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Viertes Kapitel.

Aus Sanitätsrat Lohmanns Tagebuche.

 

15. Oktober 190–.

Ich halt's nicht länger so aus! So ohne jede Aussprache! Dazu habe ich mich früher zu viel und gegen zu viele ausgesprochen, um jetzt einen langen, einsamen Tag um den andern zu durchschweigen und immer nur zu schweigen.

So will ich altmodisch werden und ein Tagebuch anlegen!

Wenn das Scheurig wüßte! Oder gar die Scharfenberg! Die gäbe wohl ausnahmsweise etwas zur Armenkollekte! So, da hat man's! Nur ein Gedanke an diese Ban–. Nicht schimpfen, Lohmann! In diesen Blättern soll jede Erinnerung an die da draußen schweigen! –

Ein Glück, daß wenigstens das Haus nun wohnlich hergerichtet ist! Die Handwerker waren zuzeiten eine förmliche Qual mit ihrer Trödelei. Und doch – es geschah doch wenigstens etwas um mich her, wenn's auch nur Lärmendes war!

Denn diese Stille sonst –!

Sonderbar! Wie habe ich mich manchmal nach »Stille« gesehnt, damals, in der Zeit, der in diesen Blättern nicht gedacht werden soll. Und nun? – Es ist etwas Lastendes in ihr!

Vielleicht auch nur hier!

Das Tal ist zu eng, zu gräßlich einsam!

Und so düster, todestraurig düster!

Und dazu das trostlose Wetter, schon seit Tagen! Grau in Grau! Ein charakterlos gleichförmiger Landregen! Er ist von einer wahnsinnigen Öde! Auch vom Grabe hat er mich verscheucht. Der rote, kalte Tümpel um den rotsteinigen, zerwaschenen Hügel mit den verklebten Wedeln und verwaschenen Kranzwidmungen, ich kann's zunächst nicht mehr ansehen.

Ja, wenn auf all der trostlosen Schwermut wenigstens ein Hauch des weltfernen Friedens läge, wie auf Böcklins »Toteninsel« da über meinem Schreibtisch, um die doch auch todwunde Trauer den schwarzen Fittich schwingt. –

Nicht eher mag ich das Grab sehen, bis neue Sonne lockt. Sie kommt ja doch wohl einmal wieder! –

 

16. Oktober – –

Es regnet immer noch! – Die roten Felder drüben am »süßen Berge« glänzen schon speckig: selbst dieser immer lechzende Steingrus kann nichts mehr aufsaugen. Und der Himmel ist bleierner denn je!

Sein Grau verschlingt jede andere Farbe der Landschaft. Nur die vier Birken droben am obersten Feldrain behaupten sich in ihren herbstlichen Eigenfarben: Weiß und Gold. Die vier weißen Stammstriche wirken schon suggestiv auf mich: immer wieder muß ich vom Schreibtische aus zur Seite und zu ihnen hinaufblicken. Ich bin gespannt, wie ihnen die Sonne zu Gesicht steht!

Gespannt? – Daß man doch immer noch gespannt sein kann! – –

Vor wenigen Wochen, als wir sie droben in den Hochwald betteten, meinte ich, ich könnte nun auf nichts mehr gespannt sein, in mir seien alle Saiten zerrissen. Aber es scheint, so lange man noch atmet, zieht das Leben immer wieder neue auf, auch auf das verstimmteste Instrument.

Geigen soll's geben, einstmals von Meisterhänden gespielt, die die besten Melodien ins Gedächtnis ihres seltenen Holzes verschlossen haben. Und nach hundert Jahren noch, wenn sie das Glück wieder einem Meister in die Hand drückt, strömen sie ihre Melodien in seinen Bogen, und der Meister wundert sich der »Göttergabe«, die ihm »die Stunde« schenkt.

Wie komme ich nur auf diese Mär?

Alte Töne wurden allerdings auch heute in mir lebendig, als ich meine Bibliothek aus den Kisten packte und dort in die langen Regale an der Wand hinter mir einreihte.

Man liest dabei so flüchtig den Titel. Wieviel Verschollenes war doch darunter! Verschollen für mich, und mir doch einstmals so vertraut! Wenn man ein oder das andere Buch aufschlägt, dann dämmert's von Erinnerungsbildern emsiger Lesestunden, und durch den Nebel der durchhasteten Jahre blickt manch bekanntes Gesicht.

Nun will ich mich dranmachen, Altes wieder und Neues dazu zu lesen. Was man wirklich »lesen« nennen kann, so eine Art innerlichen Wiedererlebens meine ich. In den Jahren, da ich »auf der Höhe« stand, habe ich ja dazu keine Muße gefunden. Jetzt habe ich Zeit und Ruhe genug für diese Freude.

»Freude!«

Sonderbar, wie lockend das klingt!

Lohmann, du suchst Freude? Und du hast dich als Leichenwächter hierher gesetzt in die Enge zwischen den schwarzen Waldbergen, und draußen hängt der Himmel wie eine Bleiplatte über dem Tale, und es sind alle Töne ersäuft im endlos rinnenden Landregen und alle Farben zerwaschen bis auf die vier weißen Birkenstämmchen da droben.

Und du denkst an Freude?

Sonderbar! – – –

 

18. Oktober – –

Heute schien die Sonne wieder!

Na ja, der 18. Oktober ist's wert, daß ihn die Sonne bescheint!

Aber wie? Schien nicht die Sonne des Leipziger Tages auf Berge von Leichen und auf einen Jammer, der wenig Seinesgleichen in der Geschichte hat? Und war der Weisheitsspruch des ritterlichen Hohenzollern, dessen Geburtstag der 18. ist, nicht: »Lerne leiden, ohne zu klagen?«

Und ist nicht der 18. Oktober auch Reginens Geburtstag?! – – –

Zum ersten Male seit mehreren Tagen war ich heut wieder draußen am Grabe. Der Regen hat den lockern, niedrigen Hügel fast weggeschwemmt. Bliebe er noch ein Vierteljahr so ungepflegt, man würde schwerlich noch eine Grabstätte in ihm vermuten. Es ist was Grauenhaftes in der Eile, mit der die Natur das Gewesene hinwegräumt, von neuem Leben aufsaugen läßt. –

Vor dreißig Jahren, welcher Jubel bei uns! Endlich – nach jahrelangem Sehnen hatten wir's, was unserm Glücke noch fehlte – das Kind!

Es gibt doch Bilder, die nie verblassen – auch im Gedächtnis! Ich sehe ihr Gesicht noch genau so vor mir, in jedem Zuge, wie damals, als ich ihr das Neugeborene zum ersten Male ans Bett brachte. Sie war noch zu matt, um sich regen zu können. Aber die Augen, diese Augen! Ja, wer's beschreiben und malen könnte, was in solchen Augen liegt, was müßte der uns nicht alles offenbaren können!

Und heut? –

Ich darf nicht dran denken, daß mir diese Augen wahrscheinlich – wenn auch matter – mit ihrem warmen Glücks- und Liebesschimmer noch glänzten, wenn der Jubel des 18. Oktobers vor dreißig Jahren – ungejubelt geblieben wäre. –

 

20. Oktober – –

Meine Frau Wachler geht um mich herum, bis zum Explodieren geladen.

Ich weiß schon, was ihr gutes Herz so zum Platzen erfüllt: sie meint, die Stille hier werde mich so langsam strangulieren.

Und sie hat vielleicht nicht unrecht.

Es muß ihr ja auch verwunderlich erscheinen, daß derselbe Mann, den sie fünfzehn Jahre lang nur im Fluge der Geschäfte oder im Strome der Geselligkeit treibend sah, nun nichts anderes zu tun hat, als vom Fenster aus zu studieren, ob der Bach sich heut schneller überschlägt als gestern, der Rasen in Wasners Garten drüben wieder etwas filziger, sein Blätterdach über Nacht wieder fahler geworden sei, und ob die steile Lehne des »süßen Berges« nicht doch noch langsam zum Rutschen kommen werde, was sie mir von Anfang an zu drohen schien. Denn für die Kritzeleien in dieses Buch wird Frau Wachler ebenso wenig Verständnis haben, wie für meine stundenlange Lektüre.

Seit mehreren Tagen lese ich nämlich viel, lese wirklich und nehme mir gründlich Zeit dazu. Ich fange auch an, mit den Gedanken dabei zu sein. – – –

 

21. Oktober – –

Mir scheint, es will noch einmal Frühling werden! Heut war einer von Uhlands »sanften Tagen.«

Zwar gehöre ich noch nicht zu den Greisen, »die ihrer mild besonnten Flur gerührten Abschied sagen,« aber als »eine Feier der Natur« empfinde ich solche Tage doch.

Es war mir heut, als ich gegen Mittag die kleine, steile Wiese hinter dem Hause emporklomm, als schmelze mir in dieser wohlmeinenden Spätherbstsonne der Panzer ums Gemüt wie eine häßliche, alte, schmutzige Eiskruste in der Frühlingsluft. Im braunroten Hasel- und Buchenlaub des Schattensaumes der Wiese rauschten meine Füße, und als ich, schnell atmend, droben auf der Schneide des »Riegels« stand, war mir's, als müsse ich mich nach jemandem umsehen und ihm winken, daß er sich mit mir freue an dem lachenden Bilde zu meinen Füßen. Man steht da droben wie auf dem First eines Daches: schroff stürzen die Flanken zu den beiden Tälern ab, in die sich drunten bei der Mühle das Dorftal gabelt. Lauschig lugen aus den Bäumen die Schindel- und Schieferdächer herauf, und die Berge verlieren von hier aus viel von ihrer drohenden Starrheit.

Ein Bänkchen fand ich droben auf der »Riegel«-Schneide. Wenn mich die Winter-Einsamkeit nicht aufzehrt, werde ich in den künftigen »sanften Tagen« des Frühlings wohl oft auf diesem Bänkchen sitzen. – – –

 

22. Oktober – –

Heute traf ich den Geistlichen bei meinem Gange zum Grabe. Er konnte nur schlecht einen Unwillen verhehlen. Ich merkte, daß er verletzt ist, weil ich ihn noch nicht besucht habe, und bat deshalb um Entschuldigung: mein Gemütszustand mache mich zur Zeit etwas menschenscheu. Da ward er herzlich, leider auch bald pastorlich!

Von der »Flucht in Jesu Wunden« sprach er und vom »Ausweinen am Herzen Gottes.«

Wie fremd mir solche Töne geworden sind!

 

23. Oktober – –

Heut haben wir ihren Denkstein errichtet.

Ein Porphyrblock aus diesen Bergen ist's, nur an der Vorderseite geschliffen. In seinem matten Braunrot verliert die Goldschrift alles Aufdringliche, aber mir war's, als die Sonne den Stein mit schrägem Lichte traf, als seien die Namenszüge in Blutdurchströmtes eingegraben. –

 

30. Oktober – –

Das Wetter ist wieder entsetzlich. Die Wege sind bodenlos. Über dem Grabe hängt die graueste Trostlosigkeit zwischen den tropfenden Wipfeln.

Ich lese viel, aber muß mich zum Stillsitzen zwingen.

Ist's ein Wunder?

Nahezu vierzig Jahre lang war ich die Hälfte des Tages unterwegs, täglich in einem Dutzend fremder Wohnungen, um drei Dutzend verschiedene Klagen und Erzählungen anzuhören!

Und nun bin ich allein mit mir, mit meinen Gedanken und – zwei Toten! – –

 

1. November –

Meine Frau Wachler hat recht: ich muß zunächst nochmal von hier fort, nochmal in die Welt, und wär's auch nur auf kurze Zeit!

Der Wechsel war zu schroff, zu ungesund!

Morgen reise ich! – – –

Wann werde ich wieder in dies Buch schreiben? – –


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