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Es war eine furchtbare Nacht, die er nach diesem Ausfluge ruhelos durchwachte.
Und furchtbare Tage folgten ihr.
Es bedurfte ja der Zeilen Elisabeths nicht, die schon nach drei Tagen ihm in freundlichen, kurzen Worten mitteilte, daß sich Marianne mit dem Vikar Stiller verlobt habe. Sie sei sehr glücklich über diesen Herzensbund, setzte sie hinzu. Zwei Pastorenkinder! Es passe alles so harmonisch zu einander.
Er wußte das alles ja schon seit dem Augenblick, in dem ihm Marianne andeutete, daß ihm ihre glückselige Stimmung nicht gelte.
Was aber sollte nun werden?
Ob man ihn durchschaut hatte und seine Spätlings-Leidenschaft?
Früher vielleicht, als er selbst!
Und wie würde man sich zu ihm stellen? – Der Brief Elisabeths, in dem sie ihn zum ersten Male: »Lieber Freund unsres Hauses!« nannte, wies deutlich darauf hin.
Sollte er nun etwa mit ihnen allen jede Beziehung schroff abbrechen, durch feige Flucht aus Laubnitz und von allem weg, was sich hier für ihn angesponnen hatte, selbst die Posaune ansetzen, die seine »Torheit« in alle Welt blies?
Konnte er denn überhaupt weg von diesen Bergen, Menschen und Bestrebungen, die ihn in so kurzer Zeit so fest umgarnt hatten?
War's denn die aufkeimende Liebe zu Marianne allein gewesen, die ihn in die neue Tätigkeit hineingedrängt hatte?
Er war ehrlich genug, sich einzugestehen, daß diese Neigung ein sehr starker Hebel gewesen sei, aber allein, ganz allein an sie knüpften die Fäden doch nicht an, die sich zu einem Netze verstrickt hatten, das ihn nun wohl so leicht nicht wieder frei geben würde.
Er hätte alles gewaltsam durchreißen müssen.
Dann aber mußte er seinen Stab auch weiter setzen und noch einmal an einer andern Stelle einzuwurzeln versuchen. Und dazu würde ihm die Lebenskraft mangeln. Das fühlte er sicher!
Nein, es blieb nur eins übrig: sehen und doch verzichten! Bleiben und wirken! Wirken mit einer Hast, die keine Selbstbesinnung aufkommen ließ. Und wirken an der Seite der Menschen, die alle in so naher Beziehung standen zu ihr, vor deren Bilde seine Seele kniete, und die ihm doch eine verbotene Gottheit sein mußte. Das war wohl schwer. Er konnte es nicht beurteilen, wie schwer. Vielleicht war's sogar unausführbar.
Aber versucht mußte es werden. Flucht in dieser Zeit würde immer als lebendig gewordene Scham ihm zur Seite gehen und ihm den Rest des Lebens verdunkeln.
So wollte er lieber den Kampf wählen, den Kampf mit seinem eigenen Herzen.
»Das blieb mir noch zu erleben übrig!« murmelte er, nachdem er stundenlang mit dem Briefe Elisabeths in der Hand im Zimmer umhergeirrt war. Und er mußte an den andern Brief denken, den letzten, den er von ihrer Hand vor diesem da erhalten hatte. Vor mehr als dreißig Jahren! An jenen »eigensinnigen« Brief mit seinem »Entweder – oder!«
Damals hatte er sich den Kampf mit sich selbst wohl zu leicht gemacht. Zu willig und schnell hatte er sich durch die rüstige Kraft seines jung ansetzenden Berufslebens wegreißen lassen vom inneren Ringen mit sich und ihr. Die Hand, die fest nach ihr hätte fassen sollen, schloß sich nur halb.
Jetzt wußte er, warum sie einst nicht ehern umklammerte, was sie hielt. Hätte ihn damals zur Mutter auch nur ein Ähnliches hingezogen, was heute beim Gedanken an ihre Tochter an seiner Seele riß, er hätte ganz andere Hindernisse übersprungen, als diesen törichten Mädchen-Eigensinn, und wäre ganz anderen Lockungen aus dem Wege gegangen, als sie in Lilli's Hingabe und Reichtum lagen! – Gewiß, es galt jetzt für ihn, Neues zu lernen, Neues zu leisten!
Und wie eine kampfesmutige, wenn auch nicht kampfesfreudige Unrast kam's über ihn, im Wirken Vergessen zu suchen!
Sehen aber konnte er zunächst niemanden dieses Kreises, am wenigsten Marianne. Er sandte einen schriftlichen Glückwunsch und bestellte eine kostbare Blumenspende. Sein persönliches Ausbleiben entschuldigte er mit Unwohlsein.
Elisabeth und die Direktorin verstanden wohl, was das Wort besagte; Marianne wäre im überquellenden bräutlichen Glücksgefühl am liebsten zu ihm geeilt, um zu sehen, was ihm fehle. Sie kam in all diesen Dingen über ein ahnendes Empfinden nicht hinaus. In ihrer weltfremden Seele fehlte es am Modergrunde, aus dem die häßlichen Meltaustauden des Verdachtes aufsprießen.
* * *
Etwa acht Tage nach Mariannens Verlobung kam Lohmann auf einer der weiten Waldstreifereien, zu denen ihn die quälende Ungewißheit trieb, wie er am besten zu handeln habe, zur »Dreiwasser«-Wiese von der »Buche« herab. Er war ganz in Gedanken versunken, auch körperlich matt; denn es war ein erdrückend heißer Septembertag.
Am oberen Rande der Wiese blieb er stehen, und plötzlich sah er im Geiste Mariannen vor sich, wie sie im Frühlinge da vor ihm hingeschritten war, zwischen den Frühlingsblumen hindurch, selbst die duftigste unter ihnen. Das war an dem »Unglückstage« gewesen, als sie mit ihm zusammen den Vikar zum ersten Male sah und hörte.
Wie die Ereignisse dieses Nachmittags noch alle haarscharf in seiner Erinnerung dastanden! Jedes Wort, was sie damals gewechselt hatten, war ihm im Gedächtnis geblieben. Jede Bewegung ihres schlanken, graziösen Leibes hätte er noch malen können! Aber gerade diese genaue Erinnerung zeigte ihm, daß er schon damals – ohne es zu wissen, daß er das Mädchen bereits liebte – ein hoffnungslos Liebender war; er verstand nun auch den rätselhaften Dank, mit dem sie sich verabschiedete, den Dank dafür, daß er in der Rede des Vikars »so viel Abgeklärtes« gefunden habe.
»Sie hat ihn beim ersten Anblick geliebt!« sagte Lohmann in halblautem Selbstgespräch und schüttelte verwundert den Kopf, bis er, zur Selbstbesinnung kommend, murmelte: »Ist dir's denn mit ihr anders gegangen?!«
Da prasselte hinter ihm zugleich Blitz und Donnerschlag nieder, und er wandte sich erschreckt um; denn er hatte im Walde und in schweren Gedanken dahingehend, nichts von dem aufziehenden Wetter bemerkt. Jetzt sah er, weiter auf die Wiese hinaustretend, um den Gipfel des Heidelberges eine rabenschwarze Wetterwolke geballt, aus der es bald unaufhörlich blitzte und zuckte.
Und schon fielen auch die ersten schweren Tropfen, hart wie Schloßen aufschlagend.
Lohmann eilte, das schützende Dach der Waldwärterhütte am unteren Ende der Wiese zu erreichen, aber noch ehe er im Laufschritt bis zu ihr herankommen konnte, war er bis auf die Haut durchnäßt. Der Regen hatte auch die Gläser seiner Brille nahezu undurchsichtig gemacht, und so kam's, daß er in dem wetterdunklen Zimmer des Erdgeschosses, in das er rasch eintrat, zunächst nichts deutlich unterscheiden konnte.
Umsomehr erschrak er, als er seinen hastigen Gruß nicht nur von zwei zaghaften Kinderstimmen, sondern auch von der glückdurchtönten, wenn auch ein wenig verängstigten Mariannens erwidern hörte.
Als er eilig die Brille abriß, sah er sie ganz allein im Hintergrunde des Zimmers sitzen und bange in den fürchterlichen Wettergraus hinausblicken, den der Heidelberg auf die »Dreiwässer« herabschüttete. Lohmann bezwang die Befangenheit, die ihn zunächst Arme und Beine fesselte, und ging auf Marianne zu.
»Fürchten Sie sich?« fragte er, mit der Stimme ringend.
»Ach nein!« entgegnete sie und sah ihm offen in die Augen. »Das nicht gerade! Aber ich ängstige mich wegen Muttchen und um Karl. Die werden sich sehr um mich sorgen. Das Wetter überraschte mich auf dem Spaziergange. Karl –«
Ein knatternder Donnerschlag, scharf und spitz, als würden tausend dünne Eisenbleche mit einem Male zuckend gerüttelt, schnitt ihr das Wort ab. Und es wurde nun unmöglich, sich ohne Schreien in dem Raume verständlich zu machen, um den die wütendste Völkerschlacht zu toben schien. Blitz auf Blitz, Schlag auf Schlag, prasselnd, schrill ohne irgend welches Nachrollen folgten einander wie die Schüsse einer Gewehrsalve. Dazu schoß der Regen wolkenbruchartig auf das Schindeldach der Hütte herab, rauschend wie die sturmgepeitschte See an steiler Küste.
Die beiden halbwüchsigen Kinder hatten sich in die hinterste Ecke der Stube eng aneinander gepreßt und wimmerten leise vor Angst und vor Sorge um die Eltern, die draußen im Walde waren.
Es gab da Augenblicke, die auch ein Männerherz stillstehen lassen konnten, und nach jedem neuen Schlage sah sich Lohmann scheu um, ob nicht die Flammen irgendwo aus dem Balkenwerke des Blockhauses emporschlügen.
Draußen leuchtete am Rande der Wiese einmal eine grelle Lohe auf: einer der schlanken Lärchenbäume brannte wenige Sekunden lang, dann hatte die Regenflut das Feuer gelöscht.
Aber sein Schein war doch durchs Fenster geschlagen. Lohmann sah in ihm Marianne mit gefalteten Händen sitzen, die Augen mit heiterem Vertrauen zur Höhe gehoben. Ihre Lippen bewegten sich leise.
»Sie betet!« dachte er, und es kam über ihn ein aufrichtiges Bewundern. »Wie ein Kind betet sie! Wie merkwürdig, ein erwachsener Mensch, und betet genau wie ein Kind!«
Wohl, er hatte an manchem Sterbebette beten hören, laut und leise, auch von solchen Leuten, die's nicht berufsmäßig tun mußten, und er hatte auch gesehen, wie sich die alte Wasnern mit ihren betenden Augen in ihren Himmel hineinbohrte!
Aber so kindlich beten sah er einen Erwachsenen mit Bewußtsein zum ersten Male. Und eine ferne, ferne Schülererinnerung rief ihm die Worte ins Gedächtnis: »So ihr nicht werdet wie die Kinder, so könnt ihr nicht ins Himmelreich kommen.« Jetzt wußte er, was dieses »wie die Kinder« für den ausgereiften Menschen zu bedeuten habe.
Nun wußte er auch, warum Marianne nichts von dem allen ahnte, was sie in seiner eigenen Seele angerichtet hatte. Und so ward er dieser Gewitterstunde im Waldwärterhause aus tiefstem Grunde dankbar.
Sie half ihm viel Schweres vollbringen, das die folgenden Wochen und Monate von ihm forderten, und das schon in der nächsten Viertelstunde begann. Draußen aber prasselte und wirbelte es, als sollte der jüngste Tag anbrechen. Da huschte ein Schatten an den Fenstern vorüber, und dann wurde rasch die Tür aufgerissen. Ein stattlicher Mann in triefendem Wettermantel erschien auf der Schwelle. »Karl! Karl!« jauchzte Marianne auf, eilte ihm entgegen, und wäre wohl auch an seine Brust gesunken, hätte er nicht mit abwehrenden Händen sie fern gehalten.
»Du schwimmst davon, Schatz, wenn Du mich angreifst!« sagte er heiter, aber nach Atem ringend. »Gott sei Dank, daß Du geborgen bist!«
Jetzt erst erkannte er den Sanitätsrat, und als er die beiden so allein im dunklen Raume sah – von den Kindern bemerkte er nichts – kam eines Herzschlags Länge ein düsteres Staunen in seine Mienen. Niemand konnte es sehen, aber Lohmann fühlte es. Um so tiefer berührte es ihn, daß der Vikar nach ganz kurzem Zögern ihn in einer Weise begrüßte, die frei von jedem Verdachte war. »Er ist nicht so ahnungslos, wie sie,« sagte sich Lohmann selbst, »aber er denkt vornehm. Er ist ihrer wohl wert und – meines Verzichtes wohl auch! Nach dem sie übrigens beide gar nicht fragen würden!« setzte er noch bei sich bitter lächelnd hinzu.
Der Vikar erzählte nun, wie er, von Gersdorf kommend, Marianne nicht daheim, ihre Mutter aber in Sorge wegen des aufziehenden Wetters gefunden habe. Ein Weilchen warteten sie noch; als aber der Gewittersturm losbrach, machte er sich auf, Marianne zu suchen und ihr einen Mantel zu bringen, den er nun auch unter seinem eigenen hervorzog. Im Dorf, wo ja Marianne ein Gegenstand steter Aufmerksamkeit war, hatte man ihm gesagt, sie sei auf die »Dreiwässer« zu gegangen. Er hatte Mühe gehabt, sich gegen den Sturm und Regen das Tal heraufzukämpfen. Die Straße sei zum Teil vom Bache zerrissen. Vor der Waldwärterhütte sei ihm der Gedanke gekommen, Marianne habe sich vielleicht dahin geflüchtet.
Während der Erzählung hatte er seinen Mantel auf dem Trockengestänge am Ofen aufgehängt, und bald schlugen in melancholischem Tonfalle die Tropfen auf die Diele auf. Die beiden jungen Leute aber saßen nun Hand in Hand neben einander in der allmählich wieder licht werdenden Stube, während Lohmann an eins der kleinen Fenster getreten war und scheinbar interessiert zusah, wie der Heidelberg seine kolossalen Schultern langsam wieder aus der schwarzen Wolkenumstrickung herausdrängte.
»Wer auch so über all dem Herzenswust stehen könnte!« dachte Lohmann dabei, widerrief aber seinen Wunsch sogleich; denn er ward sich des Preises bewußt, der dafür zu zahlen wäre: Versteinerung. Leise Koselaute hinter seinem Rücken trafen ihn jetzt wie meuchelnde Dolche, und sie weckten mit einem Male die Erinnerung an das Fiebergesicht, das Marianne am Weihnachtsabend gehabt hatte.
Da war ja eine fast wörtliche Erfüllung.
Sie war ja nun auf dem besten Wege, mit dem ruhig wirkenden Manne auf blumiger Wiese an schöngewundenem Bache zwischen lauschigen Gebüschen in eine liebliche, blaue Lebensferne zu ziehen. Und ihn, der sie mit seiner ungeahnten Leidenschaft zu überstürzen gedroht hatte, wie jener rote Felsen des Traumes, ihn konnte nun der Felsen selbst verschlingen!
Nein, – so weit war's noch nicht!
Verzichten wollte er, gewiß!
Aber noch nicht vergehen deshalb.
Er wollte wirken und im Wirken vergessen!
Und es sollte ihm gewiß nach dieser sonderbaren Begegnung leichter werden.
In immer längeren Pausen folgten draußen Blitz und Donnerschlag auf einander, und das Echo des Dreiwasserkessels kam nun auch auf seine Rechnung: in langgezogenem Grollen gab es der Wetterwolke mürrischen Bescheid. An der Stelle, wo der Heidelberg in der Gesamtflucht des Gebirges wurzelt, kam schon ein schmales Streifchen blauen Himmels zum Vorschein, und mit derselben Hast, in der das Wetter sich von den Bergen in die Täler gestürzt hatte, wirbelte es auch wieder aus ihnen hinaus, der Ebene zu.
Zu Dreien gingen sie, die es wider ihren Willen im engen Raume zusammengeführt hatte, nun das regenglänzende Tal hinab, in das die Sonne bald auch wieder strahlend hineinschien.
Aber auf welche Verwüstung!
Nur eine halbe Stunde war der wolkenbruchartige Guß auf die »Dreiwässer« niedergeschüttet worden, und doch hatte er genügt, den sonst so zahmen Dorfbach zu einem reißenden Strome umzuwandeln.
Hätten nicht frühere schlimme Erfahrungen die Leute zu der Vorsicht gebracht, im obersten Teile des Tales ihre Hütten einige Wegbreiten vom Bache entfernt und an den Abhang der Berghalden zu setzen, diese Weberhäuser wären heute alle von den rollenden Steinblöcken wegrasiert worden, die das gurgelnde Wasser unter Donnergetöse talwärts wälzte. Die Dorfstraße selbst war fast gänzlich verschwunden; Bucht an Bucht und Trichter an Trichter war aus ihr herausgerissen. Lohmann sah, als er mit den andern beiden sich mühsam durch die Wiesen einen Steg suchte, daß auch seinem Logierhause die Gefahr gedroht hatte, weggespült zu werden. Wären sie nur eine Viertelstunde später aus der Waldwärterhütte aufgebrochen, hätten sie den Steg nicht mehr benutzen können, der sie nun über den Bach des »süßen Grundes« leitete, in dem sich neue, mächtige Wassermassen aus dem »Glasehütten«-Kessel ins Laubnitztal hereinwälzten. Sie schufen in wenigen Minuten die Wiesen am Zusammenfluß beider Bäche in einen See um, und als Lohmann mit den beiden jungen Leuten in der Nähe des Schneiderhauses vorüberging, hatte der Wasserspiegel dieses neuen Sees schon die Haustürschwelle überstiegen.
Offenbar schreckten erst die in den Flur eindringenden Wassermassen die fleißigen Leutchen von ihrer Arbeit weg; denn alle Vier, Vater, Mutter, Sohn und Schwiegertochter, hielten, als sie schreckensbleich zur Tür herausgesprungen kamen, noch ihr Nähzeug zwischen den Fingern. Ja, sie machten noch immer mechanisch hie und da einen Stich, während sie jammernd berieten, was zur Rettung ihres Häuschens zu tun sei.
Auf Beistand seitens der Nachbarn rechneten sie offenbar von vornherein nicht.
Lautes Geschrei aus der Talaue des Niederdorfes veranlaßte Lohmann und den Vikar, denen Marianne bereits zur Villa vorausgeeilt war, sich dorthin zu wenden.
Hier fanden sie drei, vier Häuser ganz und gar von den blutigroten Schlammfluten der überschwemmten Aue umspült und sahen, wie Männer, Frauen und Kinder hastig die armselige Habe aus den gefährdeten Häusern zu retten suchten.
Mit langen Sätzen sprang der Vikar die Gärten hinunter, riß den dunklen Rock vom Leibe und watete dann mit den andern durch das gurgelnde Wasser, um bergen zu helfen, was noch zu bergen war.
Lohmann stand fröstelnd am Saume der brodelnden Fläche und kämpfte mit sich, ob er's dem Vikar gleichtun solle. Aber schließlich sagte er sich, daß dies bißchen ärmlicher Kram wohl nicht wert sei, die Gesundheit daran zu setzen. Und schmerzlich ward er sich dabei bewußt, daß er eben doch kein solcher Jüngling mehr sei, als er sich's noch vor kurzer Zeit gern selbst glaubhaft gemacht hätte.
Wie er aber so den Vikar schwere Schränke, Kästen und Bettgestelle gemeinsam mit den Holzschlägern herausschleppen, einmal auch eine alte Frau, die nicht selbst gehen konnte, wie ein Kind auf dem Arme durchs Wasser tragen sah, da dachte er: »Gott sei Dank, sie kommt in starke Arme, und es sind auch gute Arme!«
Und dies »Gott sei Dank!« war keine bloße Redensart.
Im nächsten Augenblicke schrak er leicht zusammen. Marianne, an die er eben so gedacht hatte, stand neben ihm und sah mit leuchtenden Augen dem Rettungswerke zu. Nicht lange aber, so deckte ihre Züge ein deutlicher Schatten des Bedauerns, daß sie so gar nichts bei dem allen helfen konnte.
Die Flut ward nun immer ungestümer. Mächtige Steinblöcke warf sie gleich Mauerbrechern gegen das Bindewerk der gefährdeten Häuser. Gerade das, in dem eben der Vikar aufs neue verschwunden war, ächzte einmal deutlich vernehmbar unter einem solchen Anprall. Man hörte, wie der Mörtel gleich einem Regen im Innern dieses Hauses niederrieselte.
»Wenn er jetzt verschüttet würde?«
Dieser Gedanke erhob sich dabei schwarz und grinsend in Lohmanns Seele, und über seine Schultern sah mit lockenden Augen der andere: »Dann – wenn der Schmerz verblutet wäre – dann wärst Du sicher ihrem Herzen der nächste!«
Aber nur ein Wimperzucken lang gönnte er diesen Nachtgestalten Existenz. Fröstelnd schüttelte er sie von sich. Und wie er dabei Mariannens Gesicht von der Seite streifte, sah er, wie sie gespannt mit fröhlich-zuversichtlichen Augen auf die Haustür blickte, nach ihm, der dort sein Leben für die Armut andrer aufs Spiel setzte, setzen mußte.
Da lief Lohmann abermals ein Frostschauer durch den Körper und erinnerte ihn daran, daß er immer noch in durchnäßten Kleidern dastand. Und weil er eben jetzt den Vikar und die andern mit den letzten dürftigen Habseligkeiten aus dem so bedenklich schwankenden Hause heraustreten sah und Mariannen lachenden Gesichtes ein freudig-stolzes »Geschafft!« zurufen hörte, ging er langsam die Gärten hinauf der Straße zu.
Bei einem flüchtigen Blicke rückwärts sah er, wie Marianne dem Vikar leuchtenden Auges entgegeneilte.
»Sie hat es gar nicht gemerkt, daß ich gegangen bin!« dachte Lohmann, und doch konnte er ihr nicht zürnen.
Während er langsam, durchschüttelt von einem Frösteln, das nichts Gutes bedeuten konnte, die Dorfstraße hinaufging, grübelte er, welches besondere Empfinden er vorhin neben ihr gehabt hatte, als sie so dastand und mit sicher-fröhlichem Glücksvertrauen wartete, bis ihr Teuerster aus dem schwankenden Hause und zu ihr hintreten werde.
Ihm schwebten Worte vor, Verse, oft gelesene, die's ausgeprägt enthielten, was vorhin durch seine Seele gegangen war. Aber der Kopf war ihm zu heiß zum Nachdenken. Auch sonst ward ihm körperlich elend, und noch ehe er die Schwelle seines Hauses überschritten hatte, wußte er, daß eine körperliche Niederlage den Abschluß alles dessen bilden werde, was er in diesen Tagen durchlebt und durchlitten hatte.
* * *
Und so geschah's. Drei Tage lang mußte er recht elend im Bette zubringen und ward so noch gründlicher darüber belehrt, daß seine vielgerühmte Elastizität doch eben nur die eines alternden Mannes sei.
Am Morgen des dritten Tages, als ihm wieder wohler wurde, griff er nach dem Bande Goethescher Gedichte, den er immer auf seinem Nachttischchen liegen hatte. Und noch ehe er zu blättern begann, sagte er halblaut: »Jetzt habe ich's! Es ist die Stelle aus der ›Marienbader Elegie‹!«
Und hastig schlug er auf und las, an den Gedanken unmittelbar anknüpfend, der ihn tagelang beschäftigt hatte:
In unsers Busens Reine wogt ein Streben,
Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,
Enträtselnd sich den ewig Ungenannten.
Wir heißen's: fromm sein! – Solcher sel'gen Höhe
Fühl' ich mich teilhaft, wenn ich vor ihr stehe.
Wieder und wieder las er's.
»Fromm sein!« –
Er fühlte, daß er auf dem Wege war zu solcher ›sel'gen Höhe‹.
War das nun die schleichende Altersstraße, der er sich zuwandte, wie die vielen andern, die sich zu sonst nichts mehr tauglich fühlten? Der Weg der alten Betschwestern, die da meinen, zum Frommsein reiche ihr Atem gerade noch aus?
O nein, diese Art war's wohl nicht!
Es war nicht bloß Fromm tun!
Und es hatte ja auch nicht jetzt erst angesetzt.
Die Saat streute die todeswelke Hand der Wasnern aus. Dann hatten Mariannens gute Augen das Pflänzchen herausgelockt, und in der Wärme ihrer reinen Güte fühlte er's erstarken.
Vielleicht kam's noch zur Kraft eines selbständigen Daseins! Auch wenn er nun nicht mehr vor ihr stehen konnte wie früher.
Und er, der Sanitätsrat Lohmann, wünschte sich das ganz aufrichtigen Herzens.
* * *
Das Hochwasser dieses September-Nachmittages hatte im Laubnitzer und Riembacher Tale an Feldern, Wiesen, Gärten und Häusern so viel Schaden angerichtet, daß viele Augen verzweifelt ins Leere der drohendsten Zukunft starrten. Diese armen Weber und Häusler waren ja ohnehin nur durch eine dünne Planke von dem absoluten Mangel getrennt.
Und die hatte das Wasser fortgerissen.
Ein Winter voll Hunger, Frieren und Entbehren in jeder Form drohte ihnen. Es bemächtigte sich ihrer darum eine allgemeine Ratlosigkeit, die sich am besten an der Zahl der betrunkenen Männer abmessen ließ, die in dieser Zeit das Dorf durchlallten.
Auf Lohmann wirkte diese allgemeine Not wie eine Erlösung.
Als er wieder ausgehen konnte, organisierte er in Gersdorf, das vom Wasser verschont geblieben war, in den großen benachbarten Fabrikdörfern, sowie in der Kreisstadt eine weitverzweigte Hilfstätigkeit. Am meisten tat er selbst durch Vorträge, Vorlesungen, Unterhaltungsabende und durch Ausstellungen von Kunstwerken aus dem Privatbesitz. Und bei dem allen erreichte er einen doppelten Zweck: Hilfe für die Bedrängten und Interesse am Werk der Volksveredlung.
Denn sein Eifer wirkte ansteckend.
Mancher, der ihm vorher nur lau oder widerwillig oder gar nicht hatte helfen wollen bei diesem stillen und oft auch so undankbaren Tun, widmete sich von nun an gern und mit Hingabe der Sache, deren Gewinn sich nicht buchen und zahlenmäßig nachweisen ließ.
Ganz besonders die Lehrer der Taldörfer ringsum wurden Lohmanns getreue Schildknappen, und mehr als einen hat er bis ans Ende zum Freunde gehabt. Sein begeistertster Verehrer unter ihnen wurde der junge Skeptiker im Kneifer, der einst Mariannens Heiterkeit erregt hatte.
Der Vikar war kurz nach dem Hochwasser, bei dem er eine so freudige Hilfsbereitschaft bewiesen hatte, zum Pastor von Gersdorf gewählt worden. Aber auch als solcher blieb er weiter im Sinne Lohmanns tätig.