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Siebzehntes Kapitel.

Ende August kam durch die Anregung der Direktorin ein gemeinsamer Ausflug des »Lesevereins« nach dem »Kurzen Berge« zustande, auf dem die höchst gelegene Aussichtswarte des Waldgebirges stand.

Lohmann wartete in der Veranda der Villa mit Elisabeth und Marianne auf die Ankunft der Gersdorfer, die er durch Wasner mit dem Schimmel holen ließ.

Als das Gefährt pünktlich zur frühen Vesperstunde eintraf, war der Sanitätsrat einen Augenblick sehr betroffen: der Vikar kam mit dem Ehepaar Lanz angefahren.

Die Direktorin erklärte diesen (von ihr freundlich bedienten) »Zufall« und freute sich in ihre Seele hinein, gleichmäßig an dem verbissenen Vergnügen ihres Mannes über ihre Kriegslisten wie an dem stillen Glücksfeuer, das in Mariannens Augen mit ruhiger Glut aufgeflammt war.

Durch die Gewohnheit der letzten Monate hatte sich in dem kleinen Kreise schon ein eigenartig gefärbter, vertraulicher Verkehrston herausgebildet. Der litt heut ein wenig durch die Anwesenheit des Vikars, mehr noch durch die starke innere Erregung des Sanitätsrates.

Denn dazu steigerte sich allmählich sein anfängliches Befremden.

Der Vikar war ihm heut zuwider. Er wunderte sich selbst, warum. Vielleicht, weil sich das Wesen dieses noch nicht dreißigjährigen Mannes immer in so nervenerregender Weise gleich blieb.

So ging's am Kaffeetisch heut steifer zu, und Lohmann zeigte eine ihm sonst ganz fremde Neigung, allem und jedem zu widersprechen.

Noch in den frühesten Nachmittagsstunden schlenderte man dann langsam in zwei Gruppen, Herren und Damen getrennt, das Dorf an der »Dreiwasserseite« hinauf. Bei einem Häuschen, das höchst malerisch auf einer kleinen Wiese am Bache lag, bog ein Weg von der Dorfstraße ab in den Wald hinein. Hier schlängelte er sich bald auf einer schmalen Wiese ziemlich steil bergan.

Die Frauengruppe blieb ein wenig zurück, während die drei Männer, in ein eifriges Gespräch geratend, rascher emporstiegen.

Wo Direktor Lanz war, gab's mit Männern nur einen Gesprächsstoff: er erzählte, wieviel Mühe er sich schon gegeben habe, einem der Handweber, an dessen Hause sie vorhin vorübergegangen waren, seine halbwüchsigen Burschen »auszuspannen«, damit sie entweder in die Fabrik oder – was ihm lieber sei – bei einem Gersdorfer Handwerker in die Lehre einträten.

»Aber meinen Sie, das gelingt? I bewahre! Himmel und Hölle kann man ihnen vorreden! Sonnenklar kann man's ihnen beweisen, welche Vorteile sie davon haben werden: sie bleiben bei ihrer starren, blödsinnigen Weigerung.«

»Und die Gründe?« fragte Lohmann.

»›Mer braucha se zum Spuln und Weeba!‹ lautet der eine, und: ›Se sein zu schwächlich zu woas andern!‹ der zweite. Und so hockt das weiter bei einander, hungernd, frierend, verkommt und hat an nichts Überfluß als an Kindern. Daran aber gründlich. Denn Vater wird so was schon vor der ersten Gestellung.«

»Traurig!« warf Lohmann wieder ein. »Wie erklärt man sich aber dieses Festklammern an ein überlebtes Gewerbe?«

»Aus der Indolenz dieser Menschen!« stieß Lanz hervor. »Sie sind nicht mehr fähig, einen Entschluß auch nur zu fassen, wieviel weniger, einen auszuführen.«

»Ist's nicht auch ein wenig die Wurzelkraft des Bodenständigen, was sie festhält?« fragte bescheiden der Vikar. »Sie haben doch nun einmal das Weberblut. Und haben's seit Jahrhunderten.«

»Wenn nur die Zeitläufte nach so was fragten!« brummte Lanz, und die Herren blieben stehen, um auf die Damen zu warten.

Sie übersahen von ihrem Platze aus die Wiese, die sie heraufgestiegen waren. Charaktervoll geschwungen wand sich der rote Weg durch ihr mattes Grün. Am unteren Wiesensaume aber ward jetzt ein mächtiger Felsen sichtbar, ganz von Tannen umhegt und von Moos überwuchert. Ein Bänkchen an seinem Fuße, vom nächsten Sommergast-Bewirter hier aufgestellt, versprach den kühlsten Schattenplatz. Nur zwei, drei Hüttendächer wurden in der Talfurche sichtbar, und jenseits erhob sich mit steiler Flanke der Buchenhang des »Riegels«.

»Wie traulich und friedvoll!« sagte der Vikar, zu Lohmann gewendet. »Und das sollte nicht doch manchmal genügen zu einem Aufschwunge der Seelen über alle Mühsal und Alltagsnot? Mir fällt's schwer, daran zu zweifeln.«

»Mir auch!« mußte ihm der Sanitätsrat zugeben; aber er tat's nicht gern.

»So liegt's doch wohl nur dran, daß ihnen niemand so recht die Augen auftut für diese tröstenden und erhabenen Schönheiten!« fuhr der Vikar fort, und Lohmann dachte mit leiser Beschämung daran, daß er diesem Manne »alles Schöngeistige« abgesprochen habe.

»Nun,« lachte Lanz, und man konnte nicht erkennen, ob's ein höhnisches oder bemitleidendes Lachen sei, »die Herren sind ja wacker drauf und dran mit ihren Kunstbestrebungen! Hoffen wir auf Erfolg! Und,« setzte er ernst hinzu, »wenn's denen da drunten nichts nützt, nützt es doch Ihnen, die sich mühen. Und das ist ja auch 'ne ganze Menge.«

Jetzt ärgerte sich auch Lohmann über den kaustischen Alten; aber er mußte ihm im Herzen doch recht geben. Mit einer ihm selber fremd erscheinenden Reizbarkeit ringend, stieg er so schweigend neben der Direktorin bergan. Hochstämmige Tannen und Buchen verstrickten über ihnen ihr üppiges Gezweig zu einem dichten Sonnendache, und zwischen den Felsblöcken am Bache, der fadendünn zu Tale sickerte, entfalteten mannshohe Farrenkräuter ihre tüpfelübersäten Wedel. Ringsum atmete alles Stille und Kühle.

In Lohmanns Gemüt aber war's schwül und stürmisch. Und das Quälendste für ihn selber war, daß er nicht wußte, warum.

Marianne war unterdes mit dem Vikar ins Gespräch geraten. Sie erkundigte sich, wie er sich eingerichtet habe, wie und wo er verpflegt werde und nach Ähnlichem, was Frauen beschäftigt. Aber es lag hinter den schlichten Fragen etwas, was den Vikar wie laue, kosende Abendluft umfächelte, und ob er gleich nach Lohmanns Meinung etwas zu »robust« geraten war, diesen Hauch spürte er doch.

Die Unterhaltung der beiden jungen Leute wurde immer eifriger, ohne daß sie damit etwa an Tiefe oder Bedeutung zugenommen hätte. Der Zauber lag einzig darin, daß ihre Worte einander suchten. Er aber ließ sie so hastig reden, daß ihre Wangen glühten, und in demselben Tempo beschleunigte sich ihr Marsch.

So geschah's, daß sie bald ein gut Stück von den andern getrennt waren.

Nach etwa einer halben Stunde Steigens traten sie wieder aus dem Walde heraus, diesmal auf ein von steinigen Äckern bedecktes Bergjoch, auf dem Kartoffeln und spärlich stehender Hafer zu reifen begannen. Nach vorn erschloß sich ein romantischer Blick in eine tief eingebettete Dorfzeile. Ihre letzten Häuser klebten am Abhang des »Kurzen Berges«, dessen Gipfel sich links vom Joche dicht bewaldet erhob.

Die beiden jungen Menschen trugen zu dieser Stunde zuviel lachendes Land in sich, um für die Romantik des Tales, das vor ihnen sonnig erglänzte, Sinn zu haben, und ohne zu rasten, in dem dunklen Drange, dies köstliche Alleinsein noch ein wenig ausdehnen zu wollen, gingen sie weiter auf dem wiederum stärker ansteigenden Wege und traten in den Hochwald des Gipfels hinein.

Es umhegte sie jetzt eine geschlossene Tannenwand. Schlank und rundum mit grünen Ästen besetzt, standen die Bäume in luftigem Abstand. Stark duftende Luft umhauchte die Wanderer, und Marianne trug im Gewirr ihres Stirngekräusels einen leisen Terpentingeruch mit sich fort, ein Andenken, das ihr der Wald bescherte.

Sie gingen jetzt schweigend dahin; die dunkelgrünen Nadelvorhänge rund umher gaben ihnen das Gefühl eines Alleinseins, das sie mit etwas Süßbetäubendem umhauchte. Und das lag nicht im Duft von Harz und Terpentin; es kam aus den Kelchen der Wunderblumen, die nur einmal im Leben aus den Fußtritten des Menschen erwachsen: auf der kurzen Strecke Weges, die zwischen dem eben erst erkannten und dem eingestandenen Liebesglück liegt. Kurz muß sie sein, diese Strecke, wenn sie dicht voll solcher Wunderblumen stehen soll; denn wenn sie sich in die Länge streckt, werden sie von den Schlingpflanzen der Sehnsucht erwürgt. Jenseits der Mark des Eingeständnisses aber lachen und duften sie nur noch vereinzelt hie und da im Nesselgestrüpp des Lebens.

Marianne und der starke, zuversichtliche, milde Mann an ihrer Seite gingen jetzt die kurze Wunderblumenstrecke. Als sie am Waldsaume noch einmal stehen geblieben waren und, ihr alltägliches Gespräch unterbrechend, sich nach den andern umgesehen hatten, da waren auch einen Herzschlag lang ihre Blicke aneinander haften geblieben, und da las es einer aus dem Auge des andern, daß sie sich liebten, lieben mußten, ob sie's wollten oder nicht. – –

Wenige hundert Schritte nur gingen sie so wie auf wogenden Blütenwellen dahin; aber sie haben später immer gemeint, es müßten wohl Stunden seligen Schweigens gewesen sein. In Wahrheit konnten's diese Seelen nur wenige Augenblicke unausgesprochen lassen, was so schnell und mit atemraubender Gewalt über sie gekommen war.

An der Stelle, wo sich der Waldweg in eine breite Schneiße umbog, die geradlinig den Gipfel hinauf und zu dem hohen Aussichtsgerüste hinführte, das ihn krönte, blieben sie wieder stehen, scheinbar, um auf die andern zu warten.

Und wieder fanden sich, wie sie – einander im Wuchse fast gleich – so Seite an Seite standen, ihre Blicke und ließen nicht mehr von einander, gleich fest verschlungenen Händen. Mariannens Gesicht aber überflutete eine purpurne Welle, und es hob ein Brausen vor ihren Ohren an, als brächen aus den Tiefen des Berges aufs neue die Feuerstürme hervor, die ihn einst vor Jahrmillionen aufgetürmt hatten.

Und wie aus weiter, weiter Ferne drang ihr Name von seinen Lippen durch dies Brausen: »Marianne! Liebste Marianne!« Und es lag mehr Gewißheit in seiner Stimme, daß er sie so nennen müsse, als rührende Bitte, sie so nennen zu dürfen.

Sie aber, die's noch nicht einmal gewagt hatte, nach seinem Vornamen zu forschen, fühlte sich von unwiderstehlichen Gewalten an die breite Brust des fremden Mannes gedrängt, und ruhte dort ein paar Herzschläge lang in willenloser Betäubung, wie der Schiffbrüchige den Strand des fremden Eilandes, an den er geschleudert wird, mit Händen faßt, ohne zu wissen, ob's zur glücklichen Heimkehr oder zum elenden Verschmachten geschehe.

Nur ein paar Herzschläge lang standen sie so, sie ihr Purpurgesicht gegen seine Achsel gelehnt, er, einen Arm um ihre Schultern gelegt, und mit der Rechten stumm ihre Hand drückend. Dann fühlte er, wie sie von ihm loszukommen strebte.

Und er bog ihren Kopf weich zurück und küßte sie, die ihn mit hilflos rührenden Augen ansah, auf die bebenden, vollen, roten Lippen. – –

Da tönte vom andern Ende des Tannenweges Lanzens starke Stimme zu ihnen her.

In einer entsetzlichen Verwirrung riß sich Marianne von dem Vikar los und eilte, als habe sie Schlimmes zu verbergen, die Schneiße hinauf, dem Turme zu.

Mit wenigen langen Schritten war er neben ihr.

»Marianne«, sagte er weich und werbend, »wir gehören nun zusammen! Wie? Oder ist's nicht so?«

Und in seinen Zügen standen, weil sie immer noch hastig davonlief, Qual und Zorn nebeneinander. Er zwang sie, scheu zu ihm herumzublicken. Und als sie die Verwirrung in seinen sonst so ruhigen Mienen sah, flog ein wehes, scheues Lächeln über ihr Gesicht, das sie unendlich liebreizend machte, und mit leiser Stimme sagte sie: »Es muß wohl so sein!«

»Geliebte! Marianne!« jubelte er, und er griff nach ihrer Hand, sie im Gehen mit Küssen bedeckend. »Dann laß uns aber auch gleich offen vor Deine Mutter hintreten!«

»Nein, ach nein!« rief Marianne erschreckt. »Nicht heute! – o nein, nicht so rasch! – Die Mutter muß es von mir zuerst erfahren – allein – nicht vor den andern!«

Und es schnürte ihr eine Angst an der Kehle, als sie plötzlich auch an den Sanitätsrat dachte.

Warum fiel der Gedanke »Was wird er sagen?« bitter, fast wie ein Schuldgefühl als trüber Tropfen in den klaren Kelch ihres reinen Glückes? –

Der Vikar verstand alle ihre Regungen.

»Wie Du willst, mein Lieb!« sagte er weich. »So wollen wir uns Mühe geben, von jetzt ab wieder Fremde zu spielen. Ob's gelingt?«

»Es muß!« rief sie lachend, nun wieder in die kindliche Heiterkeit verfallend, die die andre Seite ihres Wesens war. »Eigentlich ist's ja ein köstliches Spiel! Nicht?«

Er brauchte viel Selbstbeherrschung, um nicht noch einmal ihren vollen, roten Mund zu küssen, der jetzt so neckisch sich kräuselte und doch eben noch so gebebt hatte. Aber die Stimmen hinter ihnen geboten ihm Fassung.

»Grausame!« gab er lachend zurück. »Und wie lange soll ich schmachten?«

»Vielleicht lange!« setzte sie die Neckerei fort.

»Ich will Dir's nicht raten! Ich breche bei Euch ein, mitten in der Nacht!«

Es sollte ein Scherz sein, aber es sprach so viel Heißeres hindurch, daß sie fast vor ihm erschrak. Doch war's ihr ein süßes Gruseln.

»Wann darf ich kommen?« drängte er.

»Ich schreibe Dir! Und nun wollen wir vernünftig sein. Wir wollen auf den Turm steigen, da gewinnen wir Zeit – und Fassung!«

Und leichtfüßig eilte sie über die kleine, ausgebrannte Rasenheide hinweg, die den Gipfel des Berges überkleidete, zum Turme hin, der luftig aus dicken Stämmen gefügt war, zwischen denen eine Treppe zu einer Plattform hinaufführte.

Noch ehe die andern die Hälfte der Gipfelschneiße erreicht hatten, standen die beiden oben auf der Plattform, und, den schlanken Körper weit über die Brüstung beugend, winkte Marianne mit ihrem hellen Sonnenschirm den Nachzüglern ein fröhliches »Willkommen« entgegen.

Der Vikar aber stand an der andern Seite der Plattform, und seine Augen tranken das Glück in lechzenden Zügen, das er nun sein nennen durfte.

Und vor einer halben Stunde hatte er noch nichts als ein leises, zages Ahnen in sich getragen.

Wie wunderbar! –

* * *

Von der Direktorin im Gespräch festgehalten, war Lohmann mit den andern zurückgeblieben. Es war dabei eine Unruhe in ihm, als solle er vorwärts hasten, um zu hören, was die beiden jungen Leute da vorn so eifrig zu verhandeln hätten. Und ob er sich gleich immer wieder sagte: »Was geht's denn Dich an?« kam er doch zu keinem ruhigen Zuhören.

Auf der Höhe des Joches machten sie Halt, um Atem zu schöpfen. Dabei sah Lohmann mit Beruhigung, daß der Vikar und Marianne weit droben am Waldsaume auf sie warteten.

Die Direktorin bewunderte, noch krampfhaft nach Atem ringend, das liebliche Dorfbild drunten, an dem das junge Paar achtlos vorübergegangen war.

»›Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!‹ so möchte ich,« sagte sie, »die Häuserzeile drunten zwischen den grünen Laub- und Bergwänden in Worte übersetzen. Obwohl ich weiß, daß es unter diesen Dächern ganz anders zugeht. Anders, aber nicht besser!«

»Und immer so zugegangen ist!« fügte ihr Mann hinzu. »Je enger der Winkel, desto ärger die Stürme! Der Winkel da trägt noch sein besonderes Mal.«

Und er erzählte im Weitergehen Lohmann eine Spukgeschichte, die sich da unten vor knapp zweihundert Jahren zugetragen. Ein Riembacher Gemeindeschreiber hatte darüber einen ausführlichen Bericht hinterlassen. Aus ihm schöpfte Lanz, der sich für derartige Lokalgeschichten lebhaft interessierte.

Ein ehrsamer Mann, sogar Gerichtsgeschworner, war gestorben. Bald nach seinem Tode »rumorte« es im Dorfe. Sofort stellte die Volksstimme fest, daß Puppner »umgehe«. Acht Wächter wurden an sein Grab postiert. Zu wenigern hätte sich niemand gefunden. Die hörten nun unweit des Grabes eine Wachtel schlagen, sahen einen Habicht über das Grab fliegen und Schmetterlinge aus ihm hervorflattern. Diese greulichen Zeichen genügten. Auch der Grundherrschaft!

Ein Gerichtskommissar kam und ließ Puppner ausgraben. Der Riembacher Bader besaß Kourage und scharfe Messer genug, der Leiche den Leib aufzuschneiden. Da kam's wie Blut heraus. Und nun war's ausgemacht.

Man holte zehn Stunden weit den Wernersdorfer Totengräber herzu, einen »verständigen Mann«. Der besah sich die Leiche mit Kopfschütteln, lange und geheimnisvoll, betupfte sie mit seinen Pechfingern – er war im Hauptamt Schuster – an dieser und jener Stelle und fand schließlich, daß der Sitz des Poltergeistes im rechten Beine unterhalb des Knies zu suchen sei.

»Und do, Ihr Herrn,« sagte er dumpf, »muß'm sei Recht durch a Schoarfrichter war'n. Suste werd dohie mit'm Imgiehn nimmermeh a Ende!«

Und er machte dabei Augen, als könne er jedem Toten bis in seinen Sarg hinuntergucken, ob er auch noch hübsch artig auf dem Rücken liege und die Knochenfinger gefaltet halte.

Dies »Sachverständigenurteil« führte drei Monate später eine noch größere Kommission auf dem entlegenen Walddorf-Friedhofe zusammen. Die Geistlichkeit des ganzen Sprengels und ein Advokat waren dabei. Man ließ durch die Totengräber den Sarg über die Mauer »stürzen«. Dadurch war der ruhelose Tote aus der geistlichen in die weltliche »Jurisdiktion« übergeben, und die ließ ihm durch den ordentlichen Nachrichter den Kopf zwischen die Füße legen und »das gesamte Aas« hinter dem Heidelberge verscharren.

»Die Chronik aber berichtet zum Schluß«, endete Lanz: »›Sonach ist alles in acht Tagen fein still geworden im Dorfe und hat niemand mehr über Unruhe klagen dürfen.‹«

Lohmann hörte kaum auf diese Erzählung, die ihn zu andern Zeiten gewiß als Dokument menschlicher Verblendung sehr gefesselt haben würde; denn er hatte gesehen, daß der Vikar und Marianne längst in den Schatten des dichten Tannenwaldes getaucht waren. Ungeduldig drängte er vorwärts, wenn Lanz beim Erzählen stehen blieb.

In dem grünen Tannengehege, das das helle Entzücken der Direktorin und Elisabeths weckte, legte sich auf seine Brust wie ein Bleigewicht der Gedanke: »Und durch dieses verführerische Dämmern sind sie geschritten, allein, ganz nahe bei einander, Schulter an Schulter!«

Noch einmal warf sich dem allen die verständige Erwägung entgegen: »Ist Marianne deine Tochter? Und ist der Vikar eine Gefahr für sie?«

Doch blieb er sich selber die Antwort schuldig, und schließlich hielt's ihn nicht mehr: er eilte, den andern voraus, dem Turme zu.

Auf halber Höhe aber blieb er stehen, mit einem Ruck, als sei plötzlich der Boden vor ihm aufgerissen. Bleich trotz aller Erhitzung, starrte er zur Plattform des Turmes hinauf, wo Marianne mit dem Schirm winkte und der Vikar neben ihr stand, wie eine erzgegossene Figur, scharf umrissen vor dem dunkelblauen Spätsommerhimmel.

Da wußte er mit einem Male, wie's um ihn stand! – – – – – –

Wie ein schmerzhafter Pfeil flog durch seine Seele die Erkenntnis, daß er Mariannen liebe, mit einer späten, heißen Glut liebe, wie er nie einen Menschen geliebt habe, nicht Elisabeth und auch die Tote nicht.

Das packte ihn wie mit Fäusten.

In welchen Strudel war sein Herz geraten!

Und er hatte es in den Frieden des stillen Tales einkapseln wollen, damit es für den Rest des Lebens, das so verpfuscht erschien, durch nichts mehr in seinem trübselig-gleichgiltigen Schlage gestört werde.

Und nun?

Vor dem starren Erstaunen über diese Wendung seines Lebens blieben zunächst Hoffnung und Zweifel ganz im Schatten stehen. Und als jene schnellfüßig hervorsprang und seinem Zögern zum Turme vorauseilte, schlich auch der Zweifel sogleich aus seinem Dunkel hervor und schoß Lohmann hinterrücks den zweiten Pfeil ins Herz: »Was will der Jüngere dort oben neben ihr? Liebt er sie auch? Und liebt sie ihn?«

Da rief ihn Marianne von oben herab heiter an. Und nun hörte er mit Bewußtsein heraus, was in ihrer Stimme sang und klang seit Monaten schon, und er fragte sich voll Zweifel, wem diese Glocken wohl läuten möchten. – –

Erhitzt trat er zu ihnen auf die Plattform, und er fand Mariannen, die er jetzt mit so ganz andern Augen ansah, so unbefangen und den Vikar so gelassen wie sonst.

Da kam eine heitre Beruhigung über ihn.

Selbst der Ausblick aufs Waldgebirge fesselte ihn nun, und der war allerdings so, daß er auch hochgehende Gemütswogen beruhigen konnte.

Welch ein Schwung in den Kurven dieser Flucht von Kegelbergen! Welch malerische Verästelung ihrer Seitenflügel! Wie dicht die wechselvolle Bewaldung mit ihren hundert Nuancen in Grün! Wie lauschig die vielgefältelten Täler! Hell-seegrün die einen mit ihrem matten Grunde; schwarzgrün die andern, aus denen die runden Wipfel des Laubwaldes hervorquollen.

Gewiß ein Bild voll Frische und Wälderpoesie, so voll Linienschwung und Farbenfülle, daß auch einmal der nimmerrastende Wille entschlummern mag und das kreisende Rad der Wünsche anhalten muß, wenn das Auge im Genusse solcher Reize seine Feste feiert! –

Auch Lohmanns Blicke wanderten Schönheit suchend und findend über Berg und Tal und sprangen von Gipfel zu Gipfel, und schließlich blieben sie an einem hellen Wiesenplänchen haften, nahe zu Füßen des »Kurzen Berges«. Mächtig erhob sich über der andern Seite des Plänchens der »Heidelberg« wie mit drohender Breitseite, und die Hütten auf dem Plänchen kamen Lohmann bekannt vor. Beim schärferen Hinsehen erkannte er sie als die »Glasehütten«-Häuser, und so konnte das dunkelumrahmte Viereck daneben nur der Friedhof sein, auf dem sie ruhte, mit der er in diese Wälder geflüchtet kam, wie er damals meinte, als einer, der ganz und gar mit dem Leben fertig sei. –

Und jetzt lehnte neben ihm am Geländer das junge, frische Blut im hellen Sommerkleide, durch dessen dünnen Stoff an den Schultern eine köstliche Lebensfülle hindurchschimmerte. Und in ihm, dem wieder Verjüngten, kreisten heiße, sehnsüchtige Wünsche, dies junge Blut sein nennen zu dürfen, um an seiner Seite noch ein zweites Leben zu leben.

Vielleicht reichte es ihm nur noch auf einen kurzen, heißen Herbsttag!

Mochte es!

Wenn er nur all das Volle, Ganze, Echte brachte, nach dem seine Seele ächzte, so lange er sich auf sich selbst besinnen konnte, dessen Besitz er sich wohl manchmal vorgegaukelt, und das er doch niemals, niemals völlig genossen hatte!

Neben ihr, mit ihr, durch sie aber würde er's genießen! Das war ihm eine untrügliche Gewißheit. Durstig genießen, so lange diese zweite Jugend anhalten konnte. Dann mochte – sollte es zu Ende gehen, rasch, ohne schalen Rest! – –

Wer sich das so schaffen könnte! – –

Ruf und Gegenruf, den Marianne jetzt mit ihrer Mutter und den andern beiden tauschte, die endlich auch ermattet am Turme anlangten, holten Lohmann von seinem verwegenen Gedankenfluge herab. Sein erster Blick glitt auf den Vikar hin, und der Ahnungslose wunderte sich über das feindliche Schillern, das er dabei in den Augen des Sanitätsrates aufflackern und schnell wieder erlöschen sah.

»Sollte er etwas ahnen?« fragte er sich betroffen. »Kaum möglich! Und wenn auch, was geht's den alten Herrn an?«

Er war so voll stillen, inneren Glückes, daß er nicht weiter auf den Sanitätsrat achtete. Auch daß er bis zur Abschiedsminute vor der »Villa« nun kein einziges Wort mehr allein mit Mariannen sprechen konnte, ja nicht einmal einen unbeobachteten Blick mit ihr wechseln durfte, machte ihn nicht ärmer in seinem Glücksempfinden.

Ganz anders der Sanitätsrat!

Er war wie im Fieber, und mehr als einmal wechselten die Direktorin und Elisabeth verwunderte Blicke, wenn er so mit krankhafter Hast sprach, behauptete, widerrief und widersprach.

Selbstverständlich besaß er die Fassung, jegliche Art Huldigung Mariannen gegenüber zu vermeiden. Aber den Augen ist so schwer gebieten, und nicht nur den jungen. Und was Marianne ahnungslos hinnahm, Mutter und Tante sahen es schärfer an, und so versanken beide auf dem Heimwege manchmal in ein schweigendes Brüten. Und in beiden rangen Unmut und Unwille mit sanfteren Regungen, bis ein tiefgehendes Mitleid schließlich Sieger blieb.

Denn beide Frauen kannten Marianne zu gut, um auch nur auf Augenblicke hoffen zu dürfen, sie könne Lohmanns Neigung erwidern. Im Herzen woben sie ja an einem ganz andern Bande für sie.

In Elisabeth aber kreiste unaufhörlich der halbempörte Gedanke: »O, wäre mir dieser Unglücksmensch doch niemals wieder begegnet!«

Da Lanz den Vikar in ein eifriges Gespräch über den Streik verwickelt hatte, der immer noch drohte und wohl im Spätherbst zum Ausbruch kommen würde, machte sich's von selbst, daß Lohmann und Marianne nebeneinander talwärts gingen.

Mariannens kaum noch zu zügelnde Glückseligkeit machte sich in Scherzen und Necken Luft.

Die Ahnungslose! Sie wußte nicht, daß sie mit der Flut ihres silbernen Lachens den letzten leichten Damm wegspülte, der des alternden Mannes spät erwachte Leidenschaft fesselte.

Sie waren, den andern heiter vorauseilend, auf der untersten Waldwiese angelangt, wo das Bänkchen an dem bemoosten Felsen lehnte, und es lag eine so weite Wegstrecke zwischen ihnen und den andern, daß von halblauten Worten nichts zu jenen dringen konnte. Und über der waldumhegten Wiese lag schon das Dämmern des Frühabends, das Menschen und Dinge einander näher rückt.

Lohmann sah das alles, und wie jetzt Marianne plötzlich still stand, um sich nach den andern umzuschauen, da schwankte er einen Augenblick, ob er sie nicht sogleich mit einer entschlossenen Frage an sich reißen solle.

Aber zu ungeheuerlich gewagt erschien dem Sechzigjährigen, was der Dreißigjährige getan haben würde.

»Nein!« rückte er sich selber die Zügel an. »Hier gibt's nur einen Weg: Vermittlung!«

Und er rechnete in Gedanken auf Frau Malwine.

Der kurze Augenblick starren Schweigens und Wägens aber hatte sich wie plötzliches Erschrecken auf Mariannen gelegt. Sie sah zwar keine Gefahr, aber sie fühlte sie. Und in blindem Drange, durch irgend einen Laut das Beängstigende zu verscheuchen, von dem sie sich umflattert fühlte, tat sie, was ihr vor den seligen Minuten im Tannenhage noch unmöglich gewesen wäre.

»Herr Sanitätsrat,« sagte sie fast flüsternd, »ich habe eine große Bitte!«

»Welche, mein Kind?«

Wohl erschrak sie über die sonderbare Anrede und den Ton, der mehr als väterlich war. Aber mutig fuhr sie fort: »Rufen Sie doch Reginen zurück! Das arme, arme Wesen!«

Da war es, als habe ein Blitz vor Lohmann eingeschlagen.

Ehe er sich von der Blendung erholen und irgend ein Wort erwidern konnte, waren die andern herangekommen, und Marianne ging ihnen auch noch einige Schritte entgegen.

Lohmann aber wandte hastig sein Gesicht talwärts; er fürchtete, man könnte es ihm anmerken, daß er sich eben selbst als sein eigenes Gespenst gesehen hatte.


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