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Der junge Doktor Anton Brandeis saß in einer stillen Straße der Westvorstadt von Berlin am Fenster und las. Es war ein schöner, stiller Sommerabend; auf den Stirnseiten der Häuser lag ein zartes, rosiges Licht, die Turmschwalben jagten sich schreiend an den Giebeln entlang, die Kinder spielten Zeck und Anschlag, und zuweilen rollte schläfrig eine einsame Droschke vorüber. Auf alle diese Dinge achtete aber Brandeis gar nicht, denn er war ausschließlich in sein Buch vertieft und zwar in einer Weise, die wohl der stille Traum manches Poeten ist. Wie sonderbar, daß er, dem schon von Kindheit an ein starkes Interesse für die Poesie innewohnte, diesen Dichter erst jetzt gefunden hatte. Das war doch nur möglich bei dieser fürchterlichen, breiten Bettelsuppe der Litteratur unsrer Tage, in deren trüber Flut die paar guten Brocken kaum zu entdecken sind. Nicht, daß sich heutzutage etwa so viel weniger Gutes fände als früher, nein, nur das Mittelmäßige, Ueberflüssige und Elende hat sich in einer Weise vermehrt, daß es jammervoll ist. Und alle diese Mittelmäßigen, Überflüssigen und Elenden stehen zusammen und rühren die Pauken und
die Schellen für einander, wie Quacksalber auf dem Jahrmarkte, die uns Brotkügelchen als heilkräftige Pillen und verdorbenes Pflaumenmus als Latwergen verkaufen. Wie oft war Brandeis schon durch solche oft wiederholten Anpreisungen bewogen worden, ein Buch irgend eines sogenannten neueren Dichters in die Hand zu nehmen, und wie oft hatte er dies verdrießlich wieder aus der Hand geschleudert, weil er fand, daß es immer derselbe saure Buchbinderkleister war, den er schon aus vielen Beispielen kannte! Aber jetzt hatte er so ganz durch Zufall einen Poeten gefunden, der ihn glücklich machte. Unter den Kolonnaden der Leipziger Straße entdeckte er ein unscheinbares Büchlein, das der brave Herr Danz mit fünfzig Pfennigen ausgezeichnet hatte. Der Name des Dichters, Walter Kolin, war ihm bekannt, er hatte manches Gute über ihn, aber noch nichts von ihm gelesen, und so meinte er, fünfzig Pfennige an diese neue Enttäuschung wenden zu dürfen. Er brachte das Buch nach Hause und las es noch am selben Abend zu Ende unter Lachen und Weinen und mit stillem Entzücken. Das war der Poet, den er immer gesucht hatte, hier fand er ausgesprochen, was er selber in der tiefsten Seele trug. Gedanken und Empfindungen, die schon lange in ihm nach Worten rangen, hier fand er sie klar und deutlich vorgetragen; wahrhaftig, er selber wäre dieser Dichter geworden, hätte ihm die Natur zu einem begeisterungsfähigen und nachfühlenden Herzen auch die Gabe verliehen, zu sagen, was er liebte und was er litt. Wie schön und durchsichtig
war die Sprache dieses Poeten! Bald rieselte sie dahin gleich einem Bächlein, das über Kiesel plätschert und zugleich hundert neckische Lichter wirft, bald brauste sie ungestüm und mächtig daher, bald buchtete sie sich zu sanfter Klarheit, die sowohl den gewaltigen Himmel als das feinste Zweiglein widerspiegelte. Nirgends fand er leere Worte, sondern alles war aus Anschauung und aus der Tiefe geschöpft; mit ein paar unscheinbaren, aber richtig gewählten Ausdrücken ward eine ganze Landschaft vor das geistige Auge gezaubert, durch eine feine Wendung das verschlungene Gedankengewebe der handelnden Personen blitzartig erleuchtet. Der tiefste Ernst wie der heiterste Scherz stand diesem Dichter zu Gebote, und beides wußte er so zu mischen, daß er bei dem Leser die wunderliche Seligkeit des Lachens unter Thränen erzeugte.
Am nächsten Tage ging Brandeis zu Gsellius und kaufte sich alles, was von diesem Poeten erschienen war, und ruhte nicht, bis er alles in sich ausgenommen hatte, um, als er fertig war, mit behaglicherem Genusse wieder von vorne anzufangen. Er mußte sich gestehen, daß er sehr geneigt war, von allen lebenden Dichtern diesem den Lorbeer zu reichen. Zwar sein Verstand machte Einwendungen dagegen, aber sein Herz entschied nun einmal so. Es war eben sein Poeta laureatus, und für sich im stillen nannte er ihn auch so. Nur konnte er kaum begreifen, daß der Name dieses Mannes nicht in aller Munde und seine Bücher nicht in jeder guten Hausbibliothek waren. Aber dazu war Walter Kolin den guten Deutschen wohl noch lange nicht tot genug.
Herr Doktor Anton Brandeis hatte einige Freunde und Gesinnungsgenossen, und das erste, was er that, war, daß er hinging und eine kleine Kolingemeinde stiftete, wobei er in den meisten Fällen zu seiner Freude das eigene Urteil bestätigt fand. Er begann sich natürlich auch für die näheren Lebensumstände dieses Mannes zu interessieren, konnte aber weiter nichts in Erfahrung bringen, als daß der Dichter schon seit langer Zeit in Berlin lebe. Als er nun an dem schönen Sommerabend seine Lektüre beendet hatte und mit sinnendem Nachgenusse in den rosigen Abendschein starrte, da fiel ihm dieser Umstand wieder ein; er holte schnell das Adreßbuch herbei und schlug nach. Mit freudigem Schreck durchfuhr es ihn, als erfand: Walter Kolin, Schriftsteller, Wiesenstraße 22. Das war ja die Straße, in der er wohnte, und die Nummer 22 führte das kleine, zweistöckige Haus gerade gegenüber. Wie wunderlich erschien solches Zusammentreffen. Dieser Mann, den er seit kurzem so überaus verehrte, hatte ihm seit lange gegenüber gewohnt, und gewiß hatte er ihn schon oft, wenn nicht täglich, gesehen. Wer wohnte denn dort außerdem noch? August Hahnke, Schuhmacher – das war der Portier des Hauses, dessen Frau stets auf Latschen ging und die gewandteste Zunge in der ganzen Straße führte, – und dann nur noch: Ferdinand Lehmann, Rentier. Das war natürlich der dicke Herr mit der Stumpfnase, dem ausrasierten Kinn, den kleinen Augen und der Glatze, derselbe Herr, der dort eine Treppe hoch wohnte, lange Pfeifen rauchte und aussah, wie ein pensionierter Bäckermeister, was er auch wohl war. E. stand dabei, – dem gehörte natürlich das Haus. In diesem Augenblicke öffnete sich gegenüber die Thür, und der Bewohner des Erdgeschosses trat heraus. Dieser ihm von Ansehen ebenfalls längst wohl bekannte Mann war also Walter Kolin. Eine vornehme Erscheinung von etwas über Mittelgröße wie Goethe, von gerader Haltung wie dieser und sehr sauber, fast elegant gekleidet. Natürlich, wer so sorgfältig in seinen schriftstellerischen Arbeiten verfuhr und einen so geläuterten Stil schrieb, so viel Wert legte auf das Kleid der Sprache, der gab selbstverständlich auch etwas auf sein Aeußeres. Und welch einen echten Dichterkopf hatte der Mann! Dunkles, ein wenig natürlich gelocktes, aber kurz gehaltenes Haar, braune Augen von schwarzen Brauen überschattet, eine kräftige, wohlgebildete Nase, darunter ein schöner Schnurrbart. Der ganze Kopf mit seiner bräunlichen Gesichtsfarbe hatte etwas Markiges, und seine Züge schienen aus lauter kleinen Flächen zusammengesetzt in der Weise, wie es Franz Hals zu malen liebte. Fürwahr, an diesem Manne befand sich alles in Harmonie.
Anton Brandeis konnte sich ihn in aller Ruhe betrachten, denn er stand eine Weile vor seiner Thür, einen Stock mit goldenem Knopfe unter dem Arme tragend, nestelte an seinen Handschuhen und ließ dabei seinen Blick über den hellen Abendhimmel gleiten. Dann wandte er sich und ging langsam und gemessen dem nahen Tiergarten zu. Einige Verse von Uhland schossen Brandeis unwillkürlich durch den Sinn. Er murmelte vor sich hin:
»Ergehst du dich im Abendlicht, –
Das ist die Zeit der Dichterwonne –«
und machte sich ebenfalls für seinen gewohnten Abendspaziergang bereit. Es war ziemlich hell draußen, denn die Sonne stand noch am Himmel, in rosigen Dunst gehüllt. In den Straßen brütete die Schwüle des heißen Tages, der die Häuser wie Oefen geheizt hatte, doch von den Gärten wehte zuweilen ein kühlerer Hauch und ein betäubender Levkojenduft herüber. An dem blankgefegten Himmel war kein Wölkchen, nur ein Luftballon schwebte dort in der Gegend von Charlottenburg. Der Luftschiffer schien den stillen Abend benutzen zu wollen, um möglichst hoch zu steigen; er öffnete sichtlich die Sandsäcke, die ihm als Ballast dienten, denn von Zeit zu Zeit fuhr aus der Gondel, die wie ein Pünktchen erschien, ein schmaler Silberstreif hernieder, der sich allmählich verbreiterte und in der stillen Luft verschwamm.
Im Tiergarten war es ein wenig kühler, die Hauptsteige wimmelten von Spaziergängern, und deshalb schlug Brandeis die Pfade ein nach den sogenannten wilden Wegen, wo es einsamer war. Dort kamen ihm nur vereinzelte Leute entgegen; die Dämmerungsfalter begannen zu fliegen, vom Zoologischen Garten her tönte Musik, und zwischen den Stämmen stand das Abendrot. An einer etwas freieren Stelle schaute er unwillkürlich zum Himmel empor und sah nun wieder den Luftballon, der, allein noch von der schon versunkenen Sonne beleuchtet, in der gewaltigen Höhe schwebte wie ein rosiges Traumgebilde. Darüber hatte der junge Doktor versäumt, auf die Begegnenden zu achten, und als er nun weiter schritt, sah er plötzlich den Mann vor sich, der ihm so große Teilnahme einflößte. Dieser beachtete ihn nicht, er ging mit den Händen auf dem Rücken und gesenkten Hauptes, scheinbar in sich selbst vertieft, an ihm vorüber. Brandeis hätte viel darum gegeben, hätte er gewußt, welche Gedanken sich jetzt in dieser so edel geformten Stirn bewegten. Sie schwebten gewiß so hoch über dem staubigen Gewimmel auf dieser Erde, wie jener Luftballon in reinen Aetherhöhen. Er empfand es als ein Glück, daß er nun den Mann kannte, der sein Herz so tief zu erregen und sein Gemüt so hoch zu erheitern wußte.
Jedoch, es war ein heißer Tag gewesen und der Abend warm, so daß Brandeis sich nach einem Trunke sehnte. Die »schaale Kreatur Dünnbier« kam ihm in den Sinn, denn an solchen Tagen voll Sommersglut ist das kühle, säuerliche und von Kohlensäure prickelnde Weißbier durchaus nicht zu verachten, insonderheit, wenn man einen Ort weiß, wo es gut behandelt wird. Solchen kannte Brandeis sehr wohl und lenkte seine Schritte zu einem kleinen Weißbiergarten, wo eine Anzahl von festen Biedermännern aus der Gegend allabendlich ihre ungeheuren Glasbottiche leerten und dazu Puff, Solo, Sechsundsechzig oder den allmählich alles andere verschlingenden Skat zu spielen pflegten. Als der junge Doktor in den kleinen Garten eintrat, sah er dort den andern Bewohner des ihm gegenüberliegenden Hauses mit einigen Herren an einem Tische sitzen, und als er vorüberging, hörte er ihn sagen: »Erbsen, Sauerkohl und Pökelfleisch sind durchaus nicht zu verachten, – das einzige Gericht, bei dem mir in Wirklichkeit das Wasser im Munde zusammenläuft, wenn es auf den Tisch kommt.«
Brandeis setzte sich an einen entfernten Tisch, denn es gelüstete ihn nicht, noch mehr von den Gesprächen dieses Urphilisters aufzufangen; er trank gedankenvoll seine Weiße und grübelte darüber nach, wie seltsam doch das Schicksal die Menschen zusammenwürfelt, so daß diese beiden Männer in einem Hause wohnten, der eine, dem das Haupt erfüllt war von lichten Phantasien und heiteren Wundern, und der andre, dessen Hirn nur die niedrigsten Gedanken zu bewohnen schienen.
Als er dann nach einiger Zeit wieder fortging, waren die Männer scheinbar noch immer mit Gesprächen über Essen beschäftigt, denn im Vorbeigehen hörte er den dicken Herrn wieder sagen: »Ja, Spickaal, den muß man an der Ostsee essen!«
»Scheußlicher Kerl!« dachte Anton Brandeis. Als er nach Hause kam, fand er eine Karte vor, folgenden Inhaltes:
»Lieber Doktor! Wollen Sie morgen abend um acht Uhr zu uns kommen, so habe ich eine hübsche, kleine Ueberraschung für Sie. Ich erwarte Sie bestimmt! Ihre Marie Bürgers.«
Brandeis war erfreut über diese Einladung, denn er besuchte gern jene Familie, und die Hausfrau war seine mütterliche Freundin. Man traf dort immer angenehme und unterrichtete Leute, und der Verkehr war zwangslos und behaglich. Am nächsten Abend machte er sich beizeiten auf den Weg. Der wohlhabende Herr Bürgers hatte ein hübsches, kleines Haus in dem sogenannten Kielganschen Villenviertel, und als Brandeis dort ankam, ward er von dem Mädchen in den Garten gewiesen. Frau Bürgers kam ihm mit leuchtendem Angesicht entgegen: »Ich habe ganz etwas Wundervolles für Sie,« sagte sie freudig, »die Bekanntschaft hat sich ganz schnell und zufällig gemacht. Kommen Sie!«
Als Brandeis gleich darauf um eine Gebüschecke bog, fuhr ihm der Schreck in alle Glieder, denn dort, vor einem herrlich blühenden Rosenstrauche, stand im Gespräch mit dem Hausherrn der dicke Herr aus dem Hause gegenüber. »Wie kommt das Ungetüm hierher?« dachte er unwillkürlich, aber schon hatte ihn Frau Bürgers dorthin geführt und stellte ihn vor: »Herr Doktor Anton Brandeis, – einer Ihrer größten Verehrer, – Herr Walter Kolm!« und dann sah sie den Doktor triumphierend an. Dieser aber war wie mit einer Keule vor den Kopf geschlagen, und seine Verwirrung unbeschreiblich. Dieser dicke Mann mit der Stumpfnase, dem ausrasierten Kinn, den kleinen Augen und der Glatze, dieser pensionierte Bäckermeister, dieser Weißbierphilister war sein Poeta laureatus Walter Kolin!
»Sehr erfreut!« stotterte er mechanisch, allein eigentlich war er zerschmettert. Frau Bürgers, die seine Verwirrung sah und sie der freudigen Ueberraschung zuschrieb, legte sich ins Mittel und brachte das Gespräch bald in einen besseren Fluß, so daß Brandeis den ersten Schreck überwand, und es ihm gelang, seine Begeisterung an den Mann zu bringen und das Gesicht des Poeten mit einem freundlichen Schimmer zu verklären.
»Ein recht verständiger junger Mensch!« sagte Kolin später gelegentlich zu Herrn Bürgers, denn er glich in dieser Hinsicht, wie wohl alle Künstler und Poeten, ein wenig dem Herrn Piepenbrink aus den »Journalisten«, der von den Leuten, die seine Weine loben, sagt: »Die Kerls haben keinen slechten Gesmack!«
Als Anton Brandeis aber in angeregtem Gespräch mit Herrn Walter Kolin durch die laue Sommernacht nach Hause gewandert war und sich wieder in seinem stillen Zimmer befand, da schwor er, niemals wieder voreilig von dem Aeußeren des Menschen auf sein Inneres zu schließen, und er hat von jener Zeit ab die Physiognomik für die trüglichste aller Wissenschaften gehalten.