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Neunzehntes Kapitel.

Anfang November, als an den Weihnachtslieferungen in allen Gersdorfer Fabriken fieberhaft gearbeitet wurde, geschah das lang Befürchtete: der Streik brach aus.

Es ging in diesem Kleinkriege wie bei den Waldbränden zu: der Funke glomm im verstecktesten Winkel auf.

Ein liederlicher, verkommener Arbeiter einer der kleinsten Garnbleichen wurde Knall und Fall wegen grober Vernachlässigungen entlassen. Er aber, einer der ärgsten Maulhelden unter den ›Genossen‹, sprengte aus, er verliere sein Brot wegen der gemeinsamen guten Sache, der ›organisierten Arbeiterschaft‹. Man wisse ganz gut, daß er eine Stütze und Säule dieser Bestrebungen sei. Deshalb liege er nun auf der Straße.

Es kam zu den üblichen Protestversammlungen in allerhand Kneipen und Sälen, in denen der Schreier den Märtyrer und Helden des Tages spielte, und als, von ihm benachrichtigt, ein besonders geschickter Agitator aus Breslau angedampft kam und sich der Leitung bemächtigte, griff die Streiklust in unhemmbarer Weise um sich.

Die Weber hatten sich ja beinahe ein ganzes Jahr in den Streikgedanken eingelebt. Diese Spannung verlangte nach Auslösung. Und die wäre schon viel früher erfolgt, wenn nicht die Arbeiterschaft der Klaar'schen Fabriken immer noch gezögert hätte. Ihr fehlte es, genau besehen, an Streikgründen. Denn das, was die andern von den Unternehmern forderten, hatten die Klaar'schen schon alles und noch was mehr. Dazu kam die Zahl derer, die in den Familienhäusern wohnten und Arbeitergärten innehatten. Sie fühlten sich als eine Art Grundbesitzer. Ihnen war von vornherein der Gedanke an den Streik unbehaglich.

Und an diesem Felsen sollte sich die ganze Bewegung brechen.

Der Agitator arbeitete mit dem Schlagwort ›Solidarität‹, und das bedeutete hier ein geschlossenes Eintreten für den entlassenen Bleicher. Was nützte es, daß der Pastor Stiller in einer allgemeinen Versammlung allen Streiklustigen unerschrocken vor die finstern Mienen hintrat und ihnen bewies, daß der Bleicher nur erhalten habe, was er verdiente? Was nützte es, daß Lanz mit riesiger Selbstüberwindung gemäßigt und sogar freundlich den Leuten vorhielt, was sie selbst aufs Spiel setzten, wenn sie jetzt, im Beginn des Winters, einen wochenlangen Ausfall ihres Lohnes heraufbeschworen?!

Der Streik lag wie eine Bestimmung auf ihnen allen. Es war ein förmlicher Kitzel in den Massen, endlich auch einmal das Ding mit durchzumachen, was als das hervorstechendste Merkmal jeder Arbeiterbewegung galt. Diese Leute, die ein langes Leben hindurch immer nur dem Pfiff der Fabrikpfeife gehorcht hatten, wollten auch einmal ihre Herren und ›Blutsauger‹ nach ihrer Pfeife tanzen sehen.

Das klang aus allen Reden heraus, in denen dem Pastor und Lanz geantwortet wurde, aber jeder suchte, es zu verbergen, und versteckte sich hinter den durchsichtigen Strauch der ›Solidarität‹.

Da riß Franz Lanz die Geduld.

Er meldete sich noch einmal zum Worte und stieg jetzt auch auf das Rednerpult hinauf. Jede Borste seines struppigen Bartes sträubte sich und schien im Begriff, Funken zu sprühen. Mit seinen stumpfen Augen sah er stechend über die Menge hin, daß mancher die Stirn senkte, und wie er nun zu sprechen begann, erst leise, mit beißendem Ton, dann immer lauter und grollender, drang seine breite, eherne Stirn immer mehr gegen die Menge vor, als sei sie ein Sturmbock, mit dem er das Streikphantom umstürzen und zermalmen wolle.

Er sprach in seiner volkstümlichen, kurz abgerissenen Weise, die alle an ihm kannten, und die alle verstanden. An die ersten Anfänge der Industrie des Tales erinnerte er und daran, wie elend die Lebenshaltung der Weber bis dahin gewesen war. Dann beleuchtete er, wie eine Fabrik nach der andern entstand, wie sich die Erwerbsverhältnisse änderten, besserten, wie alles allmählich höher und höher kam, die Arbeiter entsprechend den Unternehmern. Auch davon sprach er ausführlich, was geschehen sei, um für die Kranken, Schwachen, Waisen und für die Erleichterung und Verschönerung des Lebens aller zu sorgen. Absichtlich verschwieg er hierbei die Namen der Fürsorgenden, dagegen nannte er häufig Namen solcher, die von der armseligen Handweberei heraufgestiegen waren zu einem gewissen Wohlstande.

»Seht Euch doch um, Ihr Leute«, fuhr er fort, »fahrt doch mal Sonntags 'ne Stunde oder zwei mit der Bahn hier hin und da hin und befragt Euch, wie's anderwärts steht! Da wird Euch ein Seifensieder aufgehen. Da wird vielleicht auch der Dümmste und Verrannteste unter Euch begreifen, daß Ihr jetzt alle miteinander im begriff seid, eine bombenmäßige Dummheit zu begehen.«

Ein Gemisch von Heiterkeit und Empörung machte sich in viel hundertstimmigen Ausrufen Luft. Aber Lanz fuhr unerschrocken fort: »Leute, ich kenne Euch doch! Wenn Euch einer kennt, dann bin ich's! (Beifallgemurmel unterbrach ihn hier). Ich hab' ja mein ganzes Leben hier verknutzt und für Euch vergrübelt. (Neuer Beifall, schwach gemischt mit Widerspruch). Das erzähle ich Euch jetzt nicht, um mich zu brüsten. Zum Teufel, der soll hier mal auftreten, der mir nachrufen könnte, ich hätte mich je dicke getan mit dem, was ich für andere erstrebt habe.«

Er machte eine kurze Pause, in der erst Totenstille herrschte. Dann ertönte hinten im Saale ein leises Summen der Ablehnung eines solchen Verdachtes.

»Und Nutzen habe ich auch nicht gehabt, außer dem, den jeder Arbeiter verdient: das kahle Leben. Wenn ich mal die Augen zutue, reicht's zu einem anständigen Begräbnisse, sonst zu nichts. Und wenn die Fabrik nicht meinem Weibe eine hinreichende Pension zahlte, könnte sie um Verwandtengunst fechten gehen.«

Eine tiefe Bewegung ging durch die Massen, denen noch immer Selbstlosigkeit am meisten unter allen menschlichen Tugenden imponiert hat.

»Das alles sage ich Euch, Leute« fuhr Lanz fort, »weil ich Euer Vertrauen zu meinen Worten brauche. Denn ich will Euch vor gräßlichem Unheil bewahren. So laßt's Euch darum von Eurem alten Waisenhausdirektor nochmals sagen: Ihr wollt eine furchtbare Dummheit machen! Weiber und Kinder wollt Ihr zum Weihnachtsfeste hungern und frieren lassen. In Schulden wollt Ihr geraten. Herunterlumpen wollt Ihr, daß es gar kein Raufkommen mehr für Euch gibt! Wollt Ihr Eure schönen Familienhaus-Wohnungen räumen und die schmucken Gärtchen drangeben? Wollt Ihr Euren Kranken das Krankenhaus, Euren Waisen das Waisenhaus versperren? Und für was? Für eine bloße Grille, weil Ihr auch mal streiken wollt wie die Weber, wer weiß, wo? Und für wen? Für den Süfflich da? (Er wies auf den entlassenen Bleicher, der schäumend vor Wut nahe dem Redner an der Wand stand). Den Ihr im Grunde alle verachtet, wenn Ihr Euch auch von ihm mundtot machen laßt? Ich nenne ihn hier öffentlich einen Süfflich! Mag er mich verklagen! Ja, ich sage hier offen, daß ich's bedaure, ihn nicht längst in meiner Eigenschaft als Amtsvorsteher auf die Trinkerliste gesetzt zu haben! Und für den wollt Ihr Euch ruinieren? Und für den fremden bezahlten Wühler dort dazu?« –

Hier brach der lange nur mühsam bezähmte Sturm los.

Ein furchtbares Geschrei durchtobte den Saal und die Gallerien, ein Geschrei, das sich aus Bravorufen, Händeklatschen, Zischen, Fluchen und Verwünschungen so wirr zusammensetzte, daß niemand entscheiden konnte, welches der eigentliche Erfolg dieser Mannesworte gewesen war.

Lanz aber stand ruhig auf dem Rednerpult und sah mit entschlossener Miene auf den Tumult herab. Für ihn war dieser Augenblick von einer Bedeutung, die keiner im Saale ahnte außer dem Pastor und Lohmann, die mit einem Male zu beiden Seiten des Pultes standen, ruhig und unbewegt wie eine Schutzgarde für den mutigen Mann.

Jetzt wurde das Fazit seines Lebens gezogen. Wie würde es lauten? Das war der einzige Gedanke des Waisenhausdirektors Franz Lanz, als er vor diesem Chaos stand mit unbeweglichen, ehernen Mienen. – –

Die Klingel des Versammlungsleiters gellte ununterbrochen in den Lärm hinein, wo zahllose Einzelschlachten geliefert wurden. – Vergeblich!

Da erhob sich der reckenhafte Wachtmeister, der die Versammlung überwachte, und rief mit Donnerstimme: »Ruhe! Sonst Schluß der Versammlung!«

Dies ziemlich unvorschriftsmäßige Verhalten der bewaffneten Macht verfehlte den Eindruck nicht, und so legte sich allmählich nach diesem Rufe der Tumult im Saale, in dessen hinterer Hälfte sich jetzt einer der alten Klaar'schen Arbeiter zum Worte meldete.

»Ich spreche«, schrie er mit leisem Vibrieren in seiner groben Stimme, »eim Noama oller Klaarscha Arbeiter aus a Familienhäusern.«

»Aha!« erscholl ein Zwischenruf, wurde aber bald niedergezischt.

»Mir gahn olle dam Herrn D'rektor Lanz recht!«

Lanz atmete einmal schwer auf.

»'s wär anne Tummheet ohne gleichen, wenn mer ins su ei de Nessaln setzta! Und undankboar gegen insa Herrn Kummerzienroat wär'sch au. Mir macha da Krempel ni miete!«

Und damit verließ er mit zwanzig, dreißig Gleichgesinnten den Saal. Wütende Schimpfworte schallten ihnen nach, unter denen »Streikbrecher! Streikbrecher!« den ersten Ton behauptete. Dennoch fanden sich immer mehr solche, die wie mit Händen gezogen jenen nachschlichen. Schließlich war der Saal bis zur Hälfte geleert; von den Klaar'schen Arbeitern blieb kaum einer zurück.

Lanz stand noch immer auf dem Rednerpulte. In seinem verwetterten Gesichte zuckte es. Nur die ihn ganz genau kannten, wußten, daß er mit einer kaum noch zu verbergenden Rührung rang.

Er wußte ja nun, daß er nicht vergeblich gearbeitet hatte.

Jetzt meldete sich der Agitator zum Worte, und Lanz räumte ihm den Platz.

»Genossen!« begann er im Brustton. »In meiner langen Praxis als ›Wühler‹, wie ich eben geschmackvoll von dem Herrn da genannt wurde, der in einer gut besoldeten Stellung nur ein anständiges Begräbnis erübrigen konnte –«

Lautes Murren hätte ihm lehren sollen, daß er auf falschem Wege sei. Aber er wollte nun ähnlich durchgreifen wie Lanz vorher. So fuhr er fort: »– in dieser langen Praxis habe ich so was Kindliches noch nicht erlebt wie das heutige Schauspiel. Es scheint doch, daß ein großer Teil der Gersdorfer Arbeiterschaft politisch noch so unreif ist –«

Weiter kam er nicht. Die Mehrzahl der Zurückgebliebenen war inzwischen anderer Meinung geworden. Lanz hatte auch sie überzeugt, daß der Streik für sie selbst eine Gefahr bedeute. Nun dachten sie, es solle ihnen noch einmal die Kappe gewaschen werden, und so lärmten sie laut gegen das an, was ihnen gar nicht galt.

Da erhob sich der Wachtmeister und erklärte die Versammlung für aufgelöst.

Und das war das Begräbnis des ersten Gersdorfer Streikes, der als totgeborenes Kind zur Welt kam.


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