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Zwölftes Kapitel.

Am andern Tage saß Lohmann gleich nach dem Mittagbrot lesend in seinem Zimmer, als die Haustürklingel gerührt wurde und nach einiger Zeit nochmal und zum dritten Male.

Da erst erinnerte er sich, daß er allein im Hause, Frau Wachler mit dem Mädchen aber ausgegangen sei zu Besorgungen. Und so stand er auf, um selbst draußen nachzusehen.

Als er die Haustür öffnete, stand da ein schiefgewachsenes Männchen mit einem Vogelgesicht. Schräg von unten her lugte seine vorn etwas zahnartig umgebogene Nase unter einer Stahlbrille hervor zu dem stattlichen Sanitätsrat hinauf. Der mußte dabei an die drolligen Kopfbewegungen eines gefiederten Wendehalses denken, dem er jüngst im Walde amüsiert zugesehen hatte. Eine mächtige schwarze Ledertasche, mehr schon ein Koffer, lastete mit einem breiten Riemen auf der rechten Schulter des Männchens, wohl schon ein kurzes Menschenalter; das bewies Lohmann der medizinisch höchst kränkende Anblick, wie diese Schulter in unproportionierter Weise »herunterbaumelte«. Unter dem Riemen aber zog sich auf dem groben Rocke ein breiter Lederbesatz von der rechten Schulter bis zur linken Hüfte hin, um dort in einer breiten Fläche der scheuernden Wirkung von Riemen und Tasche einen dauernden Widerstand zu bieten.

»Siehe da: das Band eines ›Schwarzen Adlerordens der Arbeit‹!« dachte Lohmann amüsiert bei diesem Anblick. »Ein wohlverdientes offenbar!« setzte er bei sich hinzu; denn die spiegelblanke Fläche des Besatzes wies auf eine jahrelange mühsame Schlepperei mit der schweren Tasche hin.

»Speis'am! Speis'am!« nickte freundlich das Männchen und fragte mit einer Stimme, die zu der Nase paßte, nach der Frau Wachler.

Als der Kleine erfuhr, sie sei ausgegangen, und auch das Mädchen, zuckte eine sanguinische Verdrießlichkeit über die Hautfalten des muskelbaren Gesichtchens, und Lohmann beobachtete amüsiert, wie das Männchen auf seinen beiden dünnen Beinchen in immerwährender leichter, steifer Kniebeuge hin- und hertrippelte und dabei den kleinen Vogelkopf unter dem zerknüllten Schlapphute ruhelos nach rechts und links drehte.

»Der vollendete Wendehals!« dachte er wieder, und es mußte wohl etwas von seinem innerlichen Vergnügen durchgeleuchtet sein; denn der Kleine wurde auf einmal zutraulich und fragte, ob der Herr Sanitätsrat nicht vielleicht ›die große Güte und freindliche Gewogenheit haben wollten und so gut sein möchten, der geehrten Frau Wachler hier die Hefte freindlichst abzugeben, wenn er bitten dürfte.‹

Und dabei schlug er mit einem Ruck, der wie alles tausend mal Geübte sein unnachahmlich selbständiges Gepräge hatte, den Deckel der Tasche nach oben, klemmte ihn mit seinem spitzen Kinn fest und kramte mit spinnendünnen, verkrümmten Fingern zwischen einer Anzahl schwefelgelber Hefte herum, bis er zwei von ihnen aus der Tiefe der Tasche herausschwang und Lohmann mit dem freundlichsten Grinsen der Welt entgegenhielt.

»Es sind die letzten zwei Lieferungen, die 29. und 30.!« erklärte er nickend, »'s Geld hole ich mir 's nächstemal mit. 's pressiert mer nich bei der geehrten Frau Wachler.«

Lohmann hatte inzwischen mit Staunen die Titelzeichnung des Heftes angesehen. Sie stellte offenbar eine schwüle Orgie in einem großen Lagerzelte dar.

»Marja Borisowna, die Kosakenbraut«, las er, oder »In den Lusthäusern von Mugden«.

Ah, also ein Hintertreppenroman! Hier in Laubnitz! Und bei seiner Frau Wachler!

Lohmann bekam Lust, mehr zu erfahren; deshalb sagte er mit leichter Verstellung: »Ich will Ihnen lieber gleich das Geld mitgeben. Bitte, kommen Sie herein!«

Der Kleine stelzte mit merkwürdig harten Schritten hinter Lohmann her. Denn weil er gar kein Gelenk in den Knien zu haben schien, setzte er immer den ganzen Fuß bei jedem Schritte auf.

Lohmann hatte Mühe, ihn in sein Zimmer hinein und zum Sitzen zu bringen, während er scheinbar lange nach Kleingeld suchen mußte. Schließlich aber verbarg dem Männchen das Schmeichelhafte der Situation das Bedenkliche, was sie anfangs gehabt hatte, und neugierig wendhalste es ruckweise an den Wänden des Zimmers umher nach den Bildern und Büchern.

Lohmann fragte leichthin nach dem Absatz der Schriften hier in den Waldtälern.

»O, ich danke!« nickte der Kleine, »'s macht sich. Hier draußen is nich viel. Da sind die Leute nich für's Lesen. Eins is zu dumm, und 's andere is 'n Mucker und tut fromm! Da is bloß die Hebamme und dann die Töchter vom Brettschneider, weil die in Berlin gedient haben, verstehen Se! Und dann hier die Frau Wachler.«

»So? Und die meisten Leser haben Sie wohl da –«

»In Gersdorf!« nickte der Kolporteur eifrig. »Unter den Fabrikwebern. Die sind meine besten Kunden. Auf die ›Marja Borisowna‹ habe ich in Gersdorf zweihundert Abonnenten.«

»Nicht möglich!«

»Was ich Ihnen sage, Herr Sanitätsrat! Zweihundert! Beim vorigen hatte ich gar fünfhundert. Das war aber auch 'ne pikfeine Sache! ›Die Opfer des Wüstlings‹, oder ›Graf Sadi, der grausame Liebhaber‹ hieß es. Und als Prämie gab's zwei hochfeine Ölgemälde in echt imitiertem Gold-Barock-Rahmen.«

»Und der Umfang?«

»Sechzig Hefte, à zwanzig Pfennige, inklusive Prämie, bestehend in zwei Ölgemälden, in echt imitiertem Gold-Barock-Rahmen.«

»So, so!« nickte Lohmann und unterdrückte einen Ausfall auf den ›horriblen Preis solchen Schundes‹; denn er sah's dem Mienenspiel des Kleinen an, daß der mit einem großen Entschlusse rang.

»Hm, hm –!« hüstelte er. »Ich weiß wohl, daß sich die Herrschaften mit so was (er deutete auf seine Tasche) nicht gern nahe kommen lassen. Und der Herr Sanitätsrat haben ja, wie ich sehe, schon eine recht ansehnliche Bibliothek (hier führte er, sich auf beide Arme stützend, eine kleine Karusselfahrt auf dem Stuhle aus). Aber – hm – wenn sich der Herr Sanitätsrat vielleicht trotzdem interessierten –«

Mit raschem, kühnem Entschlusse führte er wieder den charaktervollen Aufschlag des Taschendeckels aus, und, nachdem er ihn wieder unter sein spitzes Kinn geklemmt hatte, wühlte er hastig-vorsichtig mit beiden Händen zwischen den Heften umher, bis er schließlich mit entschlossenem Schwunge Lohmann ein knallrotes Heft entgegenhielt.

»Nummer Eins des neuesten Romans in zwanzig Lieferungen, à zwanzig Pfennige, inklusive Prämie, bestehend in zwei Büsten » La Guerre« und » La Paix« (er sprach jeden Buchstaben deutsch aus) in echt Elfenbeinmasse. Bei die andern übersetze ich immer noch die lateinischen Namens; bei Sie wird das ja aber nicht notwendig sein, Herr Sanitätsrat.«

Lohmann verbeugte sich und brachte ein geschmeicheltes Lächeln zustande, obwohl er tatsächlich bei dieser Aussprache erst hinterher den Sinn der Fremdwörter ergründete. Er nahm dem Männchen das Heft aus der Hand und las: »Die deutschen Pflanzer von Otjimbingwe« oder »Fremde Blutschuld am Oranje.« Dabei überlegte er, daß es nicht ohne Nutzen sein könne, einmal diese Art Speise zu kosten, an der sich so viele Kinder des Volkes Geschmack und Phantasie verderben.

Und so abonnierte er auf »Die fremde Blutschuld am Oranje«, inklusive der Prämien in echt Elfenbeinmasse.

Die erste Lieferung blieb gleich in seinen Händen, und als der kleine Wendehals zur Tür hinausgestelzt war, ob dieses Abonnenten so stolz wie ein Zeitungsverleger, der sich eben den hunderttausendsten Mitleser seines Blattes notariell beglaubigen ließ, setzte sich Lohmann sogleich an die Lektüre des roten Heftes.

Und trotzdem er damit in einer reichlichen Viertelstunde bereits zu Ende war, hatte er doch schon zwei Kinderraube, eine Schändung und mehrere Farmen-Brände nebst sechs Busch-Gefechten mit durchleben müssen. Schon auf der vierten Seite gab er's auf, die Morde zu zählen, und als er das rote Heft weglegte, sah er scheu an sich hinunter, wie tief er eigentlich mit den Knöcheln im Blute stünde.

In sein grelles Auflachen über diesen »haarsträubenden Blödsinn« mischten sich aber Zorn und Mitleid in gleichen Dosen. Denn schon dies erste Heft dieses neuerscheinenden »Romanes für das arbeitende Volk« wirkte sicherlich wie ein schleichendes Gift der bedenklichsten Sorte.

»Ja, ja!« murmelte er vor sich hin, »das ist auch eine von den aktuellen Fragen, die die da draußen beschäftigt, zu deren Lösung man sich zu Kommissionen, Gesellschaften und Vereinen zusammenschließt – ich glaube, ich gehöre auch einem seit Jahren an! – aber wer hat Zeit und nimmt sie sich, zunächst mal selbst die Würmer zu betrachten, die da am besten Marke nagen? Kann aber bei solchem Obenhin wirklich etwas Erfolgreiches dagegen geschehen?«

Er versank in tiefes Grübeln.

Vieles, was er in seinen »Zeitungsjahren« über die geeigneten Mittel zur Bekämpfung der »Schundliteratur« gelesen hatte, kam ihm in Erinnerung, und es war ihm momentan unterhaltsam, sie alle einmal der Reihe nach auf ihre Brauchbarkeit zu prüfen. Schließlich kam er zu dem Ergebnis, alle Heilmittel würden nichts helfen, wenn »der Mann aus dem Volke« die guten Tränklein, die man ihm anbot, nicht einnehmen mochte. Und so werde es wohl zunächst darauf ankommen, ihm den Löffel an den Mund zu setzen.

Dazu aber gehörte, das wußte er aus seiner Praxis, persönliches Nähertreten.

Und wie er so das und Ähnliches bedachte, da schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, er müsse schleunigst einmal mit dem alten Lanz und seiner klugen Frau besprechen, was man wohl tun könne, die braven Gersdorfer vor dieser »Blutschuld« zu bewahren.

Und im Geiste sah er sich schon wieder an dem urbehaglichen Kaffeetische der Direktorin sitzen und die Sache mit ihr besprechen. Er sah die Wolke des verständnisvollsten Mitleids über ihre lichte Stirn streichen und hörte Lanz seine markanten Verurteilungen dazwischen werfen, und auch Mariannens schöne, warme Augen sah er mit der bangen Frage auf sich gerichtet: »Mein Gott, besinnt Ihr Euch da noch lange? Warum habt Ihr diese Pest so lange landum schleichen lassen?«

Lohmann sprang erregt auf.

Ja, konnte man denn mit sehenden Augen so was noch weiter seinen Gang gehen lassen? Begann nicht, wenn man's erst sah, so was wie eine sittliche Verantwortung, da auch einzugreifen? Und wär's nicht schließlich auch ein interessantes Ringen, in dem man dunklen Mächten mit solchen Waffen begegnen konnte, die ihrem Träger selbst zum schönsten Lohne wurden?

Woher aber Genossen nehmen zu dem Streite, den ein einzelner schwerlich durchringen konnte?

Er grübelte wieder, und auf einem weiten Umwege, der um Pfarrer- und Lehrerhäuser, um die Buchdruckerei und ihre bescheidene Buchauslage strich, zog's den Suchenden doch am Ende wieder wie mit unsichtbaren Händen hin zu dem trauten Zimmer im Waisenhause mit seiner heimlichen Plauderecke.

Schließlich gestand er sich's selbst ehrlich genug ein: »Wenn ich Hand anlegen soll auf diesem mir vielleicht gut gelegenen Felde, dann will ich's nur tun, wenn ich den Rat der beiden Alten hinter mir weiß, und wenn die Junge nicht müßig zur Seite steht, und täte sie auch weiter nichts, als mit ihren warmherzigen Augen das Werk bestrahlen!«

An Frau Elisabeth dachte er nicht. –

Und auch das Schicksal der fernen Gebrochenen lastete nicht mehr wie ein Alp auf ihm, seit er sich gestern endlich einmal zu jemand darüber hatte aussprechen dürfen.

Dennoch fiel es als abkühlender Schatten auf seinen jungen Tatendrang, als er ein knappes Stündchen später Gersdorf zufuhr. Da ließ sich ja die Erinnerung gar nicht abweisen, wie er sich noch gestern, als er dieselbe Straße fuhr, als einer erschienen war, den eine rauhe Wohltäterhand aus verbitternder Schwermut herauszureißen suche. Gestern noch hatte er sich das mit dem weltschmerzlichen Lächeln des Hoffnungslosen gefallen lassen, und heute drängte es ihn schier unaufhaltsam zu denselben Menschen hin.

Einen Augenblick stand er vor sich selber mit dem zusammengekniffenen Auge des Mißtrauens: »Was willst und suchst Du eigentlich dort?« Sogleich aber fand er die Antwort: »Nun, nichts anderes als Berater und Helfer, wenn ich nun versuchen will, was sie so stürmisch fordern: mich im Wirken für andre wiederfinden!«

Und eine Unterströmung spülte auch das noch zutage: »Dich zieht's zu ihnen, weil du sie gestern zu Mitwissern deines Kummers machtest.«

Und bis der Schimmel vor dem Waisenhause anhielt, ward er nun nicht mehr die Frage los: »Wird sie heute verraten, was sie über Regina denkt?«

Mit »sie« meinte er aber nicht Frau Malwine.

* * *

Diesmal traf Lohmann den Direktor allein an.

Noch ehe er mit einem Worte erklären konnte, warum er schon wieder vorspreche, stieß der Alte in freudigster Aufregung hervor: »Ah, schön, daß Sie kommen! Da hören Sie's gleich mit! Sehen Sie, so ist er! Das ist Einer! Ja, wenn sie alle so wären, könnte niemals ein Streik oder so was drohen! Dann wär's doch gar zu hirnverbrüht!«

Dabei lief er zu dem Stehpulte hin, das am schmalen Pfeiler zwischen den Fenstern im hellsten Lichte stand, und kam, einen Brief gleich einer Siegesfahne schwingend, schnell wieder auf Lohmann zu.

»Da, lesen Sie mal das!«

Es war ein Brief des Kommerzienrates, in dem er Lanz als dem Direktor des Fabrikkrankenhauses mitteilte, daß er eben zwei neue Freibetten gestiftet habe. Es sei ihm heute zumute, als habe er die Fabrik sozusagen wieder zurückerworben. Wenn er nun die Last weitertragen müsse, sei's nur gerecht, daß auch Lanzens Bürde wieder ein wenig vergrößert werde, und das solle eben in Gestalt der beiden Freibetten geschehen.

» Die Beschwerde lasse ich mir gefallen – hi – hi!« kicherte Lanz. »Und brauchen können wir sie da drüben auch sehr, sehr gut brauchen! Was nur Muttchen sagen wird, wenn sie kommt? Was die nur sagen wird?«

Und händereibend schritt er mit kindlicher Heiterkeit in den bärbeißigen Mienen erregt hin und her. –

Wenn Lohmann bei der Erinnerung an die gestrige »Lektion« noch irgend welchen bittern Geschmack im Halse gehabt hätte, jetzt wäre er sicher vergangen, und angesteckt von dem selbstlosen Eifer, mit dem er hier andern dienen sah, von denen schwerlich viel Dank und Gegenliebe zu erwarten stand, begann er nun auch sogleich, seinen Volksbildungsplan zu entrollen.

Lanz hörte ihm schweigend zu. Er hatte sich auf einen der Korbsessel in der »Plauderecke« gesetzt und seine Stirn so tief gesenkt, daß Lohmann seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte.

Das beeinträchtigte aber seinen jungen sozialen Eifer keineswegs, der wie alles, was dieser Mann fühlte, mit raschen Sprüngen die Höhe zu nehmen suchte.

»Meinen Sie nicht, Herr Direktor, daß da noch viel zu tun ist, oder komme ich zu spät?« schloß er erregt.

Lanz richtete sich merkwürdig langsam auf und sagte dann mit leiser Bewegung in der Stimme: »Heute ist 'n Glückstag! Was wird Muttchen sagen? Einen Helfer mehr, und zwei Freibetten mehr! Und Sie sind mir noch lieber, als die Freibetten, Herr Sanitätsrat!« Dabei schüttelte er Lohmann fast den Arm aus dem Gelenk.

»Ihr Plan ist sehr gut!« fuhr er dann ruhiger fort. »Und die Arbeit auf diesem Felde tut not. Geschehen ist schon manches darin. Wir haben bereits eine gute Bibliothek.«

»Ich dachte mir's!« warf Lohmann ein wenig herabgestimmt ein.

»Ich habe sie selbst verwaltet!« fuhr Lanz fort. »Aber sie hat bisher nicht viel Segen gebracht. Ich bin nicht die rechte Kraft zu so was. Habe auch zu wenig Muße. Dazu gehört einer ganz allein. Und Sie, Sie sind geeignet, wie mit der Laterne dazu gesucht.«

Lohmann wehrte bescheiden ab; aber Lanz blieb dabei.

»Und Sie werden auch Gegenliebe finden! Wenn's nur richtig angefangen wird. Unsere Fabrikarbeiter sind für geistige Genüsse wie ein ausgedörrter Sturzacker für einen Mairegen. Die können schlucken, sage ich Ihnen! Gar nicht zum Sattwerden! Wenn nur erst die oberste Kruste durchgeweicht ist. Aber gescheit muß man's anfangen, daß sie nicht kopfscheu werden. Sachte am Anfang! Es muß sich alles scheinbar von selber machen.«

Lohmann stimmte zu und sagte, daß er sehr auf die Unterstützung durch Lanz und seine Gattin hoffe, und bekam zur Entgegnung, sie würden nicht viel mehr als Bindeglieder zwischen ihm und der Arbeiterschaft sein können. Auch von Mariannens Mithilfe wollte er reden; aber da legte sich's wie eine weiche, weiße Hand auf seinen Mund, und er schwieg.

Schließlich begegneten sich beide Männer in der Ansicht, der Sanitätsrat müsse zunächst in aller Stille in Laubnitz Versuche machen, wie man sich am besten an den Einzelnen und an die Allgemeinheit heranpirschen könne.

Für Gersdorf aber meinte Lanz, werde man ohne die tätige Mithilfe der Intelligenz nicht auskommen können. Die Geistlichen und Lehrer müsse man vor allen Dingen zu gewinnen suchen.

Lohmann sann einen Augenblick nach. Dann sagte er, an die Uhr sehend: »Sie haben recht, Herr Direktor! Von der Seite kann uns viel geholfen werden. Ich will's sogleich einleiten und noch heute einige Besuche machen.«

Er ließ sich von Lanz die Namen aller »Honoratioren« von Gersdorf nennen und bat ihn ausdrücklich, den Kreis nicht zu eng zu ziehen. Dann zögerte er noch ein Weilchen – er wartete wohl noch auf etwas. Schließlich aber machte er doch Anstalten zum Aufbruch, und als Lanz gesagt hatte, er hoffe, daß Lohmann den Damen auf dem Rückwege noch »guten Abend« sagen werde, ging er schnell und befreit.

So schickte sich nun der »Laubnitzer Einsiedler« und ehemalige beliebte großstädtische »Modearzt« Lohmann an, im endlosen Gersdorf »Visiten zu machen!« – –

Als er im Dorfe hinaufging, um beim Pastor zu beginnen, hielt er noch einmal zögernd an, und wer recht scharf zu sehen vermocht hätte, etwa so, wie die »begnadeten Okkultisten« zu sehen meinen, den würde die Pantomime in Erstaunen gesetzt haben, die da ein Dreispältiger mit sich selbst aufführte.

Denn da sah der »Einsiedler« mit erstauntem Achselzucken, der »Modearzt« aber mit spöttisch-überlegenen Mienen auf die noch recht unentwickelte Gestalt des »Sozialen« zwischen ihnen herab. Die aber wuchs im Handumdrehen den beiden andern über den Kopf und traktierte sie mit kecken, übermütigen Ellenbogenstößen, bis sie sich von ihm loslösten und auch für den feinen Sinn des Okkultisten verdufteten.


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