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Die deutsche Verteidigung gegen unsere Anklage

Was ist die deutsche Antwort hierauf? Oder besser gesagt, wie würden die Deutschen antworten, wenn ihre offiziellen Militaristen und Kaiseristen den Witz hätten, die wirksame Antwort zu finden? Zweifellos würden sie sagen, daß unsere sozialdemokratischen Bekenntnisse ganz schön sind, aber daß unsere plötzliche und ganz neue Bekehrung verdächtig ist. Sie würden bemerken, daß es ein wenig schwierig sei für ein Volk in Todesgefahr, sein Dasein einer ausländischen öffentlichen Meinung anzuvertrauen, die nicht nur von den Leuten, die tatsächlich Englands auswärtige Politik leiten, niemals gedrückt worden war, sondern die zu all ihren bekannten Ansichten und Vorurteilen in schroffem Gegensatz steht. Sie würden fragen, warum wir, statt mit Frankreich und Rußland uns zu verbünden und Deutschland jede Zusicherung zu verweigern, ausgenommen die, daß wir uns nicht zur Neutralität verpflichten, wenn die franko-russische Entente Deutschland angreift, warum wir 1912 (als sie uns geradeheraus fragten) und wieder letzten Juli, als Sazonoff uns so dringend bat, unsere Karte zu zeigen, warum wir nicht geradeheraus sagten, daß, wenn Deutschland Frankreich angriff, wir gegen Deutschland kämpfen würden, unbekümmert um Rußland (eine viel weniger aufreizende und herausfordernde Stellungnahme), obwohl wir doch ganz genau wußten, daß, sobald die russische Gefahr brennend würde, ein Angriff auf Frankreich durch Belgien zum deutschen Programm gehörte. Sie würden darauf hinweisen, daß, wenn unser eigener Minister des Äußern offen jede Kenntnis der Bedingungen des franko-russischen Bündnisses ablehnte, Deutschland schwerlich glauben konnte, diese Bedingungen seien zur Veröffentlichung geeignet. Kurz, sie würden sagen »Wenn ihr vorher so klug und wohlmeinend wart, warum haben uns nicht euer Minister des Äußern und eure Gesandten in Berlin und Wien und Petersburg – Pardon! Petrograd – aufgefordert, Frieden zu halten und uns auf die öffentliche Meinung des Westens zu verlassen, statt uns jede Zusicherung zu verweigern, ausgenommen die feindselige, daß ihr mit Frankreich gegen uns in der Nordsee vorgehen wollt, wobei ihr uns nur allzu klar gemacht habt, daß euere Politik ebensosehr wie unsere eine Junkerpolitik war, und daß wir von eurem Wohlwollen nichts zu hoffen hatten? Welchen Beweis hatten wir dafür, daß ihr ein anderes Spiel spieltet, als dies unser militaristisches Schach, das ihr nun so fromm verleugnet, dem sich aber in den letzten Jahren niemand bei euch entgegengesetzt hat, außer einer Hand voll Sozialisten, die ihr verachtet, und Syndikalisten, die ihr unter militaristischem Vorwand einsperrt. Überall war es zu finden, auf euren militaristischen, anti-deutschen Rednerbühnen, in euren Tagesblättern und in euren Zeitschriften. Sind euere sozialdemokratischen Grundsätze ehrlich, oder ist es nur ein Dolch, den ihr im Ärmel haltet, um ihn uns in den Rücken zu stoßen, wenn unsere beiden furchtbarsten Gegner versuchen, uns die Kehle zuzuschnüren? Wo bleibt da euere moralische Überlegenheit, wenn dem so ist, Heuchler, die ihr seid? Wenn dem aber nicht so ist, warum, so fragen wir, machtet ihr diese Grundsätze nicht aller Welt bekannt, statt durch euer sinnloses Schweigen uns einen Hinterhalt zu stellen?«

Ich wüßte keine Antwort auf all das, es wäre denn das offene Zugeständnis, daß wir unsere eigenen Ansichten nicht kannten – daß wir erst zu ihrer Kenntnis gelangten, als der deutsche Angriff auf Frankreich uns dazu zwang, unsere Meinung zu bilden. Daß zweifellos ein dauernder Zustand vollkommener Erleuchtung und langer Voraussicht unsererseits überaus wünschenswert gewesen wäre, daß man aber auch die Politik billigen kann, nicht durch den Fluß zu waten, ehe man vor ihm steht. Und daß wir auf alle Fälle unbedingt das Zugeständnis ablehnen müssen, daß wir eher als andere Leute das Unrichtige tun, wenn die Umstände uns schließlich dazu zwingen, zu denken und zu handeln. Ebenso, daß die Diskussion müßig ist, soweit sie den deutschen Beweggrund betrifft. Denn ob uns nun die Deutschen für skrupellose Militaristen oder für gewissenhafte Demokraten hielten, sie mußten zur gleichen Schlußfolgerung gelangen: nämlich, daß wir sie angreifen würden, wenn sie Frankreich angriffen. Darum mußte ihre Voraussetzung, wir würden nicht eingreifen, sich auf die Annahme stützen, daß wir einfach verächtlich seien. Für diese Art von Irrtum büßt man in dieser bösen Welt.

Im ganzen können wir unsern Weg durch diese Diskussion auf preußische Art gut genug ertrotzen, solange wir im Feld standhalten. Doch die preußische Art befriedigt kaum das Gewissen. Die Tatsache, daß unsere Diplomaten unfähig waren, den richtigen Weg für Deutschland zu sehen, entschuldigt wirklich Deutschland nicht für seine Unfähigkeit, ihn selbst zu finden. Nicht etwa, daß dies Deutschland mehr anging als uns. Es war eine europäische Frage und hätte von allen Gesandten und auswärtigen Ämtern und Kanzleien gemeinsam gelöst werden müssen. Sie hätte nicht dauernd beigelegt werden können, ohne bestimmte Zusicherungen. Doch es war zu mindest eben so sehr Deutschlands Angelegenheit und für Deutschland überaus dringend: »eine Angelegenheit von Leben und Tod«, meinte der kaiserliche Kanzler. Doch es ist nicht an uns, die moralische Überlegenheit über Deutschland zu beanspruchen. Es war für uns eine »Angelegenheit von Leben und Tod« vieler Engländer, und diese Engländer sind tot, weil unsere Diplomaten so blind waren wie die Preußen. Der Krieg ist der Bankerott für geheime Junkerdiplomatie, für die unsere nicht weniger als für die des Gegners. Die von uns, die noch werden sterben müssen, müssen erfüllt sein, nicht von Ergebenheit gegen die Diplomaten, sondern, wie der alte sozialistische Held der Barrikade, von der Vision menschlicher Solidarität. Wenn aber ein Held für diese heilige Sache mit seinem Blute den Sieg erkauft, finde ich, können wir dem Auswärtigen Amt nicht wohl gestatten, seine Märtyrerpalme über dem Kaminsims des Kriegsamtes aufzuhängen.


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