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Sechstes Kapitel.

Wieder aus Lohmanns Tagebuch.

 

10. Dezember –

Früher als ich dachte, kritzle ich wieder in diesem Buche. Man will doch in irgend einer Weise sich selbst loswerden! Und eine andre gibt's wohl kaum noch für mich als diese papierene!

Auch mit dem Reisen war's nichts.

Man kann sich selber ja nicht zurücklassen. Und merkwürdig: im Trubel »Unter den Linden« zog's mich wie mit Händen in dieses stille Tal des Todes; denn das bedeutet's doch eigentlich für mich.

So kehrte ich schon gestern wieder »heim«!

Und ich fand das Tal im Leichentuche.

Aber das abgestorbene in seiner weißen Hülle ist schöner, als das Absterbende war in seiner unsagbaren Traurigkeit.

Welch eine Helligkeit strahlt mir heute der Schneehang da drüben aufs Blatt! Kaum, daß ich die Stämme meiner Birkenfreunde droben vom Hintergrunde zu unterscheiden vermag. Und als ich die vorige Seite schrieb, graute der Abhang wie ein Verhängnis über mir! – Der Gang zum Grabe, heut in der Frühe, war für mich alten Knaben eine Entdeckungsreise in ein unbekanntes Märchenland.

Ich war ja mein Lebtag noch niemals so recht wirklich im winterlichen Hochwalde! Wunderlich genug, aber ich stehe, glaube ich, darin gar nicht so vereinzelt da.

Als ich heut im »süßen Grunde« die schneebewuchteten Tannen anstaunte, wurde eine lichte Kindheitserinnerung in mir ausgelöst: der Weihnachtsbaum, dessen grünes Gezweig unsere gute Mutter so kunstvoll mit weißer Baumwolle zu belegen wußte. Heut standen sie zu hunderten um mich, den glitzernden Weg entlang, die erinnerungsschweren Weihnachtsbäume der »seligen Zeit!«

Mir ward schier jung ums Herz, wie ich so unter den überhängenden Ästen hinschritt, wo durch Weiß und Grün das Himmelsblau mit leuchtender Pracht mich anlachte. Gleich einem wunderlichen Mummenschanze sah ich Baum an Baum den Hang entlang sein weißes Schneegewand in tausend Formen falten. Aber es war nichts Geisterhaftes in dem Reigen; denn über die bleichen Gewänder streute die Sonne mit verschwenderischer Hand das buntfarbigste Edelsteingefunkel aus. – Die »Glasehütten«-Häuser atmeten unter ihren hohen Schneehauben das Behagen des dämmernden Winterschlafes, und auch den Hügel unter dem Kruzifix umfloß die weiße Hülle mit so weichem Linienfluß, als sei nun alles, alles ausgeglichen, als solle mir keine seiner Kanten mehr die Seele wundstoßen. – Ich stand und sah und staunte, bis mich fror, tief ins Herz hinein.

Ich hatte vergessen, daß wir auf dieser Erde nichts ohne Preis haben können. Und wenn Du keinen andern mehr zahlen kannst, bankrotter Genießender, so mußt Du wenigstens frieren, frieren in der kalten Pracht, die auf den Wunsch- und Tatenlosen niederrieselt. – – –

 

11. Dezember –

Wieder ein krystallener Tag!

Die Mittagssonne lockte mich zum Riegelbänkchen hinauf. Geblendet schloß ich zunächst die Augen, als die Schneehänge beider Äste des Tals Millionen von Lichtpfeilen nach ihnen schossen. Aber als ich sie mit der Hand beschattete, hauchte mir das Dorf zu meinen Füßen den Odem unnachahmlicher Traulichkeit entgegen, der winterlichen Wohnstätten entströmt, wenn die Kamine dampfen, die Fenster auftauend glitzern und grüne Moospolster zwischen den Scheiben sich blähen als wachsame Hüter vor dem schleichenden Froste.

Vom Hange drüben, wo's zu den »Dreiwässern« geht, scholl durch die klingend klare Luft das Jauchzen schlittenfahrender Kinder zu mir herüber, und ich unterschied genau, was die jubelnde Schar sich zurief von den Freuden der sausenden Fahrt. Wie schwarze Käfer, die ein umsichtiger Sammler auf ein fein säuberlich ausgebreitetes Tuch herabgeschüttelt hat, krabbelten sie auf dem Abhange umher.

Ich hatte ihrem Wimmeln, Hasten, Gleiten und Fallen schon einige Zeit amüsiert zugesehen, als plötzlich eine einheitliche Bewegung der Spannung in die bunte Schar kam, und – »Fräulein Marianne!« so klang es im geschlossenen Freudenschrei und mehrfacher Wiederholung herüber. Hinter den Häusern drunten am Bache aber sah ich bald darauf zwei schlanke Frauengestalten in dunkler Kleidung auftauchen, beide fast gleich groß, wohl aber von verschiedenem Alter. Eine, offenbar die Jüngere, zog hastig einen Sportschlitten hinter sich her und eilte schneller auf die jauchzenden Kinder zu in einem eigentümlich wiegenden Gange. Die Kinderhorde aber glitt als unförmiger Knäuel, mehr neben als auf dem Schlitten, der Schlanken entgegen.

Wie eine schon oft genossene Wiedersehensfreude nahm sich die Begegnung aus. Keiner von den Schreihälsen wollte mit seinem Händedruck zu kurz kommen. Schließlich erhob sich eine hitzige Balgerei um die Schnur des Schlittens, den das Fräulein zog, und die Begönnerte, sich lustig im Kreise drehend, ließ ihre Schnur nur fahren, um sogleich ein kleines, drollig-dickes Mädchen in einer unförmlichen roten Kapotte zusamt ihrem Schlitten bergan zu ziehen.

Hie und da hatte ich auch ein silbernes Lachen erhascht, das aus dem Schwall der Kinderstimmen wie ein lustiger Spritzer heraussprang und durch die klare Luft bis zu mir heraufhüpfte.

Und es war mir, als hätte ich dies Lachen schon gehört, und auch die Art, wie die schlanke Gestalt sich elastisch und sehnig leise in den Hüften wiegte, war mir wie ein bekanntes Bild in fernen Nebeln.

Die beiden Frauen müssen im Tale ansässig sein, sonst wären die Weberkinder nicht so vertraut mit ihnen. Bodenständig aber sind sie nicht!

Ist's Mutter und Tochter? – Mehr fast scheint mir, daß es Schwestern sind.

Ob's auch Weltflüchtlinge sind gleich mir? – Lohmann, alter »Abgestorbener«, woher auf einmal so viel Neugier um zwei Frauen? – – –

 

12. Dezember, mittags –

Nein, es sind nicht Schwestern!

Es ist Mutter und Tochter!

So viel sah ich auf den ersten Blick, als ich ihnen heut morgen auf meinem Friedhofgange begegnete, trotzdem die ältere plötzlich ihre Muffe vors Gesicht hielt.

Warum tat sie das?

Wohl ohne Absicht, denn die Tochter sah mich ungeniert, groß und forschend an. Und doch nicht neugierig. Aber teilnahmsvoll, wohltuend teilnahmsvoll! Ich mußte unwillkürlich grüßen.

Welch sympathisches Gesicht voll Herzensgüte!

Mir ist, als müßte ich's schon lange kennen. Und auch das der Mutter, der sie übrigens nur im Wuchse gleicht.

Besonders die Augen der Mutter – wo sah ich die schon? – Sie hatten – schien mir – einen schreckhaft-hilflosen Ausdruck.

Wer sie wohl sein mögen?

Frau Wachler weiß es gewiß. Aber ich scheue mich, sie zu fragen. Sie braute mir da wohl gleich eine Bekanntschaftssuppe zusammen. –

Aber ich will nicht Verkehr und Bekanntschaft! – –

Von meiner Reise wollte ich noch allerlei nachtragen.

Abends vielleicht! Jetzt will ich noch ein Stück stapfen, durch den hohen Schnee in die Dreiwässer hinein, womöglich bis zur »Buche« hinauf.

 

Abends –

Nun weiß ich, wer sie sind.

Elisabeths Tochter! – Elisabeth selbst!

Mußte sich das gerade so schicken? –

Nun werde ich meinen Stab doch wohl weiter setzen müssen!

Schade!

Eigentlich doch schade!

Ich fing an, hier leise einzuwurzeln.

 

13. Dezember –

Nun weiß ich auch, wie's ist, wenn wir Toten erwachen!

* * *

Was trieb mich heut gegen Mittag auf den Riegel hinauf und hieß mich, mein Glas mitnehmen?

Wollte ich nur das lustige Treiben auf der Schneebahn drüben recht genau besehen können? – – –?

Zur selben Stunde wie gestern und vorgestern kam Marianne mit ihrer Mutter, von den Schreihälsen wieder im Triumphe empfangen.

Zweimal war sie auch schon inmitten ihrer Korona zutale gesaust und klomm eben zum dritten Male auf der glatten Rutschbahn bergan. Da kam weit droben einer der schweren Lastschlitten, mit Langholz beladen, aus dem Walde heraus. Es ist eine halsgefährliche Sache für Pferde und Kutscher, mit solcher Last auf solcher Bahn talwärts zu fahren. Es wäre auch kaum möglich, wenn nicht die langen, schweren Schlepphölzer an den starken Ketten nachgeschleift würden.

Wie besessen schossen die beiden Stämme hinter dem Schlitten auf der glatten Fläche hin und her und prallten dabei aneinander, daß der Donner davon im ganzen Tale zu hören war.

»Wehe, wenn jemand von ihnen getroffen würde!« dachte ich, und mir ward bange um die Schlittenfahrergesellschaft. Aber mit Beruhigung sah ich, daß sie die Gefahr kannten, die hinter dem Schlitten herdonnerte. Die Kinder drückten sich weit seitwärts und drängelten sich über die Bahn hinaus bis in den hohen Schnee hinein. Und mitten unter ihnen stand mit wachsamer Aufmerksamkeit ihr »Fräulein Marianne«.

Elisabeth aber stand drunten harrend zur Seite. –

Schon ist, wie ich, durchs Glas spähend, beruhigt konstatiere, das gefährliche Fahrzeug beinahe an der Schar vorüber, da faßt einer der weit über den Schlitten heraushängenden Tannenäste den Schlitten eines der kleinen Mädchen und reißt ihn mit sich. Aufschreiend stürzt die Kleine dem talwärts Entgleitenden nach, bleibt aber, wie ich mit Herzstocken sehe, hinter dem Lastschlitten bald zurück, und wenn sie nicht von ihrer blinden Verfolgung läßt, muß sie von den nachtanzenden Schlepphölzern zermalmt werden.

Da ein zweiter Aufschrei!

Es ist Mariannens Stimme.

Mit lähmendem Schreck sehe ich, wie sie dem Kinde nacheilt, es am Röckchen faßt und seitwärts in den Schnee schleudert. Dabei aber stockt sie im Laufen, und gerade in diesem Augenblick trifft sie das Schleppholz seitlich: sie bricht lautlos zusammen – – –.

Ich weiß nicht, wie mir's gelungen ist, trotz des hohen Schnees in meinem langen Mantel so schnell in weiten Sprüngen den Riegel hinabzustürzen und jenseits der Dorfstraße ähnlich rasch bergan zu eilen.

Es war wohl nicht bloß diese Anstrengung, die mir das Herz so stark klopfen ließ, als ich – endlich und noch viel zu langsam nach meinem Gefühl – nun neben der todblassen Mutter kniete, die den Kopf der bewußtlosen Tochter im Schoße hielt und sich ratlos umblickte.

Einen Augenblick sahen wir uns scheu und starr an; dann aber war's, als seien all die Jahrzehnte weggewischt, die zwischen heut und der Zeit liegen, da wir auf den Oderdampfern die süße Einsamkeit zu zweien suchten.

»Elisabeth,« sagte ich leise (fast hätte ich sie wie ehedem mit »Du« angeredet), »darf ich helfen?« Und als etwas starr Abweisendes in ihre Blicke und Mienen kam, setzte ich hinzu: »Als Arzt nur, selbstredend!«

Da nickte sie stumm, und weil ich mindestens einen Beinbruch bei der Ohnmächtigen voraussetzte, galt mir's, sie so schnell als möglich nach hause zu bringen.

Mit den Lenkschnüren knüpfte ich in fiebernder Eile einige Kinderschlitten zusammen zu einer Fläche, breit und lang genug, Mariannen ausgestreckt darauf zu betten. Das Tuch Elisabeths unter dem Kopfe, mit meinem Mantel zugedeckt – welche Zusammenstellung! – ließen wir sie langsam talwärts gleiten und schoben sie dann auf der Dorfstraße hinab bis zu ihrem schmucken Wohnhause, das hier kurzweg die »Villa« genannt wird.

Mehrmals wachte sie dabei aus ihrer Ohnmacht auf, fiel aber immer wieder, infolge der unvermeidlichen Erschütterung in neue Bewußtlosigkeit.

Mir machte der Gedanke Sorge, wie wir sie wohl ins Haus hinein bringen sollten. Aber diese Sorge war unnütz.

So kurz die Fahrt dorfabwärts war, folgte uns doch ein ganzer Kometenschweif von wehklagenden Weibern. Und auch männliche Gestalten gesellten sich zu ihnen in sichtlicher Hilfsbereitschaft.

So zuerst ein kahlköpfiger Schuster von rechts der Straße her. Ich hörte ihn »Völkel« nennen.

Erschreckt faltete er seine pechigen Hände über dem ledernen Brustlatz und sagte pathetisch, die Augen stark verdrehend: »Welchen der Herr lieb hat, den züchtiget er! Und diese unse christliche Mitschwester hoat er gewißlich und wahrhaftig lieb. Verlechte – ma weeß ju nich – verlechte kimmt's uf die Oart bein'r zum Durchbruche der Gnade.«

Ich sah ihn verständnislos an. Erst später erfuhr ich, was er meine, er sei eben »der Baptistenschuster«.

Kaum hatte er seine Salbaderei beendet, da hörte ich, während wir in seinem Geleit langsam weiter fuhren, eine der Frauen rufen: »Nee, do satt ock, do schlät's wull dreizah! Do kimmt ju goar au d'r Bunzel-Schneider mit somst se'm Ernste geluffa. Eim holba Viermittige vo der Arbeit weg! Doas ies ei zahn Joahr'n ni zweemol geschahn. Doas koan sich inse Freil'n Marianne goar tulle recha!«

»Schoade ock, doas se's ni sitt!« pflichtete eine andere bei, und ich dachte dasselbe in Hochdeutsch, während ich den beiden Fanatikern der Arbeit gespannt entgegen sah, die in bloßen Hemdsärmeln den kurzen Wiesenweg zur Straße heraufgelaufen kamen und bescheiden fragten, ob sie wohl etwas helfen könnten. »Bartsch-Mariechen«, die mit auf der Schlittenbahn gewesen sei, hätte ihnen eben die Schreckenspost brühwarm gebracht.

So waren Hände genug da, die Kranke in ihr keusches Stübchen hinaufzutragen, in dem eine Reinheit von innen herausleuchtete, sanft, aber doch so stark, daß es auch den frommgeschwätzigen Schuster verstummen machte.

Dann habe ich die Verunglückte untersucht, und als ich meine Vermutung bestätigt fand, in Eile mein Verbandzeug geholt – ein guter Geist spielte mir die Kiste, in der es noch vernagelt stand, sogleich in die Hand – und dann unter Assistenz der tapfern, immer still in sich hineinweinenden Mutter den Notverband angelegt.

Und dann haben wir am Bette der Kranken gesessen und wortlos geharrt, wann sich ihr Bewußtsein wieder dauernd einstellen werde. – –

Wie doch das Leben mit dem Menschen spielt!

Wie mit Marionetten! –

Elisabeth und ich am Krankenbett von Elisabeths Tochter angstvoll harrend! Und hier, im verschneiten Laubnitzer Tal unter den Webern und Holzschlägern! Also eigentlich zu zweien allein! Dreißig und einige Jahre nach dem schroffen Bruche, der – wie ich glaube – ihr eben ein so großes Rätsel ist wie mir! – – –

Ob wohl auch ein ähnliches Verwundern durch ihre Seele ging über die fratzenhafte Narretei, die sich das Leben zuzeiten mit uns Menschlein gestattet? –

Zunächst wohl kaum!

Zunächst hatte sie wohl nur Augen für ihre lilienbleiche Tochter, nur Ohren dafür, ob nicht das Herz zu neuen Schlägen ausholen wolle, das ihr wohl leicht jedwedes andre Herz ersetzen konnte.

Und ob sie gleich in verzehrender Sorge vor mir saß, erfüllte mich doch dieser Anblick mit qualvollem Neide: ich dachte an mein einziges Kind, und was es mir getan, und dachte ihrer, die da draußen auf dem verschneiten Friedhofe ruht. –

Und unsicher ward ich, ob ich in diesem meinem Grame nicht als Büßender vor der Frau saß, für die es neben einer solchen Tochter ja keine Bitterkeit geben konnte, was ihr auch sonst das Leben an Blüten und Träumen zerzaust haben mochte. – – –

Ich habe wohl recht damit gedacht!

Denn ich sah nachher, was sich in ihren Augen an dem leisen Rot der Mädchenwangen entzündete, das wie ein Morgenhauch dem langsam erwachenden Bewußtsein voraufglühte. –

Ich stand behutsam auf.

Ob sie mir die ärztliche Obhut über ihr Kind anvertrauen wollte, fragte ich leise; sonst würde ich einen der Gersdorfer Kollegen sogleich bestellen lassen.

Kurz nachsinnend, blickte sie zu Boden. Dann sagte sie leise: »Es war wohl Fügung so. Ich scheue mich, ihr zu widerstreben. Wenn ich also bitten dürfte – –«

Ich ließ sie nicht zu Ende reden, sondern sagte zu.

Dann ging ich, alles zum endgültigen Verbande zurecht zu machen.

An der Tür reichte sie mir mit schnellem Impulse die Hand.

»Ich danke Ihnen, Ge–!«

Da merkte ich, daß sie meinen Vornamen mit Gewalt unterdrückte, den ich so oft und mit so ganz anderm Klange einst von ihren Lippen rinnen hörte. – – –

So also ist's, »wenn wir Toten erwachen«!


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