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Siebentes Kapitel.

Sanitätsrat Lohmann fand nun keine Muße und Stimmung mehr, Eintragungen in das Tagebuch zu machen: das Leben hatte ihn wieder.

Gelegentlich der Krankenbesuche, die er nun täglich in der »Villa« zu machen hatte, traf er bald mit Direktor Lanz zusammen. Elisabeth gab dabei »die Erklärung«, sie hätten sich übrigens als alte Bekannte von Breslau her wiedererkannt, »– flüchtige –« wollte sie hinzusetzen, aber sie bekam's nicht über die Lippen. Lanz machte dazu ein mißtrauisches Gesicht; denn er sah zwar – wie er zu sagen pflegte – sehr schlecht auf seine Augen, umso besser aber auf seine Ohren. Und die Stimme Elisabeths hatte ihm bei dieser Mitteilung merkwürdig verschleiert geklungen. So hatte Lohmann Mühe, den forschenden Blick zu ertragen, den Lanz durch seine scharfen Brillengläser auf ihn heftete.

Marianne aber, an deren Bette sich diese Szene abspielte, ließ ihre warmen Blicke zwischen Lohmann und der Mutter nur erfreut, ohne jedes Mißtrauen, hin- und hergehen.

»So, so!« knurrte inzwischen Lanz. »Alte Bekannte? Nun, da haben Sie ja alle Glück, meine Herrschaften! Ihr kommt zu einem speziellen Leibarzte und Sie, Herr Sanitätsrat, kriegen was zu tun. Und das muß ja ein wahres Glück für Sie sein.«

»Ist es auch, Herr Direktor!« bestätigte Lohmann erheitert.

»Na also! Hatte so schon bange, Sie könnten mir bald mal was Ärgerliches anrichten.«

Lohmann sah erstaunt auf.

»Nun ja,« fuhr Lanz ironisch lachend fort, »ich bin Amtsvorsteher auch für Laubnitz. Und ich fürchtete, man könnte Sie mal eines schönes Tages in irgend einem Busche aufgeknüpft finden. Denn was andres bleibt doch einem Manne Ihres Schlages nicht übrig, wenn er hier nichts weiter tut, als sechzehn Stunden pro Tag nicht zu schlafen.«

Jetzt wurden Lohmanns Blicke verdutzt, die der beiden Frauen verlegen.

»Wie kann der borstige Kunde so was sagen?« fragte sich Lohmann. »Ist das bloß Grobheit, oder ist's sonderbar maskiertes Verständnis für meine tatsächliche Gemütslage?«

»Onkelchen, Du vergißt, daß der Herr Sanitätsrat hier ein teures Grab zu hüten hat.«

Lohmann sah Marianne, die ihn so mit sanfter Stimme verteidigte, dankbar an, konnte sich aber eines leisen Mißbehagens nicht erwehren, daß es Elisabeths Tochter war, die ihn an »sein teures Grab« erinnerte.

Lanz brachte offenbar eine derbe Erwiderung auf seiner Zunge um; man sah's seinem rauflustigen Mienenspiele an. Schließlich aber begnügte er sich zu murren: »Lasset die Toten ihre Toten begraben und – auch hüten! Wer lebt, soll wirken. Und dazu ist für einen Mann Ihrer Sorte, Herr Sanitätsrat, hier Gelegenheit die Menge.«

»Tatsächlich?« fragte Lohmann, weniger aus wirklichem Interesse, als vielmehr, um die etwas gespannte Situation zu lockern.

»Ja viel!« antwortete Lanz mit verschönerndem Eifer. »In den Waldtälern hier richten Quacksalberei und Aberglauben unsägliches Unheil an. Hier siechen mehrere Generationen zu gleicher Zeit hin, weil sie von ihrem Hungergewerbe nicht loszureißen sind. Hier frißt die Nahrungssorge jedes andere Interesse mit Haut und Haar, und viele Hunderte dieser Waldleute trifft ein langes Leben hindurch nicht der leiseste Hauch geistigen Lebens. Und was bei uns draußen unter dem Fabrikvolk davon herumspukt, ist freilich noch tausendmal schlimmer als die völlige Öde hier draußen. Und sehen Sie, zum Kampf gegen so was können wir Männer brauchen, die Herren ihrer Zeit sind und Gaben besitzen, je mehr, desto besser!«

Man hörte es schon dem Fluß der Worte an, daß sie oft erwogene Gedanken zum Ausdruck brachten. Wie ein Lebensprogramm mutete es Lohmann an.

»Es sind keine Lichtbilder, die Sie da zeichnen, Herr Direktor!« sagte er.

»Bilder?« warf dieser abrupt hin. »Bilder? Sind keine Bilder! Ist reine, ungeschminkte Wahrheit! – Leider! – Und man kämpft dagegen, ein Jahrzehnt ums andre, und muß Gott danken, wenn man dabei nur alt wird und nicht auch müde.«

»Das ist's, mein lieber Herr Direktor«, sagte Lohmann leise und mit gesenkter Stirn, »wenn man noch nicht müde ist!«

»Das aber bin ich!« setzte er in Gedanken hinzu. »Müde nicht nur, sogar gebrochen!«

Er sah nicht, wie ihn Marianne schmerzlich anblickte, als unterdrücke sie ein mitleidiges Wort für ihn. Und er machte so sehr den Eindruck eines gebrochenen Mannes, daß sich auch Lanz nun tröstend an ihn wandte:

»Kopf hoch, Herr Sanitätsrat! Immer Kopf hoch! Und Zeit lassen! So was will austoben! Das weiß man ja! Hab's kennen gelernt, damals, als mir beide Kinder in Jahresfrist starben!«

Er schluckte einmal, als sitze ihm ein Knoten in der Kehle, ehe er fortfuhr: »Da hat's was gekostet, den Waisenkindern auch fernerhin ein ›Vater‹ zu sein! Aber es geht vorüber, wie alles auf der Welt! Wohl dem, der in solchen Zeiten für andre da sein muß! Und überhaupt, wie sollte die Menschheit ihren himmelhohen Kummerkarren durch all den knietiefen Jammer hindurch schleppen, wenn ihr nicht Muß und Zwang immerfort als Peitschen um die Ohren schwirrten? Ja, ja, wer klug ist, schafft sich im Kummer ein Muß, wenn er keins hat, und lernt, im fremden Jammer den eignen vergessen! Und – ach, was geht's mich an? – Man wird alt! – Die Schwatzhaftigkeit beweist's! – Adieu allerseits und gute Besserung!«

Hastig, ehe ihn jemand aufhalten konnte, hatte er sich zu der niedrigen Tür hinausgetastet.

Er ließ die drei andern in einem beredten Schweigen zurück.

In Mariannens Blicken las Lohmann den warmherzigen Zuspruch: »O, folge ihm doch!«

Da kam über Lohmann eine heiße Begier, sich bei diesen beiden Frauen einmal das Herz zu erleichtern. Erzählen wollte er ihnen, wie ihm das Leben seine schöne Lebensfreudigkeit gemeuchelt habe, so daß er nun hier im Tale der Wehmut hocken müsse, untätig und mutlos zwischen der Klage um eine Begrabene und dem Gram um eine Verlorene. Wie aber sein Blick Elisabeths gespannte Züge streifte, kroch als häßliche Raupe der Gedanke über sein Herz: »Es müßte ihr doch eine Genugtuung bereiten, mich so bettelarm vor sich zu sehen!«

So verschloß er gewaltsam die schon halb geöffneten Lippen und ging mit einer Eile fort, nicht unähnlich der des Direktors, den er auf dem Heimwege bei sich »ein wunderliches Rauhbein« nannte.

* * *

Und doch rumorte er ihm wie ein Ferment im Blute herum, und schon beim nächsten Krankenbesuche brachte er vorsichtig die Rede auf ihn.

Frau Elisabeth hatte manches Wunderliche von ihrem Manne über diesen Gatten seiner Schwester gehört, der einst kurze Zeit der Lehrer der Geschwister gewesen war. Gesehen aber hatte sie ihn niemals vor ihrer Übersiedelung nach Laubnitz; nur ein spärlicher Briefwechsel hatte sie mit ihren Schwägern verbunden. Erst, als sie den Gedanken faßte, in die schlesische Heimat zurückzukehren, hatte sich ein regerer schriftlicher Verkehr angesponnen, der allerdings sogleich in Elisabeth und ihrer Tochter ein herzliches Zutrauen zu den fernen Verwandten erweckte; denn Lanzens Briefe verhüllten zwar durchaus seine Ecken und Kanten nicht, ließen aber auch deutlich erkennen, aus welch kernfestem Holze dieser Mann geschnitzt sei.

Dies alles berichtete Frau Elisabeth offenherzig und setzte hinzu, von der Schwägerin wolle sie lieber gar nichts sagen, denn sie gehöre ihrer Meinung nach zu den Menschen, denen man am besten ohne jedes vorweg beeinflußte Urteil begegnen solle.

Das alles erhöhte natürlich Lohmanns Spannung, das Paar in seiner eigenen Umwelt kennen zu lernen, und so machte er sich schon einige Tage später an einem bitter kalten, sehr klaren Nachmittage nach Gersdorf auf.

Sein Weg führte ihn durch das Niederdorf an dem malerischen alten Gebäude vorüber, das ihn mit seinem kastanienüberragten Fachwerkgiebel schon beim Einzuge in Laubnitz gefesselt hatte. Heute streckten die uralten Bäume nur kahle Äste starrend gen Himmel. Aber ihr Zweiggeflecht maschte sich so eng, daß Lohmann mit einem gewissen Behagen dachte: Wie schattig-kühl muß sich's unter ihnen in heißen Sommertagen sitzen lassen!

Unterhalb des Dorfes lenkte sein Weg in ein breites Wiesental ein, und nun sah Lohmann auch schon hohe Fabrikschlote die Bodenwellen überragen, die sich in paralleler Folge vor ihm bauchten.

Als er den Scheitel der letzten erreicht hatte, blieb er angenehm überrascht stehen; denn nun konnte er den langgestreckten Ort, vor dessen Mitte er ungefähr stehen mochte, überschauen. Bis zu den Türmen der beiden Kirchen hinauf reichte sein Umblick. Sie standen nicht ganz so trutzig Brust gegen Brust einander gegenüber, wie man's sonst in schlesischen Gebirgsdörfern findet, reckten sich aber doch auch in einer gewissen konfessionellen Rivalität als Bindeglieder zwischen Himmel und Erde empor. Reizvoll sah Lohmann das Bild des schmucken Ortes voll stattlicher Neubauten in den Rahmen einer Bergkette mit sanften und doch charaktervollen Konturen gespannt.

An der ihm zugekehrten Seite des Dorfes, gerade vor der größten der fünf oder sechs Fabrikanlagen, die Lohmann flüchtig überzählte, erregten seine besondere Aufmerksamkeit eine Reihe ganz gleichartig gebauter Wohnhäuser und hinter ihnen eine große Anzahl kleiner Gärtchen von gleichem Umfang. In jedem stand eine Laube; aber mit einer gewissen, teilweise etwas gewaltsamen Absichtlichkeit, den Nachbar überbieten zu wollen, wichen diese Bauwerkchen im Stil erheblich von einander ab.

»Fabrikgärten«, erklärte sich Lohmann diese Anlagen und wunderte sich, hier im entlegenen Gebirgsdorf eine ähnliche Gartenkolonie zu finden, wie er sie in der Nähe der Großstädte oft mit hygienischem Wohlgefallen betrachtet hatte. Als er darum einige Minuten später, an der äußersten Reihe dieser Gärtchen vorübergehend, einen Mann nahe dem Zaune mit Umgraben des klingend hart gefrorenen Bodens beschäftigt fand, grüßte er freundlich und fragte nach dem Schöpfer dieser gemeinnützigen Einrichtung.

Der Arbeiter, ein Mann mit bartlosem, sehnigem Gesicht, dessen Kinn wie aus Bronze gegossen rechtwinklig gegen den magern Hals vorsprang, hielt zögernd im Graben inne, verweilte aber, ehe er sich mit leisem Seufzer erhob, noch eine Weile in der gebückten Haltung. Dann schlürfte er mit etwas schleppenden Schritten an den Zaun heran.

»Gu'n Tag au!« grüßte er, die Hand nach Soldatenart gegen die Schildmütze hebend, unter der schneeweißes Haar kurzgeschnitten sich borstig sträubte. »Woas min'n (meinen) Se? Ich hiere a Brinkel schwer!«

Und dabei legte er die Hand als Schalltrichter hinter das rechte Ohr.

Lohmann wiederholte seine Frage.

»Nu, doas hoat doch oll's mitsomma der Herr Direkter Lanz aus'm Weesahause eigericht't. War sellt's denn suster au sein?«

»Herr Direktor Lanz?« wiederholte Lohmann verwundert. »So, so!«

»Woas min'n Se?« fragte der andre wieder mit dem blöde-gespannten Ausdruck der Schwerhörigen. »Sahn Se ock, lieber Herr, iech bien nischte meh nütze uf de Uhr'n. Doas ies's ganze Leida. Suste könnde ich au immer no ganz schmuck miete furt und könnde au no miete ei de Fabricke giehn. Ober a su –! Ma weeß ni, woas em do amol zustußa koan. Ei da Schetta ( Sheds) ies ju zu a tuller Specktakel, reen wie ei d'r Hölle is moanchmol, wenn und's sein a su olle fünfhundert und fufzig Stühle eim Gange, und ei jedem kloppern die Schiffla, woas se ock kinn'. Na, und do ma itzunder und hot's nimmeh nöt'g, mit'n Battelsacke ims Durf zu giehn, wenn ma und ma koan nimmeh miete furt, warum sol ma sich's denn do ni au a poar Jährla no gemittlich macha uf de ala Tage? Ni? Min'n Se's ni au, guder Herr?«

Lohmann gab eifrig seine Zustimmung, amüsiert durch die treuherzig-weitschweifige Art dieses Ur-Schlesiers.

»Funzemol mir aus dar Klaarscha Fabricke, mir kinn's ju no tausendmol besser aushal'n wie die andern Invalida! Denn fer ins hoat doch der Herr Kummerzienrat Klaar – Se war'n a ju au kenn'n, lieber Herr –.«

Lohmann verneinte, und dadurch wuchs der Erzähleifer des andern.

»Nu sah'n S' ock, doas hoat die Bewandtnis! Woas der Herr Kummerzienrat ies, dam die Fabricke do ver ins gehiert – s'ies de grüßte ei ganz Gersdurf – und au dar ganze Grund und Boden dohie gehiert'm – dar hoatte schunt lange, eb die Klabegeschichte eigericht't wurd', fer ins anne Alderskosse gestift't. Doas Geld kriega mir Invalida au no zur Invalidarente derzune, und sahn Se, do hoa ich fer meine Perschon a su zweehundert dreizah Mark und fufzig Pfenge eim Joahre, und do gieht's ganz schien rim bei mir. Wenn enner do und ha sefft ni groade, do braucht ha keene Nut ni zu leida.«

Lohmann lobte diese Einrichtung sehr, und eifrig fuhr der Arbeiter fort:

»Ja sahn Se, guder Herr, do sitt ma halt'g au wieder a mol, wie gescheit inse Herrgott duba oll's z'somma eizurichta verstieht! Der Herr Kummerzienrat ies schunt seit fufzah Joahr'n loahm uf beede Beene und muß aus enner Stube ei de andre gefoahr'n war'n, weil ha alleene kenn' Schriet ni giehn koan.«

»Wie traurig!« warf Lohmann ein.

»Nu doas verstieht sich! Ober sahn Se, guder Herr, 's hoat oll's mitsomma sei Gudes uf dar Welt. Dar loahme Herr hoat's oan se'm eegna Leibe gespiert, wie's ies, wenn enner und möchte au gerne woas tun, und koan nimmeh, warum? weil'm die Knucha nimmeh parriern. Und do hoat ha fer die gesurgt, die au a su beschoffa sein, doß se nu und braucha nee au no zu hingern uf ihre ala Tage.«

Lohmann lobte wieder, kam aber nun auf seine Frage wegen Direktor Lanz zurück.

»Nu ja, sahn S' ock, guder Herr, doas ies a su!« lenkte der gesprächige Alte in das neue Fahrwasser ein. »Der Herr Direkter Lanze ies die rechte Hand vom Herrn Kummerzienrate ei olla Dinga, möcht' ma sprecha. Und woas der Herr Direkter Lanze vierschlät und austifftelt, doas macht der Herr Kummerzienrat gewieß. 's ies necksch: dar Eene koan ni laufa, und dar andre sitt bale goar nischte ni meh. Ober woas die beeda z'somma schunt Gudes gestift't hoan, do sulln tausend kerngesunde Kerle no hie denka. Nu ja, und do sahn S' ock: die schiena Gartla dohie, und dunda die schiena Familienhäuser, und dieba überm Ploane doas schiene neue Fabrickerkrankahaus, doas hoat sich oll's mitsomma der Herr Direkter ausgeducht, und dar andre hoat's Geld derzune gegahn. Ha hoat's a ju wie Mist, doas ies ju woahr, und moanche wär'n sprecha: »Mer hoan S' ja verdien' halfa!« Nu ju, ju, 's mag olles sein; aber viel hundert andre Fabrikherrn denka eim Traume nie oan su woas!«

»Sie haben recht, lieber Mann!« sagte Lohmann erfreut. »Und ich freue mich, daß Sie so dankbar sind.«

»Nu, doas muß wull a jed's, woas und 's hoat fer'n Pfeng Verstand eim Kuppe! Na, und do loahn Se sich ock no soin: wenn Se itzunder und warn eis Durf nei kumma, do giehn Se bei der neua Optheke und dernochert bei der Vorschußvereinskoasse und dernochert beim neua Amtsgerichte verbei. Sahn Se, doas verdanka mer oll's mitsomma 'm Herrn Direkter Lanze. Und do koan ma sich wull meilenweit a Durf sicha, woas und 's hoat olles a su grußoartig wie inse Gersdurf. Und do koan ma sich's schunt gefolln lohn, wenn ha und ies au moanchmol a wing stoark oam Hoalma. Mit sich spossa und Mandla macha läßt dar freilich nie! Do hoats zengst naus nischte ni! Und – (er sah sich scheu ringsum, ehe er leiser fortfuhr) – da Brüdern vo dar Bebelscha Surte, dan ies a verflucht uf'm Lader. Desteholba kinn se'n au ni verknusa. Und woas do no amol geschahn werd, ma weeß ni!«

Hier schienen dem Alten plötzlich Bedenken zu kommen, daß er zu aufrichtig gewesen sei. Er fragte, ob Lohmann vielleicht gar den Direktor kenne, und als der eine flüchtige Bekanntschaft zugab, nahm das Gesicht des Alten einen mißtrauisch-geärgerten Zug an. »Nu do!« stieß er mißmutig hervor, »do wiel ich nischte ni gesoit hoan!« Und mit kurzem Gruße wandte er sich wieder seiner Arbeit zu.

Lohmann aber dankte freundlich für alle Auskunft und schritt nachdenklich über den grünen Plan, der die »Familienhäuser« von dem rauschenden Bergflusse trennte, an dessen anderm Ufer sich das Dorf entlangstreckte. Neben dem Krankenhause eine Fußgängerbrücke überschreitend, gelangte er auf die höher gelegene, städtisch belebte Dorfstraße.

Der Rückblick auf den Weg, den er gekommen war, überraschte ihn. Er konnte von hier aus über die Wiesen des Vorgeländes gerade in »sein« Laubnitzer Tal hineinsehen. Die beiden Pfortenberge erschienen von hier aus auffällig niedrig und charakterlos in ihrem gleichmäßigen Umriß. Dagegen thronte der Heidelberg mit gewaltiger Wucht über dem Waldlande. Wie alles Große ward auch seine Größe durch die Entfernung nur gehoben.

Lohmann wunderte sich, daß es beim Anblick der verschneiten Berge und des schmalen, weltfernen Tales zwischen ihnen nun schon wie ein warmes Heimatempfinden über ihn kommen konnte.

»Die Aufgabe!« murmelte er. »Es liegt wohl an der Aufgabe, die ich dort habe.«

Und er dachte an die geduldige, bleiche Patientin, die täglich dort draußen seiner harrte. –

Auf der Straße herrschte ein geschäftiges Weihnachtstreiben. Dies und der Ausputz der städtischen Schaufenster erinnerte Lohmann dran, daß ihn nur noch wenige Tage vom Heiligen Abend trennten.

»Der Heilige Abend!« –

Der Gedanke an ihn bohrte sich wie eine Nadel in sein Herz.

Er war immer ein »Weihnachtsschwärmer« gewesen, von seiner Jugend an. Und er hatte den Märchenglanz der Weihnachtskerzen immer auf einen großen Kreis heiterer, geschenkbeglückter Menschen ausgegossen gesehen.

Weihnachtsabend ohne Weihnachtsfreude, das kannte er noch nicht.

Am letzten war ja auch noch alles »ganz schön in Ordnung« bei ihm gewesen. Erst unmittelbar drauf waren die Keulenschläge gefallen, rasch, atemlos, einer nach dem andern.

Dies Mal aber –

Ihn fröstelte es, und hastig trat er von dem Schaufenster der Spielwarenhandlung zurück, vor dem er gedankenlos stehen geblieben war. Die Reiter und Fußsoldaten aus Holz und Zinn, die Puppen und Festungen, die da ausgestellt waren, hatten wohl solche Grübeleien in ihm heraufbeschworen. Er dachte auch einen Augenblick lang, wie's wohl gekommen sein möchte, wenn Regina Kinder und ihm Enkel beschert gewesen wären.

Dann rüstete er gewiß in diesen Tagen zur Feier in der lichterfüllten Diele, statt hier unter einheimsenden Fabrikweibern fremden Menschen auf fremden Straßen nachzulaufen! Dann lebte wohl auch sie noch, die drüben unter den beschneiten Tannen von Festglück und -jubel nichts mehr wußte! Denn zarte Kinderhände hätten gewiß das Lebensschiff der Verschlagenen fester am Familiengestade verankert, als die Elternliebe das fertig gebracht hatte – – –.

Es drängte ihn, so sehr er sich selbst darüber wunderte, in den Laden einzutreten. Wahllos erstand er einen Packen Spielwaren. Und ein zager Nachklang der Freude ferner Zeiten, in denen er für sein Kind Weihnachtseinkäufe gemacht hatte, durchzog ihn, wie er nun mit dem Packen weiter dorfaufwärts schritt.

Endlich blieb er vor einer Parkanlage stehen, die neben der Straße auf einer sanften Böschung eine rundliche Rasenfläche umhegte. Weil sie der Mittagsonne zugekehrt lag, war aller Schnee weggeleckt, und so bildete das frische Grün des Rasengrundes einen malerischen Gegensatz zu dem zottig-weißen Schneebehange der dunklen Tannen umher und zu dem hellen Anstriche des stattlichen Hauses, das sich am obern Rande des Rasenplatzes erhob. Seine Fassade in mißlungener Gotik, die oben in ein plumpes Sandsteinkreuz überging, wurde anheimelnd belebt durch eine im Erdgeschoß ausgesparte Loggia. Eine breite Freitreppe führte zu ihr hinauf.

Über ihr aber bezeichnete die Inschrift »Klaarsches Waisenhaus« Lohmann unverkennbar das Ziel seines Suchens.

Im Hausflur kam ihm eine gebrechliche, zierliche, alte Dame in schlohweißer Spitzenhaube entgegen. Noch ehe sie sich ihm zu erkennen gab, wußte er, wen er vor sich hatte: um den immer noch blühenden Mund der Greisin lag derselbe Zug unverwüstlicher Herzensgüte, den er nun schon so oft mit eigenem Empfinden in Mariannens, seiner Patientin, Gesicht betrachtet hatte.

»Wenn er den Pastor-Bruder auch verschönte, kann's Elisabeth nicht allzuschwer geworden sein, den Mann zu nehmen und seinen Mund zu küssen, trotz alledem!« dachte Lohmann bei sich.

Er sah sich von der Direktorin wie ein alter, guter Bekannter, ja Freund begrüßt, und als er ihr bald darauf in dem sehr schlichten, aber ebenso anheimelnden Zimmer gegenüber saß, dessen Fenster auf die Laubnitzer Berge hinausschauten und mit ihrer Treibhaus-Blumenpracht der Wintersonne alle Härte benahmen, da war's ihm, als habe er hier für alle seine schwarzen Gedanken einen stillen, lichten Zufluchtswinkel gefunden.

»Sie haben hier mit ihrer Weltflucht viel Verwundern erregt, Herr Sanitätsrat,« begann Frau Lanz sogleich, nachdem sie die zeitweilige Abwesenheit ihres Mannes entschuldigt hatte. »Aber ich kann Sie wohl verstehen. Ich weiß nämlich zufällig um all ihr Unglück – durch einen meiner intimen Bekannten, der Ihrem früheren Lebenskreise angehörte.«

Lohmann sah überrascht auf.

»Nun ja, Herr Sanitätsrat,« lächelte sie, »die Welt ist nun einmal ein Dorf und unser liebes Schlesien dann wohl nur 'ne kleine Winkelgasse drin. So schleppt man eben überall hin die Fäden mit, die einen an das Verlassene knüpfen. Ich halte aber gar nichts von der Politesse, die jedem neuen Bekannten glauben machen möchte, man stehe ihm als ganz Unwissender gegenüber. Sie ist mir zu lurig.«

»Vielen Dank für diese Aufrichtigkeit, Frau Direktor!« rief Lohmann mit herzlichem Tone.

»Nun,« sagte sie wieder lächelnd, »dann muß ich Ihnen wohl auch gestehen, daß ich auch Ihre ehemaligen Beziehungen zu meiner Schwägerin kenne.«

»Frau Direktor!« fuhr hier Lohmann erstaunt und verlegen auf.

»O, lassen Sie's gut sein!« beruhigte sie voll Güte. »Das bleibt unter uns und gilt uns allen ja wohl als eine abgetane Sache. Die andern aber geht's gar nichts an.«

Sie reichte ihm dabei ihre schmale, weiße Hand wie zur Bekräftigung eines Versprechens, und er küßte sie artig und voll ehrfürchtigen Dankes. Denn noch niemals, sagte er sich, war ihm eine gleich noble, zarte und doch feste Art begegnet, wie diese hier, die einem neuen Verkehre ein so unerschütterliches Vertrauensfundament legte.

»Nun wir Sie einmal hier haben in unsrer Waldecke, Herr Sanitätsrat,« fuhr Frau Lanz in scherzendem Tone fort, »sollen Sie uns auch mit Ihren Gaben nicht entgehen!«

»Etwas Ähnliches deutete mir Ihr Gatte schon an!« antwortete Lohmann, schier belustigt.

»Kann mir's denken!« nickte sie. »Und gewiß nicht sanft. Ich kenne ja meinen Franz! Sein Eifer ist manchmal nur entschuldbar durch die Güte der Sache, die ihn entfacht.«

»Und durch seine Selbstlosigkeit, will mir scheinen!«

»Nun – ja – doch wohl!« sagte sie zögernd. »Ach ja, die kann ich bei ihm wohl zugeben. Mit gutem Gewissen. Trotzdem – nein, gerade weil ich seine Frau bin. Sie wissen wohl, Herr Sanitätsrat, mit der Selbstlosigkeit, da hat's sonst sein gewaltiges ›Aber‹. Und doch hat der Herr wohl auch darin seine Siebentausend lassen übrig bleiben in Israel.«

Einen Augenblick verdüsterten dies »der Herr« und das Bibelzitat das milde Lichtbild in Lohmanns Empfinden. Aber sein mißtrauisches Ohr hörte auch dabei nur echte Herzenstöne heraus. So wandelte sich das Mißtrauen in die stille Forscherfreude, mit der wir die Quellen springen sehen, aus denen lieben Menschen die Gaben ihres Gemütes gespeist werden.

»Den Häuptling unter den hiesigen Siebentausend kenne ich schon!« konnte er darum scherzen. »Ihren Groß-Almosenier im Rollstuhl!«

Und er erzählte von seinem Interview am Zaune des Fabrikgartens.

Je länger er sprach, desto mehr leuchtete das Gesicht der Matrone von einem tiefinnerlichen Herzensvergnügen.

»Vielen Dank, Herr Sanitätsrat,« sagte sie, als er zu Ende erzählt hatte, »vielen Dank! Sehen Sie, das sind so kleine Wegstärkungen. Ich brauche sie weniger als mein Alter. Für ihn aber sind sie ein Bedürfnis, damit das Knurren, ohne das ich ihn gar nicht mehr leiden möchte, nicht zum echten Grollen wird. Sie glauben ja gar nicht, durch wieviel blinden Undank die armen Leute hier sich selber gefährden! Es ist manchmal wirklich schwer, sich immer wieder zum willigen Werkzeug der Güte des Kommerzienrats zu machen, die der reinen Güte so nahe steht. Sie müssen ihn kennen lernen, diesen Mann, ehe durch irgend eine Voreingenommenheit Ihr Urteil getrübt wird.«

»Das ist es ohnehin, liebe Frau Direktor!« entgegnete Lohmann aufrichtig. »Ich bin aus einer Kommerzienrat-Sphäre in die Laubnitzer Wälder geflohen.«

»Um so besser!« rief da Frau Lanz voll jugendlichen Eifers. »Da wird Ihre Freude an ihm umso größer sein. Und unsre mit. Er wird Sie schon zwingen, das reine Menschentum in ihm zu lieben.«

Ein bescheidenes Klopfen an der Tür nach dem Flur hin unterbrach sie, und auf ihr »Herein« schob sich mit gemachter Scheu eine Fabrikarbeiterin ins Zimmer. Ihr ganzer, unordentlicher Anzug war mit Spinnstaub und -fasern bedeckt, auch die strähnigen Haare.

»Nun, Langern, was wollt Ihr?« fragte die Direktorin mit einem Tone, den Lohmann kühl fand.

Der Frau, die ihren Namen sehr mit Unrecht trug, war Lohmanns Gegenwart offenbar unbequem.

»Ach Jees' nee, Frau Direktern,« sagte sie stockend, »ich wullde ock bloßig amol froin, warum meine Minna und ies doas mol nee miete zur Eibescherung bestallt. Se hoat doch suste olle Joahre miete gekriegt. Und mer braucha's doas Joahr doch groade a su roasnig nötig, weil Menner doch keene Arbeet ni hoat.«

»›Nicht arbeiten mag!‹ müßt Ihr sagen, Langern!«

»Nee och Jees' nee, soi'n S' ock doas nee, Frau Direktern! Ha hoat sich schunt de Beene oabgeluffa. Ober –«

»Da liegt's eben, Langern! Er läuft sich viel zu sehr die Beine ab und viel zu gerne. Zweimal ist er nun schon alle Fabriken in Gersdorf durch. Wer soll ihn da zum dritten Mal mögen?«

»Nu Jees' ju, Frau Direktern! Se hoan ju recht! Se kinn' ju recht hoan! Ha hält nernt (nirgends) aus. Doas is wull woahr! Se hänsaln'n aber au oll länga. Ha koan doch nischte ni derfür, doß ha und ies a su kleene geblieba und doderbeine Langer heeßt!«

Lohmann und die Direktorin sahen sich ein Wimpernzucken amüsiert an ob dieser Tragikomik des Lebens, während die kleine Frau des kleinen Mannes, der Langer hieß, krampfhaft in ihre Schürze schluchzte: »Se kinn's gleeba, wenn ha gruß und stoark wär' wie die andern Monne, ha werde schunt aushalen. Ober doderfiere kinn' mir doch ni, 's Madel und ich. Mir sein ju vorher gestroft genung mit dam Fäulige.«

»Das ist wahr!« bestätigte Frau Lanz mit Teilnahme. »Aber Ihr habt's Euch selbst zuzuschreiben, daß Ihr übergangen worden seid. Voriges Jahr habt Ihr droben bei Mühlmann gleich nach unserer Einbescherung Eurer Tochter eine unsinnig teure Puppe gekauft.«

»Nee och Jees' nee, Frau Direktern,« entrüstete sich die Frau, »doas ies doch anne meschante Lüge doas! War hoat denn doas schunt wieder ufgebrucht?«

»Langern,« rief da die Direktorin mit echter Entrüstung, »das ist keine Lüge! Ihr habt auch geäußert, ›Klunkern‹ bekäme Eure Minna genug von der Fabrik. Da wolltet Ihr ihr auch ne Freude machen.«

»Do sitt' ma's ju, wie olles verdreht werd bei dam Pustlatroin!« rief bissig die Frau, der es unglaubliche Anstrengung gekostet hatte, so lange zu schweigen. »Und 's ies eben a su: inse Kinder sull'n keene Freede ni hoan! Die sein zu so woas ni geborn! Doas ist olles bloßig fer die Grußoartiga, fer die mir ins schinda müssa, bis mer uf der Frasse liega blei'n.«

»Langern,« mahnte die Direktorin mild, »bedenkt, was Ihr redet! Haltet Eure demokratischen Vorträge anderwärts, versteht Ihr? Solche Geschenke macht nur, wer's dazu hat. Mir würde es auf eine so teure Puppe auch nicht gereicht haben, wenn ich hätte eine Tochter großziehen dürfen. Und Euch hat's erst recht nicht gereicht: denn Ihr habt sie auf Abzahlung genommen. Und da wette ich: sie war früher kaput als bezahlt.«

»Nu, wenn au doas ni groade –.«

Die kleine Frau brach ab voll Wut über diesen Selbstverrat, und sehr viel patziger fuhr sie fort: »Do kriegt also meine Minna doas Joahr nischte?«

»Nein, liebe Langern! Das Komitee war nicht dafür.«

»Nu, do werd's au ohne doas giehn! Ober ma sitt doch wieder amol, wie's gemacht werd! War's Pustlatroin ni a su gutt verstieht wie de Mehnerten und de Fichtnern und sichtes Gelichter, dar koan sich hingerhar de Noase wischa!«

Lohmann fuhr unwillkürlich empor, beobachtete schließlich aber voll Neugierde, was die zarte, alte Frau nun tun werde. Die stand langsam auf und trat ruhig an die Arbeiterin heran, die sich scheu und gänzlich verstummt immer weiter nach der Tür zurückzog.

Ohne irgend welche Erregung öffnete die Direktorin mit der Linken die Tür, während sie der Frau die Rechte zum Gruße reichte und sanft lächelnd sagte: »Adieu, Langern, darauf weiß ich Euch nichts zu erwidern!«

Die andere aber verschwand, wie hinausgewirbelt.

Jetzt konnte sich Lohmann nicht länger still halten. »Bravo!« rief er, »das war brillant erledigt.«

»O,« sagte die Alte mit einem wehen Zug um den Mund, »eine Schaustellung sollte das nicht sein. Aber die Frau verdient's nicht besser. Die gehört zu unserer schlimmsten Sorte: arbeitsscheu, begehrlich und genußsüchtig. Es ist eben ein Leiden um solche Übergangszeiten! Diese Leute sind aus einer völligen Bedürfnislosigkeit in die neue Zeit mit ihren aufreizenden Kontrasten hineingewachsen. Ist's ein Wunder, daß sie jeden Maßstab verlieren und weder wissen, was sie beanspruchen dürfen, noch was sie glücklich macht?«

Noch ehe Lohmann erwidern konnte, trat der Direktor ein, offenbar aufrichtig erfreut, als er erst herausgeblinzelt hatte, wer da mit seinem »Muttchen« in der »Plauderecke« saß. Der Gast hörte aber bald mit einer stillen Freude zu, wie durchwärmt der barsche Ton des Mannes klang, wenn er mit der zarten alten Frau sprach. Als erscheine sie ihm wie eine kostbare Nippfigur, die ein rauher Laut schon zertrümmert zu Boden werfen könne.

Und doch waren's nichts weniger als Nippsachen, was die beiden Alten nach kurzer Begrüßung besprachen, sondern schwere Sorgen um eins der Waisenmädchen.

Am Vormittage hatte es in einem benachbarten Kaufladen Näschereien gestohlen, als es dahin geschickt worden war, um Einkäufe für die Anstalt zu machen.

Der Direktor war in so großer Aufregung über den Fall, daß er immer wieder darauf zurückkam, trotz Lohmanns Anwesenheit.

»Es fuchst mich toll!« fuhr er auf, nachdem er wieder eine Weile unruhig hin und her gegangen war. »Ja, wenn's nicht schon das dritte Mal wäre! Und zweimal beim Rother obendrein! Dem ist das 'n willkommenes Fressen. Da kann er doch mal wieder aufs Waisenhaus loszotteln und auf mich dazu. Der hat nämlich (wandte er sich an Lohmann) keinen schlechten Haß auf mich, seit ich ihm als Amtsvorsteher ein gutes Geschäft verderben mußte. Wollte einen Schnapsschank auftun, gerade neben der Fabrik. Das wäre 'ne nette Giftbude und Wochenlohn-Falle geworden! Aber was sind solchen Leuten soziale Gesichtspunkte? Und grade bei dem muß mir nun so was passieren!«

»Nun, beruhige Dich nur!« beschwichtigte die Frau. »Du kannst ja nichts dafür.«

»In gewisser Weise doch! Was weiß diese Krämerseele von wohlerwogenen erzieherischen Absichten, die uns leiteten, als wir gerade dieses Mädchen zur Einkäuferin bestimmten? ›Haben Sie denn vergessen, Herr Direktor,‹ sagte er mir eben höhnisch, ›daß ihre Mutter in ganz Gersdorf »die Spitzbuben-Marie« hieß?‹ Und schließlich ärgert mich am meisten das klägliche Fiasko, das wir da wieder mal mit unserer ganzen Erziehungs-Spiegelfechterei gemacht haben! Angeborne Neigungen überwinden? Pah! Einbildung! Schnöde Einbildung!«

»Franz!«

Es war ein schmerzlich-weher Ton in diesem Zwischenruf der Frau.

»Nun ja, Muttchen!« mäßigte sich Lanz. »Sei nur gut!« Und im Klange seiner Stimme lag's wie rührende Abbitte. »Ich weiß ja: es war Dein Rat, das Mädchen durch doppeltes Zutrauen zu stärken.«

»Gewiß! Dazu riet ich!« gab sie zu und fragte, zu Lohmann gewendet: »Wodurch könnte man einen Strauchelnden besser stützen als durch Aufgaben, die ihn mit Vertrauen ehren?«

»Das mag gewiß der rechte Weg sein!« stimmte Lohmann überlegend zu.

»Wie aber, wenn er's immer und immer wieder enttäuscht?« fuhr ihn Lanz an.

»Franz,« mahnte die Frau mit sanfter Stimme, »Du sagst ›immer wieder‹? Ist dreimal schon ›immer wieder‹? Wenn irgendwo, so muß man doch in den Dingen des Blutes bereit sein, siebenmal zu vergeben und von vorn anzufangen.«

»Na, da sagst Du's ja selbst: in den Dingen des Blutes! Das ist's ja! Da liegen ja die Grenzen unserer Macht! Da ist eben einfach die Kunst zu Ende. Da sollte man –« Er sprang auf und lief wieder hastig hin und her, und Lohmann gab ihm recht, weil er bei seinen Worten an Reginas Handlungsweise denken mußte.

»Was sollte man?« fragte die Direktorin ernst und ruhig. »Ausmerzen? Nicht war, Franz? Ausstoßen! Du zuckst mit den Schultern! Verloren geben, Strich durchmachen und dann über den ausgewachsenen Verbrecher später mit kühlem Blute zu Gericht sitzen und sagen: ›O, dem war das schon als Kind anzusehen! Der war schon zum Galgenvogel geboren!‹ Wie nun, wenn der droben nun mal dereinst in solchem Falle sagte: ›Warum habt Ihr Euch nicht so oft vor seine Füße geworfen, mit Eurem ganzen Selbst, bis er müde wurde, über Euch hinweg dem Laster zuzuschreiten?‹ Nein, Franz, meine Überzeugung ist: Güte, die nicht zu früh müde wird, ist noch immer ein Damm gewesen, den keine Blutwelle überspringt oder unterwäscht. Solche Güte ist ein Klärbecken, in dem auch die schlimmsten Triebe schließlich unschädlich zu Boden sinken!«

Lanz war ans Fenster getreten, hinter dem der Spätnachmittag-Himmel in klarer Winterpracht funkelte. Eine Weile hörte man nur das Trommeln der Finger des Direktors auf dem Fensterbrett; denn auch Lohmann saß still neben der Frau, die mit schmerzlich zusammengepreßten Lippen starr in den harten Glanz über den Laubnitzer Bergen blickte. Es war ihm, als habe sie auch an seine Brust mit mahnendem Finger pochen wollen.

Plötzlich rückte sich der Direktor mit hastigem Rucke herum, ein verlegenes und doch glückliches Lächeln huschte durchs Stachel-Gestrüpp seines Bartes wie eine Libelle durch einen Nesselbusch.

»Sehen Sie, Herr Sanitätsrat, das sind meine Gardinenpredigten! Aber was will man machen? Sie hat wohl recht! – Also, Muttchen, wir behalten die diebische Elster – im guten Glauben, daß sie uns nicht das ganze Nest ansteckt. Aber (– hier wetterleuchtete doch eine schalkhafte Ironie zwischen den Krähenfüßen seiner Augenwinkel) – um einen abermals gesteigerten Vertrauensbeweis bin ich nun doch bange. Und Steigerung muß ja doch wohl sein, wenn's helfen soll. Wie wär's denn –«

»Ich werde das Mädchen bei mir in der Küche beschäftigen,« schnitt ruhigen Tones Frau Malwine den spöttisch gedrehten Faden durch, und Lanz ließ nur ein leises Knurren darauf hören.

Als er aber den Gast, der nun aufbrach, zur Tür hinausbegleitet hatte, sagte er draußen leise: »Das war nun ihre Rache, sehen Sie! – Zu sich in die Küche –! Hihi! – Und es graust ihr doch im Grunde vor aller Gemeinheit! – So'ne Frau ist sie nun – hihi!«

Und er lachte tief in sich hinein das Lachen derer, die einmal einen Blick auf wohlbehütete Schätze werfen lassen. –

Lohmann aber dachte, während er den purpurübergossenen Bergen zuschritt: »Das ist eine Frau, die auch eine Regina weißbrennen könnte!«

Erst weit draußen merkte er, daß er sein Weihnachtspaket im Flur des Waisenhauses habe liegen lassen.

»Schon gut!« dachte er im Weiterschreiten. »Es ist in guten Händen. ›Muttchen‹ wird's am besten verstehen, mit dem Bißchen Plunder Kinderaugen blank zu machen!«


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