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Vierzehntes Kapitel.

Mehr, als er's vorausgesetzt hatte, sah Lohmann »Stechäpfel« und »Nachtschatten« in den Gemütern der Weber und Holzschläger wuchern, und zwar immer mehr, je besser er sie kennen lernte. Eine besonders dichte Hecke davon entdeckte er nicht lange nach jener ernsten Heimfahrt mit der Direktorin bei der »Kahl-Lene«, deren »Steckbrief« Lanz in so drastischer Weise ausgestellt hatte, als er vor Monaten mit Elisabeth und Mariannen den ersten Gang durchs Dorf machte.

Der Blaßgesichtige mit dem schwarzen Schnurrbärtchen, der damals am Fenster erschien, war ein ›Böhmake‹, den sich die Lene eines schönen Tages, nicht lange nach dem spurlosen Entweichen ihres Mannes, vom Pilzesuchen jenseits der Grenze mitgebracht hatte.

Er fragte wohl nicht viel nach äußeren Reizen, und die bescheidenste Sauberkeit erschien ihm offenbar als ebenso entbehrlicher Luxus wie jegliche Arbeit und Anstrengung. Und so war er auf die einfachste Weise der Welt dadurch dauernd zu fesseln, daß ihm Lene solche Ausschweifungen fern hielt.

Sie tat es, indem sie tagsüber wie ein Pferd auf dem Acker, im Walde und in der herrschaftlichen Fron schuftete, wie's zwei Männer zusammen kaum fertig bekommen konnten. Von dem käsebleichen Bärtchenträger forderte sie nur, daß er stets bereit sei, sie in der Weise lieb zu haben, die ihrem zigeunerhaften Blute entsprach.

Weil aber schließlich auch der Faulste seine Motion haben will, so verlegte sich der Tscheche darauf, die Kinder der Lene in erfinderischer Abwechslung durchzuprügeln, wobei er auf die Abstammung väterlicherseits unter diesem Völklein des buntscheckigsten Stammbaums keinerlei Rücksichten nahm. Von diesem Gebrauch wich er auch nicht ab, als er einen und bald noch einen zweiten seines eigenen Blutes unter diesen Wildlingen wußte. Nur die Virtuosität, mit der er seines (nun wörtlich zu nehmenden) »väterlichen Amtes« waltete, hatte erheblich zugenommen, und er radebrechte nun auch schon ein drolliges Deutsch.

Bei den rastlosen Anstrengungen, die die Lene dieses mannbaren Luxusgegenstandes wegen ertrug, nahmen begreiflicherweise ihre körperlichen Reize nicht gerade zu, und auch auf die schwelende Flamme dieser Art Liebe legte sich manchmal der Frost des Überdrusses. Dann erlebte wohl die fieberäugig lauschende Schar der Kinder, die eigentlich aus lauter Stief-Brüdern und -Schwestern bestand, das Schauspiel, daß die robuste Mutter dem tschechisch fluchenden Hausgaste alle Launen wieder vergalt, die er ihnen mit blauer Striemenschrift auf den schmutzstarrenden Grund ihrer eigenen Haut geschrieben hatte.

Um die Zeit nun, in der Lohmann mit dem ersten Feuer seine neue Wirksamkeit betrieb, wählte sich eine Schwester der Lene, etwa zehn Jahre jünger als die, das schwesterliche Heim zur Zuflucht, als sie sich im Dienste eines einzelnen älteren Herrn in Breslau allzu dienstwillig gezeigt hatte.

Dank der Freigebigkeit ihres Gebieter-Liebhabers zog sie in die verlotterte Weberhütte wie eine Prinzessin ein. Leider brachte sie gleich der Lene eine Vorliebe für kohlschwarze Bärtchen in käsebleichen Gesichtern und für blanke Zähne mit, und so wehte bald in der Hütte, in der ja keine Tür das Lauschen hinderte, eine scharfe Zugluft leidenschaftlichen Widerstreites.

Der »ältere Herr« nutzte diesen »Kuraufenthalt« seiner Wirtschafterin zu einer gründlichen Erstarkung auf einer Italienreise aus, und so sollte die Schwester auch »später« noch einige Zeit bei der Lene bleiben. Dafür wollte »der Herr« ein so »hochanständiges« Kostgeld zahlen, daß es den gesamten andern Einnahmen Lenens das Gleichgewicht gehalten hätte.

Bei solchen Aussichten, und weil ja die kürzeste Frist genügt, neue Einkünfte zu unentbehrlichen zu machen, fraß Lene heroisch einige Wochen lang alle Qualen der Eifersucht in sich hinein. Aber schließlich rissen die rasenden Stürme in ihrem Gemüte doch verfrüht alle goldgesponnenen Fesseln durch.

Es war am Abend eines prachtvollen Maientages, als eine der Häuslerfrauen aus den »Dreiwässern« atemlos zu Lohmann ins Haus gestürzt kam und ihn bat, er möge doch schnell der Kahl-Lene und ihrer Schwester zu Hilfe kommen, die hätten sich gegenseitig halb oder ganz umgebracht.

Mühsam bekam er aus der erregten Frau einige zusammenhängende Sätze heraus, die ihm einen Anhalt dafür bieten konnten, was er wohl an ärztlichen Hilfsmitteln brauchen werde.

Dann eilte er mit ihr über den »Riegel« und auf einem schmalen Fußpfade unter hohen Tannen dem Hause der Lene zu. Unterwegs erfuhr er, daß sie, die Nachbarin, vor etwa einer Viertelstunde von den schreienden Kindern der Kahl-Lene gerufen worden sei. Die hätten, vom Blumensuchen heimkehrend, die Mutter im Blute schwimmend besinnungslos vorgefunden und die Tante daneben wie tot daliegend. Der Böhmake hätte sie wohl beide erschlagen, so hätten die Kinder vermutet.

»Und do sterzte ich ock a su schnell, wie ich und ich kunnde hol'wegs, nimm eis Kahl-Häusla,« fuhr die Frau fort. »Nee ober, do is mer's Blutt ver Schreck stiehn geblieba, Herr Sanitätsroat. Do loag doch de Lene über a Stuffa duba eim Kammerla ei enner unflat'ga Bluttpfitze, und – unda, ei der Stubadiele loag de Schwaster der Länge lang wie tut und hotte de Baumsäge vo der Lene ei der gebollta Hand. Ich weeß ni, ob die beeda rackerscha Weiber sich mit dar Säge rimgepriegelt hoan. Vermuttlich hoat de Lene de Schwaster zu a Stuffa runder geschuppt, und die hoat'r doderbeine, ober schunt vorhar mit dar schoarfa Säge a ganza rechta Oarm zerfleeschert.«

»Ja, war denn gar kein Zeuge bei dem Streite dabei?« fragte Lohmann.

»Nu nee, vermuttlich ni! De Kinder woarn doch ebenst ei a Himmelschlüsserlan, und dar verpuchte Biehmake, im dan doas Gestreite zwischer da beeda Schwastern schunt lange gieht, stoand wie anne Koalkwand a su bloaß derbeine. 's grißte vo da Madaln der Lene soite, wie mer, und mer stoanda a su im se rim: ›Och, na, woart' ocke, Franze, Du hust ju de Mutter und de Tante derschloin!‹ Und a andres soite: ›Na woart' ocke, doas kust a Koop!‹ Do fing dar kasebleeche Dingrich zu mecksa oan uff Biehmsch, doas ma'm nischte ni verstiehn kunnde. Ha koan suster jchunt ganz gutt deutsch reda. Ober hinte ging's ni. Ha bruchte kee Wort richtig raus. Nee, und über dam, do finga de Kinder wieder oan zu schrein und zu lamentieren, doas bale und liefa de Leute aus olla Häusarn z'somma. Ich ober duchte, 's beste wär', ma ging dohie glei ver de rechte Schmiede, eeb (ehe) de Lene und verblut't sich ganz. Und do hoa ich Ihn haltig gehullt, Herr Sanitätsroat.«

»Das war brav von Ihnen, Frau Franz!« lobte Lohmann und trat nun mit der befriedigt schmunzelnden Frau in die zerfallene Elendsbehausung ein, wo er sich mühsam den Weg durch einen dichten Menschenknäuel bahnen mußte. Wie er dann neben den beiden Opfern dieser Tragödie im Winkel stand, dachte er bei sich: »Ein Nachtstück à la Rembrandt!« Man hatte nämlich einen langen, dünnen Kienspahn angezündet, eine »Schleeße«, und in einen Ring des Türgerüstes zwischen Kammer und Stube gesteckt. Sein schwelend-rotes Licht fiel am grellsten auf die hingesunkenen Frauen. Ihre beiden Gesichter, wächsern und fahlgelb, schimmerten in einem matten Phosphorglanze inmitten des dunklen Umkreises der Gaffer, die nur verlorene Strahlen sparsam streiften, so daß hier ein Handrücken, dort eine Nasenspitze, dort ein blanker Knopf oder eine speckig-glänzende Lederhose aufleuchteten.

Zunächst drängte Lohmann all die müßigen Zuschauer hinaus, befahl auch, die Kinder mitzunehmen, die immer noch fassungslos schrieen, und behielt nur drei ihm schon näher bekannte Frauen zurück.

Der Tscheche war wie vom Winde weggeblasen. Man hat ihn in Laubnitz nicht mehr gesehen. –

Ein flüchtiger Umblick in dieser Höhle voll Schmutz, Lumpen, Laster und Gemeinheit überzeugte Lohmann sogleich, daß es hier an allem fehle, was zur Pflege so schwer Verletzter notwendig sei. Nach kurzem Nachdenken schickte er darum eine der Weiber mit einem Zettel zu Frau Wachler und trug dieser auf, Betten, Verbandzeug, Wäsche, Wein u. a. herzusenden. Mit Hilfe der andern Frauen legte er zunächst der Lene einen Notverband an und dann erst konnte er sich der andern zuwenden.

Da fand er, daß ihr Sturz über die Stufen herab, den er gleich der Franzen als Ursache des Unheils betrachten mußte, zwei Menschenleben zugleich gekostet hatte. Es blieb nur übrig, die Starre in einem der verlotterten Bettgestelle in der großen Stube aufzubahren, das sonst mehreren aus der Kinderhorde zu gemeinsamer Lagerstätte diente. – – –

* * *

Noch am späten Abende schickte Lohmann ein Briefchen an Frau Elisabeth und bat sie um ihre Unterstützung. Sie kam sogleich, und in dem hohen Lehnstuhle, den der Sanitätsrat für sie hatte aus seiner Wohnung holen lassen, durchwachte sie die Nacht bei der in entsetzlichen Delirien rasenden Lene, eine handfeste Holzschlägersfrau zur Seite.

Es war keine leichte Aufgabe.

Bald rief die Lene den Tschechen mit leisen Schmeichellauten, bald überschüttete sie ihn mit unflätigen Schimpfnamen, wie sie Elisabeth vorher nie gehört hatte, und die ihr das Blut erstarren machten. Dann wieder stand der Rasenden schäumende Wut vor dem Munde, Wut auf die Schwester, die ihr den Liebsten gestohlen haben sollte, und die nun daneben in der Stube lag, tot und kalt.

Draußen aber, wo ums Haus der Lene die »brennende Liebe« üppiger sproßte als um irgend ein anderes Haus im Dorfe, trotzdem sich niemals zu ihrer Pflege eine Hand rührte, schmetterten im Tannengehege die Nachtigallen ihr schluchzendes Brautlied in die Maiennacht hinein. –

Da riß der einsam wachenden Frau der harte Widerspruch des Lebens wieder einmal die Seele wund, und sie betete mit reiner Lippe für ihr reines Kind um Bewahrung vor den Schlammfluten der Leidenschaft.

Und auch Lohmann schüttelte es mit Fäusten, als er gegen Mitternacht auf dem schmalen Riegelsteige im hellen Mondlicht heimwärts schritt, bei der Erinnerung an das Drama aus den Tiefen, dessen Schlußakt er eben mit durchlitten hatte.

Denn ein Mit-Durchleiden war's für ihn gewesen!

Lene und Regina!

Es war eine anwidernde Parallele; aber sie war nicht abzuweisen.

Stürmten sie nicht beide über Leichen?

Und mußten sie das? Konnten sie nicht anders? Gab's für so was keine, gar keine Fesseln?

»Für das bluttriefende Weib da unten kaum!« überlegte er im langsamen Gehen. »Sie kannte in ihrem vertierten Dasein keinen höheren Genuß als die Umschlingung des Mannes. Aber die andre? Mein Kind? Blieb sie wirklich so arm am Geist neben uns, daß keine inneren Schätze ihr für so was Ersatz bieten konnten? Gab's für sie in diesen Brandungen des Blutes wirklich gar keinen Felsen geistiger oder Gemütsgröße, auf den sie sich hätte retten können?«

Er stand nun auf dem kleinen Wiesenplänchen über seinem Hause und ruhte einen Augenblick auf der Bank, wo er in diesen milden Frühlingstagen schon oft gesessen hatte. Der Mondschein badete Wälder und Täler in seinem taghellen Glanze und verwandelte die Fenster der Häuserzeile drunten in blitzende Augen, die heiter zu dem nächtlichen Beschauer auf dem steilen Hügel droben hinaufblinzelten. Ein ruhiges Atmen ging durch die nächtliche Stille, und wenn einer der ganz dünnen Wolkenschleier am Monde vorüberzog, dann war's, als dehne sich das schlafende Tal drunten einmal zwischen den Pfühlen der frühlingsgrünen Waldberge, wie ein Schläfer, den ein wohliger Traum mit süßer Unruhe erfüllt.

Aus den Formenmassen, in die das Mondlicht die Einzelheiten drunten zusammenballte, suchte Lohmann die Umrisse der »Villa« heraus, und als er sie gefunden und eine Weile auf sie hingesehen hatte, unterschied er auch deutlich den Balkon vor den Fenstern des Mariannenstübchens, und die Fenster blinkten im Mondlicht wie zwei gute, ferne Sterne mild zu ihm herüber.

Und wie er so spähend stand, drang aus den Gehegen drunten auch zu seinem Ohr das schluchzende Hochzeitslied der Nachtigallen herauf, und er dachte wohl einen Augenblick auch wie Frau Elisabeth an die eine, die auf der Bahre, und an die andere, die in irren Fiebern lag, und auch er erschrak über die Kaltblütigkeit, mit der die Natur über das grausigste Menschenleid hinweggeht.

Weil er aber nicht in der dumpfen Kammer zwischen Tod und Fieberwahnsinn Wache hielt, sondern auf freier Höhe stand, umflutet von weichem Lichte und umkost von ahnungsschwangeren Frühlingslüften, und weil er auf blinkende Fenster niedersah, hinter denen eine reine Seele keusche, stille, heitere Träume wob, zerrann in ihm das Weh in Wehmut, und die Schreckensbilder rückten weiter und weiter von ihm ab, wie sich die Landschaft im Mondlicht streckt, und mit dem Nachtigallenlied schwebten seine Gedanken davon.

Als sie ihm wiederkamen, wußte er nicht recht, wo sie gewesen waren, im fernen Lande der Jugend oder in den Träumen drunten hinter den blinkenden Fenstersternen.

* * *

Wenn die gräßliche Wunde der Lene vor Infektion bewahrt werden sollte, mußte zunächst einmal der Schmutz um die Verletzte her beseitigt werden. Diese Arbeit, die Lohmann in Art und Größe mit der des Herkules verglich, unternahm schon in den nächsten Tagen Elisabeth unter dem Beistande ihrer Frau Berndt, und auch Lohmanns Hausmädchen mußte helfen. Es war günstig, daß die Hütte nur durch den Weg vom Bache getrennt lag; denn es hätte zur Beseitigung dieses jahrzehntealten Schmutzes wohl auch das Herkules- Mittel notgetan: am besten wäre der Bach gleich durchs Haus geleitet worden.

»Aussicht auf sichern Erfolg haben wir auch so noch nicht!« äußerte sich Lohmann aufgebracht Elisabeth gegenüber. »Wasser hilft da kaum! Hier müßte man schon alles und jedes mit zweiprozentiger Karbollösung abwaschen. Am besten wär's, die ganze Bude zu verbrennen!«

Und er entwickelte den Plan: er werde die »Kaluppe« der Lene abkaufen, sie niederreißen und ein vorbildliches Logierhaus aufbauen lassen. Vermehrung geeigneter Wohnungen für Sommergäste sei für die Laubnitzer das einzige Mittel, aus ihrer wirtschaftlichen Notlage herauszukommen.

Auf solchem neutralen Boden begegneten sich die beiden Menschen, die sich einst so viel zu sein meinten, nun oft, und sie vermochten's nun auch schon, auf Momente Auge fest in Auge ruhen zu lassen.

Von der Vergangenheit aber sprachen sie nie miteinander. Stillschweigend hatten sie's aufgegeben, die Schleier zu lüften, die doch nun einmal immer noch für beide auf ihrer gänzlichen Trennung von damals lagen.

Und auch von Mariannen sprachen sie nie! – – –

Am Begräbnis von Lenens Schwester hatte die Natur den großen Schmuck hervorgesucht, als gelte es einem Hochzeitstage.

Elisabeth blieb bei der immer noch fiebernden Lene. Lohmann und Marianne folgten dem Sarge inmitten eines kleinen Grabgeleites.

Auf dem Wege durch den »süßen Grund« wühlten in Lohmann Gedanken und Vergleiche in beunruhigender Weise.

War wirklich erst ein halbes Jahr verstrichen, seit er auf demselben Wege hinter dem Sarge seiner Frau herfuhr, ein innerlich Zerschmetterter?

Wohl, es sind nicht die Stunden, die die Zeiten dehnen, die inneren Erlebnisse tun's! Und er hatte in diesem halben Jahre seiner Weltabgeschiedenheit innerlich sicher mehr erlebt, als in manchem Jahrzehnt seines vorangegangenen, äußerlich so bewegten Lebens.

Aber sollte das schon hinreichen, so tiefe Narben auszuheilen? – (und sie waren schon am Ausheilen!) – Und so tiefe Furchen zu glätten? – (Und sie waren schon zum großen Teil geglättet!) –

Nein, es lag wohl daran, daß er nun in einem ganz, ganz andern Wasser schwamm als vorher und an Gestaden anlegte, die ihm früher in fernen Nebeln verhüllt gelegen hatten!

Und unter diesem neuen Himmel, da regte sich in ihm dies neue, dies sonderbare zweite Leben und ward geboren, und nun lebte er es bewußt, ein Junger wieder in diesem Leben trotz seiner grauen Haare.

Und nicht überhaupt ein Junger noch?

Ein Verjüngter? – – –

Bei diesen Gedanken ging ein Ruck durch seinen elastischen Körper, und Marianne, die den Schweigenden von der Seite beobachtet hatte, sah, daß Trauer nicht der Grund seines Schweigens sein konnte. Denn in seinen großen, braunen Augen sah sie so viel jugendliches Feuer sprühen, daß sie bei sich dachte: »Er lebt noch einmal wieder auf! Und er meinte doch, er habe nur noch das Grab da vor uns zu hüten! Das ist Onkels und Tantens Verdienst!«

Und sie war ihnen von Herzen dafür dankbar.

Lohmann aber dachte in dem Augenblicke: »Wer sollte nicht jugendlich werden, wenn ihm die Jugend in solcher Gestalt zur Seite schreitet?«

Und er sah Mariannen mit einem Blicke an, vor dem sich ihre Seele schloß, wie ein Mimosenblatt bei der kecken Berührung durch Menschenhand. – –

Am Grabe fanden sie einen fremden Geistlichen, einen jungen Mann, stattlich, breitschultrig, mit schwarzem, rundem Vollbart.

Der neue Gersdorfer Vikar sei's, der die Pastorstelle vertretungsweise verwalte, weil der bisherige Geistliche eine andre Stelle übernommen habe, hörte Marianne die Frauen hinter sich flüstern.

Ihr war's, als habe sie den Mann schon einmal gesehen – irgend wo, in einer großen Umrahmung, oder nein, eher in einer lieblichen, zwischen Wiesen, Hecken, an rinnenden Wässern! –

Sie verlor sich ganz und wurde fast verwirrt, so daß sie nicht mehr auf sein ruhiges Gesicht mit den kräftigen, ein wenig alltäglichen Zügen hinsehen mochte.

Auch Lohmann hatte einen Augenblick die Neuerscheinung gemustert.

»Für einen Arbeiter am Geist etwas robust!« dachte er und blickte nun zu dem Porphyr-Obelisk hinüber, der in der Maiensonne heiter-lebenswarm leuchtete, und erst, als der Vikar seine Grabrede begann, wurde der Sanitätsrat von der Betrachtung des Denkmals und Grabes abgezogen.

Die Stimme des jungen Geistlichen klang metallisch und voll. –

»Das kommt aus einem prachtvollen Thorax!« dachte Lohmann mit anatomischem Wohlgefallen. »Der Mann weiß, mit seinen Stimmitteln umzugehen! Hoffentlich sagt er auch was Gescheites!«

Und sein Wunsch, den er – »merkwürdiger Weise« fand er selbst, – gar nicht so recht ernst gemeint hatte, erfüllte sich. Der Geistliche wußte ihn zu fesseln. Es gefiel ihm schon sehr, daß die in schlichtem Satzbau gefügte Rede mit dem Eingeständnis begann, es falle ihm, dem Prediger, eigentlich schwer, an diesem Sarge zu sprechen. Denn er habe so gar keinen Einblick in das Seelenleben der Verstorbenen gehabt, die unter so eigenartigen Umständen dahingerafft worden sei in erschreckender Jähe. Gewiß, es wäre wohlfeil, hier zu verdammen! (Lohmann nickte zustimmend.) Aber wer hat uns zum Richter gesetzt? Es sei ihm von völliger Religionslosigkeit der Verunglückten gesagt worden. Gewiß hoch beklagenswert, wenn die Anklage zutreffend sein sollte! Aber was hülfe es noch, wenn er hier darüber wettern wolle? Warum Religiöses verschwenden, wo die Religionslosigkeit nicht mehr zu bessern ist?! Nein, nicht in den Sarg hinein wolle er reden, sondern über ihn hinweg in die Herzen derer, die um dies Grab herstünden. Ermahnen wolle er jeden: sorgt an Eurem Teile, in Eurem engsten Kreise dafür, daß keiner Eurer christlichen Brüder und Schwestern mehr solch ein Ende findet! Und dazu müsse sich ein jeglicher abringen: mehr Liebe zum Mitmenschen, mehr Zucht bei sich und den Kindern, mehr gutes Beispiel, mehr Beistand in Not, mehr mutige Warnung beim Straucheln, mehr hilfreiche Hände beim Fall, mehr Verständnis für ihn, mehr Mitleid nach ihm, mehr Fürbitte, mehr Gebet und vor allem mehr Glauben an den, der gewiß recht leitet und recht richtet, und auch diese Mitschwester mit gerechtem Maß richten werde, wenn's wahr sein sollte, daß sie in der Blüte ihrer Sünden dahingegangen sei. – – –

Je länger der Vikar sprach, desto mehr verlor sich das Robuste aus seinem Wesen, und auch Lohmann fand, daß es sich schließlich zu gewinnender Kraft und Männlichkeit veredle.

»Es ist immerhin zu rühmen,« sagte der Sanitätsrat zu sich selbst, »wenn jemand bei solcher Jugend schon so viel reine Menschlichkeit in sich trägt. Das Studium hat wenig an ihm verdorben; denn dazu ist er noch zu jung, daß das Leben schon so viel hätte an ihm bessern können.«

Ähnliches sprach er auch dann Mariannen gegenüber auf dem Heimwege aus, den sie gemeinsam antraten, nachdem er noch eine Weile allein am Grabe seiner Frau gestanden hatte.

Sie wählten einen Abkürzungsweg durch den Wald, weil sie zum Hause der Lene zurück wollten.

Marianne gab Lohmann auf seine Bemerkungen über den Vikar nur einen befangenen Bescheid, und als sein Blick ihr Gesicht streifte, erschienen ihm ihre Augen traumhaft versonnen.

»Ihr spukt der Mai im Blute!« dachte er lächelnd. »Und ich Narr quäle sie mit Seelen-Analysen!«

Währenddes durchquerten beide ein sanft ansteigendes Wiesenplänchen. Anemonen, Himmelschlüssel, gelbe und blaue, Goldsterne und Milzkräuter besäumten den hartgetretenen Fußpfad, und Marianne bückte sich oft, um der Mutter einen Frühlingsstrauß heimbringen zu können. Wenn sie sich dabei elastisch in die Knie sinken ließ oder ihre schlanke Gestalt biegsam wie eine Gerte zum Boden hinbeugte, stand Lohmann staunend hinter ihr, staunend darüber, wie's möglich sei, dreißig und mehr Jahre immer wieder spurlos weggewischt zu sehen, wie den Hauch auf einer Fensterscheibe!

Denn war's nicht genau wie damals, als sie meinten, die Oderufer prangten nur in so herrlichem Frühlingsschmucke, um ihren Liebesfrühling zu zieren?

»Genau so?« dachte er wehmütig und schalt sich einen Fant. »Genau? Vergiß nicht, daß sie Elisabeths Tochter ist, und daß du in grauen Haaren hinter ihr stehst!«

Nun schritt sie ihm in ihrem leise wiegenden Gange voran. Über ihnen spannte sich das Buchengeäst aus, gleich einem vielzwickeligen Domgewölbe. Aus seinem silbergrauen Gezweig brachen hunderttausendfach mit ungestümer Hoffnung zartgrüne Blättchen hervor, und durch den lichtgrünen Schirm fielen häufiger als im Sommer die Sonnenlichter auf den mosigen Waldboden. Und auch in Mariannens Kastanienhaar. Dort spielten sie im unbändigen Stirngelock als braungoldne Reflexe und entzündeten dann auf den blutfrischen Lippen des Mädchens den Purpur der Jugend.

»Wie schön!« dachte Lohmann, neben ihr schreitend. »Wie jung! Wie schön!«

Und er mochte sich's nicht wehren, Freude daran zu haben.

Ihr Weg mündete in einen Stern von Waldpfaden ein. In seinem Brennpunkte stand eine Baumruine, kurzweg »die Buche« genannt. Bäume aller Jahrgänge bildeten einen Zirkel um sie her; denn an ihr stießen auch viele »Jagen« zusammen.

»Wie ein ehrwürdiger Patriarch steht der alte Bursche da!« sagte Lohmann, während Marianne den vielfach vom Blitz zerspellten, mehrhundertjährigen Stamm staunend betrachtete. »Und um ihn her der Nachwuchs aus allen Generationen, die er nach sich entstehen sah. Welch furchtbares Schicksal für einen Absterbenden, so viel Junges, Frisches neben sich emporkommen zu sehen!«

»Es ist ein Baum, Herr Sanitätsrat,« entgegnete Marianne mild lächelnd, »ein Baum und kein Mensch!«

»Ist denn da so viel Unterschied? Strebt das nicht auch wie wir nach Licht und Luft? Und klagt und stöhnt es nicht auch, wenn die Schneewuchten drauf lasten oder die Stürme an ihm zausen? Und lauscht es nicht auch dem Murmeln des Baches, und sehnt sich's nicht auch nach Nachtigallenliedern?«

Marianne sah ihn befangen an. Ihr gerader Sinn bäumte sich gegen alles, was auf verschlungenen Pfaden daherkam, und mit zögernder Bescheidenheit sagte sie: »Ja, sind das nicht alles Bilder und Gleichnisse?«

»Was ist nicht Bild und Gleichnis, mein Kind?« fragte er hastig zurück. »Ist nicht alles nur ein Gleichnis? Sind wir nicht selbst nur Bild und Gleichnis?«

»O, daß wir's dann von etwas recht Gutem wären!« seufzte sie da als Eberhard Hohbergs würdige Tochter.

»Nehmen wir mal den Begriff der Jugend!« setzte Lohmann das Gespräch eifrig fort, während sie jetzt auf einem breiten Waldwege talwärts schritten. »Wieviel vom Bilde liegt darin! Vom Wandel-Bilde sogar! Wieviel Schwankendes und Dehnbares! Wer ist jung? Tun's die Jahre? Der Vikar da (er wies mit dem Daumen über die Schulter) zählt ihrer noch nicht halb so viel als ich, und aus seinen Worten sprach doch so viel Abgeklärtes. Und müßte ich mich nicht eigentlich als alten Mann fühlen? Dennoch wage ich's wie ein ganz Junger, nun noch einmal eine Wirksamkeit bewußt und systematisch ganz von neuem anzufangen.«

»Wie schön, daß Sie das tun, Herr Sanitätsrat!« rief Marianne mit einer Stimme, in der sein feines Ohr eine ganz neue Nuance entdeckte. Es war ein Ton, schwingend, voll zugleich von Glück und Seufzen, ein verhaltener Ton war es, wie der Klang eines silberhellen Glöckleins hinter festgeschlossenen Turmluken.

Und über diesem Tone vergaß er, daß sie sich nicht zu dem geäußert hatte, was er seine »Jugend« nannte.

Ihr Weg bog an eins der »Dreiwässer« heran, und begleitet von der schäumenden Unrast des Baches, gingen sie immer in hurtigem Schritte bergab, wobei Marianne bald eine kleine Waldwiese bewunderte, bald die schlanke Urkraft himmelhoher Tannen, bald den Silberschuppenglanz, der aufblitzte, wenn das Wasser mit keckem Sprunge über bemooste Blöcke hinwegsetzte.

Lohmann sagte nur wenig zu all ihrem Entzücken: er lag förmlich auf der Lauer nach dem Untertone, den er vorhin in ihrer Stimme entdeckt hatte.

Jetzt traten sie auf die Wiese an der Waldwärterhütte hinaus.

Im Buchenhochwalde drüben am First des »Riegels« rief neckend der Kuckuck, und Marianne schmollte, daß sie gerade heute, wo sie ihn zum ersten Male im Jahre höre, kein Geld bei sich trage.

»Da wird's wieder knapp zugehen das ganze Jahr!« sagte sie und lachte doch herzlich vergnügt dabei.

Dann aber vergaß sie schnell Kuckuck und Geld; denn sie sah ein Rudel Rehe behaglich äsend die Wiese überqueren.

»Sehen Sie doch, Herr Sanitätsrat,« flüsterte sie, »wie graziös und zierlich! Es ist so etwas Apartes, Verwunschenes in diesen Tieren!«

Und als die Rehe, durch einen Ton scheu gemacht, mit langen Sätzen ins Dickicht sprangen, fuhr sie sinnend fort: »Ich habe es immer so sinnig gefunden, daß die Märchen Prinzenseelen in sie hineindichten. Ich habe noch keinen lebendigen Prinzen gesehen; aber wenn sie viel anders sein sollten als Rehe, ich meine: weniger zierlich und vornehm, dann will ich auch lieber keinen kennen lernen!«

Lohmann lächelte gerührt.

»Ein so schlank gewachsenes, kraftvolles Weib,« dachte er, »und manchmal von so kindlichen Einfällen! Ob wohl Regina jemals auch nur Ähnliches gedacht haben kann? Ich bezweifle es!«

Ein schmaler Fußpfad leitete sie über die Wiese abwärts. In ihr saftiges Grün waren die weißen und goldgelben Blütensterne der Frühlingsblumen in verschwenderischer Fülle eingestickt. Und wie Marianne nun so schlank zwischen ihnen vor Lohmann hinschritt, und der leichte Abendwind ihr Haar aufkräuselnd durchblies, und der ganze schöne Linienfluß ihrer Gestalt von dem hellgrünen Grunde der abfallenden Matte so wirkungsvoll hervorgehoben wurde, da dachte Lohmann: »Schade, daß sie nicht ein weißes, duftiges Gewand trägt, statt des schwarzen Trauerkleides! Es müßte sein, als schritte da die Jugend selbst im Blumenkranze leibhaftig vor mir her.«

Und die Seele des alternden Mannes dehnte sich in der krampfhaften Sehnsucht: frisch und übermütig, so wie er eigentlich nie gewesen war, als ein ganz Junger, Beginnender, im Schmuck des braunen Haares und aller Jugendtorheit neben ihr gehen zu dürfen, Hand in Hand, jauchzend, jubelnd, zur Ferne strebend, hinaus aus den grünen Wäldern in die lockende Ferne, die da durch die Talöffnung hereinlachte, sonnig, hoffnungsgrün, voll Märchenreiz und Wunderverspruch. –

In solchem Sehnen hatte er gar nicht recht gemerkt, daß sie nur noch wenige Schritte bis zum Hause der Lene zu gehen hatten.

Da wandte sich Marianne plötzlich zu ihm herum, und ihm die Hand entgegenstreckend, sagte sie: »Herzlichen Dank, Herr Sanitätsrat, daß auch Sie in seinen Worten so viel Abgeklärtes gefunden haben!«

Sie brach ab und war wie mit Blut übergossen. Lohmanns staunendes Unverständnis brachte ihr erst zum Bewußtsein, wie sonderbar er diese Worte finden mußte. Fand sie sie doch selbst höchst verwunderlich. Sie hatten so aus ihr heraus getönt, als spräche ein ganz andrer wie sie selbst.

»Ich –« fuhr sie stockend fort, »ich meinte den neuen Vikar! Selbstredend! Und ich freue mich immer so, wenn Ihr Urteil mit meinem Urteil übereinstimmt, Herr Sanitätsrat!«

Er wußte nicht recht, was er ihr antworten sollte; denn ihre Worte hatten sein Empfinden verknäult. Und ehe er's zur Klarheit irgend eines Entschlusses entwirren konnte, trat sie vor ihm ins Haus ein, von ihrer Mutter mit hastiger Freude umarmt und begrüßt.

Offenbar hatte sie schon mit Unruhe auf Mariannens Rückkehr gewartet. –


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