, trug den Stempel einer Gelassenheit, für die es keine Wirbelstürme des Gemütes gibt. Er verließ auch den Sitz auf dem qualvollschmalen Brette an der feuchten, aber sauberen Wand hinter dem Webstuhl nicht.
Ein gehaltenes Stöhnen, das durch die nur halb angelegte Kammertür in die Stube drang, erinnerte Lohmann an den Zweck seines Kommens, sonst hätte er wohl zunächst vergessen, daß Not und Tod dies Haus umlagerten. Konnte er sich doch ohnehin nicht des Gedankens erwehren, dies große, niedrige aber lichte Gemach, auf dessen Fußboden die helle Wintersonne das Kreuzgestänge der kleinen Fenster in deutlichen Schattenrissen abzeichnete, die behaglich schnurrende Katze auf der sonnigen Diele, der gebückte Mann hinter der breiten, weißen Fläche der aufgespannten Garnfäden des Webstuhls, vor allem aber der Anhauch einer in sich beruhigten Friedensstimmung, sie seien doch eigentlich das, was ihn eben an dem Dürerblatte so gefesselt habe – »wenn auch ein wenig ins Laubnitzische übersetzt!« –
Er nannte seinen Namen, fragte nach der Kranken und sagte, daß ihn die Teilnahme für sie hertriebe.
Sohn und Schwiegertochter der Kranken dankten für seinen Besuch und gaben Auskunft über deren Zustand. Es geschah das alles ebenso gelassen, wie ihre Bewegungen waren. Lohmann fand, es liege etwas Hoheitsvolles in der Art dieser armseligen Leute, und es berührte ihn sehr angenehm, daß an ihnen nicht die Spur einer geschmeichelten Freude über sein Kommen zu merken war.
Er fragte, warum sie keinen Arzt hätten. Da wanderten fragende Blicke zwischen Mann und Frau hin und her. Lohmann deutete sie sich – weil er Frau Wachler nicht glauben konnte – falsch und sagte vorsichtig: »Es ist gewiß immer ein schweres Opfer für unbemittelte Leute, sich einen Gersdorfer Arzt hier heraus kommen zu lassen.«
»O ju!« antwortete der Mann und trat nun hinter dem Stuhl hervor, »'s kimmt a jeder Besuch uf zahn Mark zu stiehn. Ober doas könnde mich ni oabhal'n, wenn ich und ich – –«
Er zögerte abermals.
»Haben Sie kein Vertrauen zu den Gersdorfer Kollegen?« fragte Lohmann.
»O ju, ju, Herr Sanitätsrat! A su viel wie zu jeder menschlicha Kunst!«
Lohmann merkte, daß das Vertrauen nicht groß sein könne, und dachte: »Etwas Pharisäisches klebt diesen Frommen nun einmal an.«
Die grauen Augen des Webers schienen ihm im Herzen gelesen zu haben; denn er sagte nun rascher und sicherer: »Verstiehn Se mich recht, Herr Sanitätsrat! Mir denka über su woas anderscher wie die andern. Jede Krankheit (er verfiel allmählich ins Hochdeutsch, als lese er vor oder spreche vor einer Versammlung der »Gläubigen«) – jeden Unfall schickt Gott der Herr. Und als seine Schickung haben wir sie hinzunehmen. Liegt es in seinem ewigen Ratschlusse, den Kranken zu heilen, so wird's geschehen. Sonst wartet man im Glauben, was Er in seiner ewigen Güte über uns verfügt. Und so wird's uns am besten sein! A su minn ich haltig, Herr Sanitätsrat.«
»Und ich desselbigengleichen!« setzte sanft und leise die blasse Frau hinzu.
Lohmann sah beide starr an. Seine erste Regung war zorniger Unwille über eine solche »Borniertheit«. Dann regte sich die Disputierlust in ihm. Aber ein Blick auf die gelassenen Gesichter und die ruhigen, guten, selbstgewissen Augen des Ehepaars lehrte ihm, daß jener unberechtigt, und diese nutzlos sei.
»Wie nun, wenn ich Ihnen meine Hilfe anböte?« fragte er nach kurzer Pause prüfend.
Auch jetzt veränderten sich die Züge der beiden nicht.
»Schön' Dank ver Ihre Gütte, Herr Sanitätsrat,« sagte der Mann. »Doas nahma mer natürlich oan. Denn 's koan ju goar ni anderscher sein: Ihn schickt ins Gott der Herr salber.«
»Ja, a su ies wull, Traugott,« bestätigte die Frau, die Hände dankbar faltend, »und Gott dem Herrn darf man nicht widerstehn!«
Lohmanns Verwundern wandelte sich in Bestürzung, und so folgte er der Frau, die ihm in die Kammer voranging.
Die Kranke lag in dicken Federbetten mit großgewürfelten bunten, peinlich sauberen Bezügen, und Lohmann sah auf den ersten Blick, daß hier nichts mehr zu helfen war.
»Mutter,« rief die Frau der sich unruhig mit geschlossenen Augen hin und her Wälzenden sanft zu, »der Heiland schickt ins do an Beistand. 's ies der neue Herr Dukter vo düba.«
Mühsam hoben sich die runzligen Lider von den fieberglühenden Augen, und die welken Lippen der Frau verzogen sich zu einem schwachen Lächeln. Lohmann sah's mit Rührung; denn er erkannte wohl, welchen Heldenkampf diese Frau mit den Schmerzen rang, die ihr der Brand im zerschmetterten Leibe bereitete.
»Ich – brauche – ke'n Beistand,« flüsterte sie, »als bloßig noch – den – ver'm himmlischa – Richter.«
Lohmann sah: hier herrschte ein Geist. Und es war ein »verrannter«! Gewiß! Aber auch ein starker!
Und die Quellen seiner Kraft mußten tiefgründig sein.
»So erlauben Sie wenigstens,« stieß er hastig hervor, »daß ich etwas zur Linderung Ihrer Schmerzen tue.«
Die beiden Frauen nickten stumm, und Lohmann eilte in sein Haus, um sich mit allem Notwendigen zu versehen.
Als er dann wieder neben dem Bette saß und mit einem raschen Blick feststellte, was der rollende Stamm eigentlich diesem zähen Frauenleibe angetan hatte, schätzte er das Heldentum noch höher ein, mit dem hier unsägliche Schmerzen stumm ausgelitten wurden. Und als er ein Wort darauf bezüglich äußerte, sagte die Alte heiter: »Woas ies doas olles gegen doas, woas mei Herr und Heiland fer miech derlitten hoat?«
Lohmann nahm nun die schmerzstillende Einspritzung vor, und während ihre starke Natur mit der Betäubung rang, flüsterte sie: »Sie sein a guder Herr! Ich hoa's bale gesoit, do Se und Se bruchta Ihre Tute zu ins. Und – ich hoa a Zutrauen zu Ihn – und anne – recht gruße – Biete.«
»Bitten Sie, Frau Wasner, bitten Sie!« drängte Lohmann freundlich.
»Lieber Herr, übernahma Se men'n Schimmel, wenn iech und – bien tut. – Ha sol ei gude Hände! – Ha hoat's verdient im miech! – Mei Suhn, sahn's ock, dar koan a ni behal'n – ober fer Ihn, do könnd' an schunt besurga – und eim Stolle könnd' ha au blei'n! – Se war'n Ihre Freede oan 'm hoan! – Ha hoat Menschaverstand! – Und ei enner lechta Kutsche, da leeft ha au immer no – ganz – risch! – Hä, wull'n Se? –«
In ihre schon halb gebrochenen Augen kam das Flehen, das Kinderaugen unwiderstehlich macht. Und ob sich Lohmann gleich sagte, dieser Schimmelhandel sei ein »Schwabenstreich« ohnegleichen, es wäre ihm unmöglich gewesen, »nein« zu sagen.
Da war's, als habe die Seele dieser Lastträgerin nun auch die letzte Bürde abgeschüttelt. Die Leibesschmerzen konnten ihr offenbar nichts mehr anhaben. Still und ohne Stöhnen lag sie mit zur Decke emporgerichteten Augen noch einen ganzen Tag und zwei endlos lange Nächte. Immer bohrender und dabei immer heitrer wurden ihre Blicke, bis sie in den Morgenstunden des grauenden Sylvestertages ein leises Aufstöhnen hören ließ.
Lohmann, den es trotz der frühen Stunde an ihr Bett getrieben hatte, dachte dabei: »Nun hat sie's erreicht: sie hat sich in ihren Himmel hineingebohrt!«
Und als er sich zu ihren Kindern wandte, die zu Füßen und Häupten des Bettes knieten, und in ihren Gesichtern nichts von Schmerz, aber auch nichts von Härte lesen konnte, nur eine ans Neidvolle grenzende Sehnsucht: da faßte ihn das ungemessene Staunen vor der Art Menschengröße, von der es in der Bergpredigt heißt: »Sie wird das Erdreich besitzen!« – – –
* * *
Die Wasner-Mutter ließ Lohmann nicht bloß mit der Unruhe eines ungewohnten Pferdebesitzes zurück.
In den Tagen, da sie auf der Bahre lag, schritt er oft stundenlang, mit seinen Gedanken ringend, in seinem Zimmer auf und ab, wo der Widerschein des leuchtenden Schnees der braunen Ledertapete einen warmen Ton einhauchte.
Gewiß: er hatte schon an vielen Totenbetten gestanden, und der Anblick des Vergehens hatte ihn oft mächtig durchgeschüttelt, auch in den Jahren, in denen seine Weltanschauung sich auf einer ähnlichen hindernislosen, breiten, großstädtischen Asphaltstraße bewegte, wie sie sich die Menschheit jetzt durch alle »Welträtsel« hindurch bauen möchte! Er (Lohmann) war dabei allerdings niemals ein überzeugter Monist gewesen, so wenig wie ein rabiater Materialist, obgleich seine besten Jahre in die Zeiten fielen, in denen sich jeder, der nicht zurückgeblieben erscheinen wollte, als ein wohlgelungenes und ausschließliches Produkt von Kraft und Stoff ansah. So wenig wie das war er überzeugter Sozialist oder Nietzschianer gewesen. Und ebenso wenig wie all das andere ein überzeugter Christ!
Er war, was die meisten Menschen seines Milieus waren: Berufstiger, Ehrenämtler und Gesellschaftsmensch. Daneben etwa noch ein neugieriger Zuschauer der Zeitereignisse und – zur Wahrung einer »persönlichen Note« – der »Kunstschwärmer und Kunstkenner Lohmann«.
Einstmals – ganz früher! – war's auch anders um ihn bestellt gewesen!
In den fragesüchtigen Jünglingsjahren hatte auch ihm die frische und oftmals umsetzende Brise wetterwendischer Begeisterung die Segel gespannt zur Ausfahrt auf den Strom des Lebens. Wie erschien ihm der zunächst so kristallklar! Mit welchem Schauer sah er aus seinen grünen Tiefen die großen Rätselaugen der ewigen Menschheitsfragen auf sich gerichtet!
Warum wurde ihm doch diese Klarheit so bald durch den Schutt des Alltags getrübt? Warum mußte er so bald in der stockigen Bucht eines gesättigten Daseins angetrieben werden, wo die geilen Wassergewächse dem Auge verbergen, was in der Tiefe keimt und ringt?
Hatte er ein Recht, solche »Schickungen« zu tadeln? War er nicht selbst am eifrigsten bemüht gewesen, alles Frage- und Rätselreiche, das durch den Wust zur Oberfläche empordringen wollte, von den Bleigewichten der Bequemlichkeit rasch wieder zum morastigen Grunde hinunterzerren zu lassen? –
Nun aber waren die Stürme gekommen, spät aber doch, und hatten ihn aus seiner phäakischen Bucht wieder hinausgetrieben, und mit Mühe hatte er sich in eine andere, stillere, reinere zu retten vermocht. Aber der Sturm hatte auch losgerissen, was in den Tiefen lag gleich einer ausgelöschten Boje, die ein blinder Unverstand unter Wasser verankerte. Und heimlich in seinem Kielwasser treibend, war's ihm gefolgt, und nun schwamm's oben im Strom seiner Interessen, und nun gab's – das fühlte er deutlich – vor diesen Rätseln kein Entrinnen mehr.
Mit Reginas »leidenschaftstollem Sprunge in ein loderndes Feuer« hatten die Rätselfragen begonnen, am Sterbebette und am Grabe seiner Frau hatten sie sich weiter gesponnen, in den trostlosen ersten Monaten der grauen Einsamkeit hier hatte er über ihnen gebrütet, und nun sah ihn fremd und fragend der Geist des Wasner-Hauses an!
Fürwahr: ein fremder Geist!
Und entfremdet allem, wonach das zage Menschenherz schreit, und so voll heldenhafter Stärke, zu gleicher Zeit eiskalt und in Fanatismus glühend, abstoßend-erkältend und doch so brüderlich einend! –
Warum vertrat ihm gerade ein solcher Geist den Rest des Lebensweges, ihm, der mit Bewußtsein allem »religiös-exzentrischen Wesen« aus dem Wege gegangen war?! – –
Er war in diesen Dingen stets ganz »neutral« geblieben. Und wenn er überhaupt einmal »an so was« gedacht hatte, erfreute es ihn, daß er sich darin von den andern nicht unterschied. Sie waren ja alle »religiös neutral«. Sie begnügten sich ja alle mit einer »anständigen Kirchlichkeit«. Abweichungen von dieser Art wären für alle Teile nur unbequem gewesen. Aber es gab wohl wenige unter ihnen, die sich ohne Empörung hätten »ungläubig« nennen lassen!
Und »ungläubig« war auch er trotz der Anfälle monistischer und materialistischer Modekrankheiten so wenig gewesen, wie das Gros derer, die um ihn her von Religion und Atheismus schwatzten.
Sie waren allesamt nichts weiter als »neutral und indifferent!«
»Aber, daß man das bis jenseits der Sechzig sein und bleiben kann, mitten zwischen Kranken- und Sterbelagern,« stieß er hastig im Selbstgespräch heraus, »ist das nicht das größte ›Welträtsel‹?« – – –