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Ich kenne eine alte Dame, die mir manchmal kleine hübsche Geschichten erzählt. Sie hat nicht viel Sonnenschein genossen, ihr Leben ist aufgegangen in steter Sorge und Angst um andre, die ihr niemals Zeit ließen, an sich selbst und den eigenen kränklichen Körper zu denken, und doch hat sie niemals den Humor verloren. Sie gehört eben zu den unverwüstlichen Naturen, die sich vom Schicksal nicht unterkriegen lassen, und besitzt in hohem Maße jene wunderbare Zähigkeit des Weibes, die es in den Stand setzt, bei gebrechlichem Körper und zarter Gesundheit Leiden zu ertragen, die drei starke Männer zu Boden werfen würden.
Die alte Dame, die schon seit Jahren Großmutter ist, hat eine noch ältere Freundin, die sie stets nur »meine alte Gouvernante« nennt, denn vor langer Zeit ist diese einmal ihre Erzieherin gewesen und seitdem sind sie durch ein Band gegenseitiger Anhänglichkeit miteinander verknüpft. Ich glaube, die alte Gouvernante steht mit ihrem einstmaligen Zögling noch immer in demselben Verhältnis wie damals vor langen Jahren, läßt ihm noch immer Belehrung zu teil werden und verweist ihm noch heute in liebevoller Weise allerlei jugendliche Thorheit. Von dieser alten Gouvernante nun erzählte meine bejahrte Freundin mir kürzlich eine kleine Geschichte, die mir so seltsam rührend erschien, daß ich sie hier wiedergeben möchte und zwar ungefähr mit den Worten, wie ich sie gehört habe.
* * *
Ich besuchte vor einiger Zeit, so erzählte sie, meine alte Gouvernante, denn ich wollte sie noch einmal sehen, bevor sie sich ins Krankenhaus Bethanien begab, wo ihr eine sehr schwere chirurgische Operation auf Tod und Leben bevorstand. Ich traf sie ganz gefaßt und heiter wie immer. Ich glaube, wenn mich in meinem Leben auch in schweren Zeiten die gute Laune nie ganz verlassen hat, so ist das etwas, das ich von meiner guten alten Erzieherin gelernt habe. Sie deckte gleich, als ich kam, zierlich den Tisch, setzte das schöngeblümte feine Meißner Porzellan auf, das sie nur an hohen Festtagen oder bei besonders feierlichen Gelegenheiten in Gebrauch nimmt, und kochte einen guten Kaffee. Dazu holte sie einen Teller herbei mit einer angenehmen Sorte von Dauerkuchen, die sie eigenhändig nach einem alten geheimnisvollen Rezept in ihrem Ofen zu backen pflegt. Sie wußte, daß ich dafür eine Schwärmerei hatte von meiner Kindheit an. »So, Annchen,« sagte sie, »nun wollen wir noch einmal recht vergnügt sein.«
Ich muß dazu wohl ein wenig geseufzt haben, denn sie sah mich mit den guten freundlichen Augen eine Weile an und sagte: »Ich bin ganz ruhig und heiter, Kindchen, denn alles ist fertig, und das übrige steht in Gottes Hand. Sollte es, wie mir meine Ahnung sagt, nicht glücklich ablaufen, so habe ich in den letzten acht Tagen so nach und nach, denn viel kann ich ja nicht leisten, wie du weißt, alles vorbereitet, daß niemand eine Last davon hat, und alles wie am Schnürchen gehen wird. Und als ich damit gestern fertig war, bin ich hinausgefahren zum Mathäikirchhof und habe mir das hübsche Plätzchen angesehen, das ich mir schon vor Jahren gekauft habe. Es war ein herrlicher Tag, die Sonne schien, die Vögel sangen, und rings auf dem Kirchhofe blühten die Rosen. Es war still und friedlich dort, und das Stadtgeräusch tönte nur ganz von ferne herüber. Zu beiden Seiten an meinem Plätzchen haben sie in den letzten Jahren schon welche begraben, es wartet recht auf mich. Rechts von mir liegt ein Professor, links eine Geheimrätin, da werde ich in der besten Gesellschaft sein, viel zu vornehm für mich, wie ich meine. Und, denke dir nur, auf dem einzigen Fleck Erde, der mir gehört, standen die herrlichsten Blumen und reizendes Zittergras. Da habe ich mir denn, obwohl mir das Bücken recht schwer fällt, ein Sträußchen gebunden, – siehst du, dort in der Vase steht es – das nehme ich mit nach Bethanien: es soll neben meinem Bette stehen. Als ich dies Sträußchen pflückte, da sang in der Nähe in einem wilden Rosenbusch ein kleiner Vogel so schön, als wollte er immer sagen: ›Wie schön ist doch die Welt, wie herrlich ist das Leben!‹ Und mitten in seinem Liede flog er singend in die Luft, als könne er anders seine Freude nicht bändigen. Wie schade, daß ich davon nichts verstehe, ich hätte gern gewußt, wie dieser kleine Vogel genannt wird, der zwischen Gräbern, Cypressen und Totenkreuzen so vergnügt ist. Wenn er nächstens dort wieder singt, werde ich es wohl nicht hören, obwohl ich zugegen bin.«
Ich griff nach ihrer Hand und streichelte sanft die zarten welken Finger. Sprechen konnte ich nicht.
Sie aber stand auf, ging geschäftig an ihre alte gebauchte Erbkommode mit den blitzenden Messingbeschlägen und zog mühsam die oberste Schublade auf. Dort lag ein ganzer Anzug, alles sauber und glatt bei einander. Sie hob die Teile einzeln auf, zeigte sie mir, strich sie mit zarter Hand wieder glatt und bettete sie liebevoll wieder an ihren Ort. Alle diese Kleidungsstücke waren weiß und zierlich gestickt, die Wäsche jedoch ohne Namenszeichen, wie das ein alter Gebrauch ist. Gedanken, die man gar nicht haben möchte, tauchen oft so schnell auf, daß man nicht Zeit hat, sie zu unterdrücken, und so schoß es auch mir durch den Sinn: darin muß sie reizend aussehen mit dem alten feinen Gesicht.
»Vorgestern,« sagte sie dann, »habe ich mir meinen Sarg ausgesucht; ein sehr freundlicher Herr mit sympathischem Wesen führte mich in dem Magazin herum und zeigte mir alles. O, da gibt es Auswahl, daß es schwer wird, sich zu entscheiden. Da waren ganz prachtvolle Särge von Metall, die glänzten von Gold und Silber, so für Grafen und Kommerzienräte. Die reizten mich aber nicht, denn ich dachte, darin würde ich mich gar nicht wohl fühlen. Der freundliche Herr aber sagte: ›O, gnädige Frau‹ – denn so nannte er mich – ›wir werden schon etwas finden, wir sind auf jeden Geschmack eingerichtet.‹ Und dann zeigte er mir einen sehr schönen schwarzen, der glänzte fein und vornehm, als ob er von Ebenholz wäre. ›Sehr hübsch,‹ sagte ich, ›wenn er nur nicht schwarz wäre, das sieht so traurig aus.‹
›So würde ich zu hellgelb raten,‹ antwortete er, ›wir haben dieselbe Qualität auch in hellgelb. Sehen Sie hier!‹
›Der gefällt mir,‹ sagte ich, ›nur daß er mit schwarzem Krepp garniert ist, das sieht wieder so traurig aus.‹
›Diese Garnitur ist sonst sehr beliebt, gnädige Frau,‹ meinte er nun wieder, ›aber ganz wie Sie befehlen. Dürfte ich mir einen Vorschlag erlauben, so möchte ich Ihnen etwas raten, was wir schon öfter gemacht haben. Denken Sie sich hier, und hier, und so weiter – Sträußchen von zwei oder drei schönen Rosen und dazwischen immer eine hängende Guirlande von kleinen schottischen Röschen – das macht sich entzückend und sieht sehr freundlich aus.‹
Mir gefiel das auch sehr, wir machten es so ab und beredeten den Preis. Dabei sagte er: ›Haben gnädige Frau vielleicht das Maß schon genommen, oder darf ich jemanden hinschicken, daß er es thut?‹
Ich antwortete: ›Das können Sie gleich hier nehmen, der Sarg ist für mich.‹
Nun sah er aber etwas verblüfft aus und schnappte ein paarmal nach Luft, bis ich ihn aufklärte und ihm sagte, wenn das Geschäft auch nicht ganz sicher wäre, so solle ihm der Auftrag doch nicht entgehen, dafür würde ich schon sorgen.
Er fand denn auch bald seine alte liebenswürdige Freundlichkeit wieder, schrieb sich alles auf, und als wir uns trennten, äußerte er unter vielen Dienern die herzlichsten Wünsche für mein Wohlergehen und wünschte mir viel Glück. Kein Diplomat hätte sich feiner benehmen können.
Dann ging ich zu Schleicher, um mir einen Grabstein auszusuchen. Dort war ich noch nie und war ganz erstaunt, was man dort alles vorrätig findet: marmorne Engel mit Flügeln und Palmzweigen, reizende kleine Geniusse mit umgekehrten Fackeln, abgebrochene Säulen, schwere Granitmonumente und Kreuze und Denksteine natürlich von allen Arten. Einen ganzen großen Kirchhof könnte man damit ausstatten. Die bescheidene Steinplatte, die für mich passend war, fand ich bald, denn ich hatte mich schon vorher entschieden, und da dies das letzte war, was ich zu besorgen hatte, so ging ich stillvergnügt nach Hause. Ich habe dann alles aufgeschrieben und dies mit dem nötigen Gelde in einen versiegelten Umschlag gethan, so daß alles bereit liegt.
Ich könnte ja nun, liebes Annchen, beruhigt in die Zukunft sehen, wenn ich nicht eine Furcht hätte, die mich sehr peinigt. Nicht vor der Operation, denn die wird ein Meister ausführen; was menschliche Kunst vermag, das wird geschehen, und für das übrige lasse ich den lieben Gott sorgen. Nein, ich ängstige mich vor etwas ganz Abscheulichem, das zu verhindern nicht in meiner Macht steht. Du weißt doch, man wird dabei betäubt, und in der Narkose, wo man seiner Sinne nicht mächtig ist, da sagt man oft ganz häßliche Dinge. Denke nur, Annchen, ich habe es erlebt an einer Freundin, die eine so gute sanfte Seele war, von der ich sonst nie ein böses oder unschönes Wort gehört habe. Ich war auf ihren Wunsch während der Operation im Nebenzimmer, und da zufällig die Thür aufgesprungen war, hörte ich, was sie redete, als sie in der Betäubung lag. Schrecklich hat sie gescholten und ganz abscheuliche Wörter gebraucht; ich hätte gar nicht geglaubt, daß sie solche Wörter überhaupt kennte. Siehst du, das ist es, wovor ich mich ängstige. Ich würde mich tot schämen, wenn ich nachher erführe, daß ich auch so etwas Häßliches gesagt hätte.«
Ich versuchte natürlich, ihr das auszureden, es gelang mir aber nicht, und mit dieser sonderbaren Furcht ist sie dann nach Bethanien gegangen. Am Tage nach der Operation fuhr ich dorthin und hörte, daß alles gut gegangen, und die beste Hoffnung auf Genesung vorhanden sei, durfte sie aber nicht sehen, da sie sehr schwach und angegriffen war. Ich sprach die Schwester, die ihre Pflege übernommen hatte, und diese erzählte mir folgendes: »Das erste, das Ihre Freundin that, als sie aus der Narkose erwachte, war, daß sie meine Hand ergriff, mir flehend in die Augen sah und mich fragte: ›Was habe ich gesagt? Sagen Sie mir ganz ehrlich, liebe Schwester, was habe ich gesagt?‹
Da konnte ich ihr der Wahrheit gemäß nur mitteilen: ›Zuerst haben Sie mit deutlicher klarer Stimme das Vaterunser gebetet und nach einer Weile haben Sie hinzugefügt: O, was mußte unser Herr leiden! Das war alles.‹
Sie hätten sehen sollen, welch ein Freudenschein über ihr Gesicht ging, als sie das hörte.
›O liebe Schwester,‹ rief sie, ›wie danke ich Ihnen, wie macht mich das glücklich!‹ Und sie richtete sich trotz ihrer Schwäche auf und hätte mir die Hand geküßt, wenn ich es gelitten hätte.«
Jetzt ist meine Freundin schon seit einiger Zeit wieder in ihrer Wohnung und verhältnismäßig ganz munter und mobil. Wir haben kürzlich sehr vergnügt ihre Genesung gefeiert, haben aus den schönen Meißener Tassen Kaffee getrunken und die köstlichen kleinen Kuchen dazu gegessen. Dabei erzählte sie mir: »Mein erster Gang war natürlich zu dem freundlichen Sargfabrikanten. Er erkannte mich gleich wieder, begrüßte mich sehr höflich und sagte, er freue sich außerordentlich, mich so wohl zu sehen. Das kam so aufrichtig und ehrlich heraus, daß er mein ganzes Herz gewann, um so mehr, da ich doch diesen Mann in seinen geschäftlichen Hoffnungen eigentlich etwas getäuscht hatte. Ich kam ja auch, um mich darüber mit ihm auszusprechen.
›Aus unsrer Verabredung kann einstweilen nichts werden,‹ sagte ich, ›aber sie bleibt bestehen, ganz fest, dafür habe ich schriftlich Sorge getragen. Sie wissen ja noch, hellgelb mit den Rosenguirlanden. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.‹
›Jawohl, ich weiß,‹ sagte er und verbeugte sich wieder, indem er sanft die Hände umeinander rieb, ›und es soll mir eine ganz besondere Freude sein, auf die Ausführung Ihres geschätzten Auftrages noch recht lange warten zu dürfen.‹
Nicht wahr, Annchen, das war doch recht nett gedacht und gesagt, noch dazu von seinem Standpunkt aus, wo er doch davon lebt. Die Leute schreien immer so viel jetzt, die Welt wäre so schlecht, das kann ich gar nicht finden. Wenn man nur selbst immer recht gut zu den Menschen ist, da findet man auch welche, die es wieder sind. Das ist meine Ansicht von der Sache, was denkst du, Annchen?«
So erfreut sich nun die alte Gouvernante des neu geschenkten Lebens und sieht heiter und ruhig in die Zukunft, denn der Gedanke an das schöne friedliche Plätzchen auf dem Kirchhofe und an den hübschen gelben Sarg mit den Rosenguirlanden hat keine Schrecken für sie.