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Radau! Radau, Radau, dau, dau!
Ein feines Lied wird jetzt gemacht,
Drum spitzt die Ohren, gebet acht,
Und habt ihr's euch gemerkt genau
Stimmt herzhaft ein: Radau!
Fritz Sick.
(Fliegende Blätter.)
Die »Fliegenden Blätter«, die stets eine feine Empfindung für die Eigentümlichkeiten und Bedürfnisse des deutschen Volkes gezeigt haben, sind schon vor Jahren mit einem Radauliede hervorgetreten, von dessen fünfzehn Strophen die obenstehende die erste und zugleich die zahmste ist. Denn das Lied ist von einer, seinem Stoffe entsprechenden, fröhlichen Urkraft und nicht für die Kinderstube geeignet, obwohl man sagen muß, daß an diesem gesegneten Orte die ersten Vorstudien für das, was man Radau nennt, gemacht werden, und man dort in kinderreichen Häusern mit schwacher Regierung schon recht respektablen Leistungen begegnen kann.
Am meisten, scheint es mir, ist das Bedürfnis zum Radaumachen in den großen Städten und ganz besonders in Berlin bei gewissen Menschenklassen vorhanden, und zwar tritt es nicht so sehr in der Stadt selbst auf, sondern es regt sich in seiner ganzen Stärke erst bei Landpartien oder bei Ausflügen in den Wald. Es ist, als könnten diese Leute den städtischen Lärm der verkehrsreichen Straßen, der Werkstätten und Bahnhöfe auch in der freien Natur nicht entbehren, und da der Wald ihn nicht hervorbringt, so erzeugen sie ihn künstlich durch sogenannte Radauinstrumente. Ich will die Industrie, die sich mit Hervorbringung solcher Instrumente befaßt, nicht ganz verdammen, denn mancher brave Mann ißt sein Brot davon, aber ich glaube doch, daß sie eine Erfindung des Teufels ist. Nicht des alten Lucifers selber, der sich mit solchen Kleinigkeiten nicht abgibt, sondern jener seiner Subalternbeamten, denen die Bestrafung sündhafter Musikanten anvertraut worden ist, die selbstverständlich an ihren empfindlichsten Teilen, den Ohren, gepeinigt werden. Es gibt Kaufläden in Berlin, wo man diese Marterinstrumente in großer Auswahl und in allen möglichen Formen vorrätig finden kann, und es werden im Sommer gute Geschäfte damit gemacht. Sie werden aus Pappe und Blech in Form von Bombardons, Tuben, Flöten, Gießkannen, Tabakspfeifen und Tuthörnern hergestellt, und allen ist gemeinsam, daß sich mit möglichst geringer Anstrengung ein möglichst fürchterlicher Ton auf ihnen hervorbringen läßt. Sie bergen in ihrer unscheinbaren Hülle das Gebrüll des Löwen, das Trompeten des Elefanten, den Schwanengesang des Schweines, das Kreischen der Lokomotive, das Heulen verliebter Kater und das Geheul hungriger Wölfe und Hyänen. Wie oft sieht man im Sommer sogenannte Kremser hinausfahren ins Grüne, deren Insassen reichlich mit solchen furchtbaren Instrumenten bewehrt sind, wie oft hört man nicht ihre herzzerreißende Musik durch die Stille des Waldes oder über den flimmernden See hinschallen. Ich muß gestehen, für mich hat dies thörichte Verfahren etwas Rätselhaftes. Die Katzenmusik der Studenten als ein Zeichen negativer Hochachtung kann ich verstehen, der ohrenbetäubende Lärm des Haberfeldtreibens als eine Mahnung zur Besserung ist mir begreiflich, aber warum man der unschuldigen Natur eine Katzenmusik bringt, das gibt zu denken. Noch dazu bei uns in Norddeutschland, wo sie doch nicht durch abscheuliche Töne, wie in den Tropen vielleicht, dazu herausfordert. Denn das bißchen Krächzen der Krähen, das Kläffen der Dohlen und der häßliche Schrei des Hähers spielt doch am Ende keine Rolle; im allgemeinen sind die Stimmen der Natur lieblich wie im Liede der Vögel, dem Gesäusel der Blätter, dem zarten Gesang der Tannennadeln, oder erhaben, wie im Brausen des Sturmwindes und im Rollen des Donners.
Ich kann mir nur denken, daß es Leute gibt, die in dieser hastigen, zerrissenen Welt so unganz geworden sind, daß sie die erhabene, in sich selbst versunkene Einheit der Natur als einen stillen Vorwurf empfinden, den sie durch möglichstes Getöse zu übertäuben suchen. Sie sind nicht mehr die Kinder, sondern die verlorenen Söhne der Natur und fühlen sich nicht wohl bei dem stillen Blick der gemeinsamen Mutter. Und darum macht es ihnen ein wüstes Vergnügen, das heilige Schweigen des Waldes mit greulichem Getöse zu durchbrechen und die zarten Stimmen der Natur mit abscheulichem Lärm zu übertönen. Sie machen Radau!
»Radau! Radau, Radau, dau, dau!
Bis alles sich im Wirbel dreht,
Bis alles auf dem Kopfe steht,
Die ganze Welt in Fransen geht,
So lange wird gekräht!«
Gewissermaßen ein veredeltes Bedürfnis zum Radaumachen hat in Berlin zur Bildung verschiedener Trommlervereine geführt. Diese bestehen aus einer Anzahl von meist halbwüchsigen Burschen in Turnkleidung, und ihr einziger Zweck ist, möglichst viel und oft zu trommeln und zu pfeifen. Sie durchziehen des Sonntags in Trupps von wenigen bis zu zwanzig Mann und mehr die Wälder der Umgegend und trommeln unausgesetzt fürs Vaterland. Wenn sich dann an besonders beliebten Stellen des Grunewaldes zu dem Kreischen der spielenden Gesellschaften und dem Tuten der Radaubrüder noch der »Trommeln und Pfeifen kriegerischer Klang« mischt, dann entsteht ein Salat von Tönen, der nichts zu wünschen übrig läßt, ein Ohrenschmaus, zu dem eine gute Verdauung gehört.
Das Komischte, was mir aber an solchen geräuschvollen Vereinigungen jemals begegnet ist, habe ich im vorigen Jahre in dem nahe an Charlottenburg gelegenen Teile der Jungfernheide mehrfach zu beobachten Gelegenheit gehabt, nämlich den »Bombardonverein«, wie ich diese Gesellschaft genannt habe. Sie bestand aus vier halbwüchsigen Bengeln, deren einer ein mächtiges Bombardon, der andere eine Posaune, und der dritte ein Waldhorn führte. Der vierte hatte kein Instrument und mußte sich mit einer Stellung begnügen, gemischt aus Musikfreund und Notenpult. Sie hatten nämlich nur ein Notenbuch, und dies hielt er seinen Genossen vor, wenn der Drang nach Musik in ihnen erwachte.
Ach, leider schlummerte dieser immer nur kurze Zeit, während sie einige Schritte weiter durch den Wald wanderten, um wieder einen anderen schattigen Ort zum Zeugen ihrer Orgien zu machen. Sie bliesen mit einer so furchtbaren Inbrunst und einer so tiefen Andacht falsch, daß es erhaben zu sehen und zu hören war. Da sie sich bei ihrem Spiel weniger auf ihre Kunst als auf den lieben Gott verließen, und dieser ihnen offenbar gar nicht zu Hilfe kam, so war der Erfolg unbeschreiblich. Insonderheit das Bombardon, das durch des Basses Grundgewalt doch die ganze Geschichte zusammenhalten sollte, machte die unvermutetsten Sprünge, gleich einem Pferde, das, anstatt auf dem Wege zu bleiben, mit seinem Reiter fortwährend über die Seitengräben setzt. Da nun auch der Posaunist seine Züge entweder zu lang oder zu kurz einrichtete, und das Horn seine eigenen verbotenen Wege wandelte, so ergab das eine Zusammenwirkung, die wahrscheinlich nicht beabsichtigt, dafür aber desto origineller war. Zu Anfang konnte man immer noch erkennen, wo sie hinauswollten und welchem Stücke sie zu Leibe gingen, doch da im Verlauf der Sache ein jeder an seinem eigenen Takte festhielt, so waren sie bald weit auseinander, wie drei verirrte Hammel, die im Walde schmerzlich nach einander blöken. An dieses Schicksal schon gewöhnt und durch manche Erfahrung belehrt, daß sie sich nun doch nicht wiederfinden würden, hörten sie auf und fingen unverdrossen wieder von vorne an.
Ich habe den Bombardonverein an verschiedenen Sonntagen des vorigen Jahres beobachtet, und obwohl dann der ganze Wald im Umkreis einer halben Stunde durch diese grausigen Töne akustisch verseucht war, so konnte ich diesen jungen Menschen doch nicht zürnen. Der dämonische Reiz, den jede ehrliche Tollheit auf mich ausübt, zwang mich jedesmal, den Tönen nachzugehen und die vier Musenjünger aufzusuchen. Die respektvolle Aufmerksamkeit, mit der ich aus einiger Entfernung ihren Vorträgen folgte, schien ihren Beifall zu finden und feuerte sie zu immer höheren Leistungen an. Sie kamen allerdings dadurch nur noch schneller auseinander. Wie erfüllt von der Wichtigkeit seines Postens und wie stolz auf diese Leistungen seiner Freunde war der Musikfreund, der als Notenpult diente! Was hätten sie ohne ihn auch wohl anfangen wollen? Wie bliesen die andern drei die hageren Backen auf bei ihren schwierigen Instrumenten, die alle viel Puste erfordern. Die Augen traten ihnen aus dem Kopfe, und die Gesichter sahen ganz knollig aus. Ich dachte mir, für die Ausbildung ihrer Lungenflügel dürften diese Uebungen nur heilsam sein, und ich konnte ihnen nicht zürnen, weil ich sah, daß sie glücklich waren.
Ich dachte mir, diese Sonntagnachmittagsstunden seien am Ende die Licht- und Glanzpunkte ihres Lebens. An den Wochentagen hockten sie vielleicht in dumpfen Werkstätten an sonnenlosen Höfen, aber am Schluß der Woche stand es, wie wenn man am Ende eines düsteren und feuchten Kellerganges auf leuchtendes Grün und nickende Blumen sieht, dort war der Sonntag, wo man hinauszog in den Wald und unter grünen Bäumen die edle Kunst der Musik pflegte. Und wenn sie dies auch in scheußlicher Weise betrieben, so darf man sich doch nicht wundern, daß sie daran Vergnügen hatten. Denn die allgütige Gerechtigkeit hat es also eingerichtet, daß sie dem ohnmächtigen Dilettanten als Ersatz das uneingeschränkte Vergnügen an der Ausübung seiner Kunst beschert, während diese dem Meister, der sich nie genug thut, nur ewige Arbeit und rastloses Ringen bedeutet. Und also ist es gut.
Ich dachte mir, wenn einer dieser jungen Menschen am Abend nach vollbrachter Arbeit dem andern auf der Straße begegnet, dann reden sie vom letzten Sonntag, wo sie mit dem »Hohenfriedberger« so fein abgeschnitten haben nach ihrer Meinung, und wie »duse« es geklungen hat: »das Meer erglänzte weit hinaus.« Und sie trennen sich mit dem Ausspruch: »Na, also uff nächsten Sonntag – da woll'n wir aber mal feste wieder Musike machen!«
In diesem Jahre bin ich noch nicht wieder in jenem Walde gewesen und weiß daher nicht, ob der Bombardonverein dort noch sein Wesen treibt. Aber am nächsten Sonntag will ich mich aufmachen und mich nach ihm umsehen. Sollte ich ihn nicht wiederfinden, würde es mir leid thun!