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Die Angst vor Streitfragen

Dies ist nicht das einzige Beispiel dafür, wie wir im ersten Schreck vor dem Kriege zu jeder Narrheit die Augen schlossen und den Mund aufrissen. So erging der Ruf nach Beilegung sämtlicher Streitfragen angesichts der nationalen Gefahr. Nun ist der einzige Weg, strittige Fragen beizulegen, während einer Zeit stärkster Tätigkeit in den Abteilungen, in denen diese Fragen auftauchen, sie durch Entscheidung zu erledigen. Ich hätte vielleicht nichts dagegen, falls sie alle zugunsten meiner Partei entschieden würden, wie zum Beispiel die Frage des Sozialismus zugunsten des Sozialismus entschieden wurde, als die Regierung die Aufsicht über die Eisenbahnen übernahm, als sie allen Rohzucker aufkaufte, Preise festsetzte, für die Banken garantierte, die Ausführung von Privatverträgen aufhob und all die Dinge tat, die sie für gänzlich und ewig utopisch und unmöglich erklärte, als die Sozialisten sie befürworteten. Doch es wird nun vorgeschlagen, alle Volksfreiheiten und verfassungsmäßigen Garantien aufzuheben, der Presse einen Maulkorb umzuhängen und Wahlkämpfe zu verbieten! Das ist mehr als ein wenig zu viel. Wir haben uns darein ergeben, daß unsere Briefe und unsere Depeschen, unsere Zeitungen zensuriert werden, unsere Dividenden verzögert, unser Eisenbahnfahrplan beschnitten, unsere Pferde und sogar unsere Häuser unter Kommando gestellt, unsere Straßen verdunkelt, unsere Restaurants geschlossen und wir selbst auf den öffentlichen Straßen tot geschossen werden, wenn wir nicht schnell begreifen, daß eine aufgeregte Person, die in der Ferne schreit, eine Wache ist, die uns anruft. Doch daß wir gleichzeitig politisch geknebelt und versklavt werden, daß der kräftige Soldat in den Gräben, der sich auf den klugen Zivilisten daheim verläßt, um die Freiheiten seines Landes aufrecht zu halten und ihn vor Nachlässigkeit oder Machtmißbrauch seitens der Behörden zu schützen, denen er blind und stumm gehorchen muß, betrogen werden soll, sobald er seinen Mitbürgern den Rücken und sein Gesicht dem Feinde zugewendet hat, das ist kein Patriotismus. Es ist die Paralyse tödlicher Angst. Es ist die schlimmste Art von Feigheit, angesichts des Feindes. Wir wollen nichts mehr davon hören, sondern unsere Wahlen auskämpfen wie Männer und das alte politische Prestige Englands zu Hause wiedergewinnen, wie unsere Expeditionsarmee es im Ausland wiedergewann.

Die Arbeiterpartei braucht deshalb nicht zu zögern, alle schwebenden Streitfragen zwischen Demokratie und Junkertum in schärfster Form aufzunehmen und die Kriegsnot für eine Reihe parlamentarischer Siege ihrer Partei auszunützen, sei es durch Unterhandlungen mit den Treibern der Regierung, durch Spaltungen im Hause oder durch herzhaft geführte Wahlkämpfe. Unsere Junker werden zweifellos ihre Widersacher entwaffnen wollen, indem sie darlegen, es wäre überaus unfair, unenglisch und ungentlemanly seitens der Arbeiterdeputierten, im parlamentarischen Krieg taktische Vorteile wahrzunehmen und überaus verräterisch und unpatriotisch, ihr Land anzugreifen (gemeint ist die Junkerpartei), wenn das Land im Kriege steht. Manche Parteimitglieder werden sich auf diese Art leicht bestechen lassen. Wären die Folgen nicht so traurig, es wäre lächerlich zu sehen, wie unsere parlamentarischen Anfänger aus der Arbeiterklasse dem Zauber junkerlicher Aufforderung erliegen. Die Junker selbst kann man auf solche Art nicht herumkriegen; es ist zwecklos, einem Missionar Traktate anzubieten, wie der arme Kaiser herausfand, als er den Versuch machte. Die Arbeiterpartei wird den Wert solcher höflicher Darlegungen bald erkennen, in denen ihr gesagt wird, es sei stets ihre Pflicht, die regierenden Klassen in ihrer sehr schwierigen, heiklen und gefährlichen Aufgabe, die Interessen des großen Reiches wahrzunehmen, nicht zu stören, kurz durch elegante Phrasen sich betrügen zu lassen und durch die geschickte Ausnützung ihrer persönlichen Gutmütigkeit, ihrer eingewurzelten proletarischen Sentimentalität und ihrer inneren Unsicherheit über die Korrektheit ihrer Manieren. Die Junker haben bereits den größten Vorteil aus dem Krieg gezogen, um die Demokratie zu lähmen. Wenn die Mitglieder der Arbeiterpartei nicht eine kräftige Gegenoffensive unternehmen und um jeden parlamentarischen Schützengraben bis zur letzten Division kämpfen, wird die Arbeiterbewegung so plötzlich zurückgeworfen werden, wie General von Kluck die Alliierten von Namur an die Tore von Paris zurückdrängte. Wahrlich, die Bedeutung des Krieges für die übergroße Mehrheit von Engländern, Franzosen und Deutschen liegt in der Möglichkeit, daß, wenn die Junker versagen, die gewöhnlichen Leute zu ihrem Recht kommen können.


 


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