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Hans Hinderlich

Es gibt allerlei Arten von Sammlungen und unter den Sammlern mancherlei Sonderlinge. Zu diesen gehört mein Freund Abendroth, denn er hat die ganz besondere Leidenschaft, Menschen zu sammeln. Es würde ihn mit dem Strafgesetzbuch in Konflikt bringen, wollte er sich einen anthropologischen Garten anlegen und die merkwürdigen Exemplare seiner Sammlung hinter soliden Eisengittern aufbewahren, auch würde es den humanen Anschauungen unsrer Zeit nicht entsprechen, wollte er sie in Spiritus setzen oder mit Wickersheimerscher Flüssigkeit durchtränkt dauerhaft konservieren, deshalb betreibt er die Sache mehr auf eine ideelle Weise und trägt die ganze Sammlung in einem kleinen Kasten stets mit sich herum, in seinem Hirnkasten nämlich, wo er sie durch ein scharfes und untrügliches Gedächtnis gleichsam geistig einbalsamiert hat. Es gewährt ihm das größte Vergnügen, einem Menschen, an dem er einen eigentümlichen oder komischen Zug entdeckt hat, nachzusetzen wie ein Knabe einem seltenen Schmetterling, seine Bekanntschaft zu suchen und dem Kenner gleich, der einen neuen trefflichen Jahrgang behaglich schlürft, den ganzen geistigen Inhalt seines Opfers in sich hineinzusaugen, bis an dem vollständigen Charakterbilde nichts mehr fehlt und jede kleine Absonderlichkeit sauber festgestellt ist. Dann wird es klassifiziert, rubriziert und in das betreffende Gedächtnisfach eingereiht. Die behaglichsten Stunden meines Freundes Abendroth sind die, wo er nach des Tages Arbeit gemächlich auf dem Sofa liegend, seine Pfeife raucht und dazu seine Sammlung revidiert. Bei einer solchen Gelegenheit kam eines Tages die Frau, bei der er wohnte, ins Zimmer und sagte, als sie ihn allein fand, ganz verwundert: »Du liebe Zeit, Herr Abendroth, ich glaubte, Sie hätten Besuch, weil Sie fortwährend so laut gelacht haben.«

»O nein, Verehrteste,« sagte dies er, »ich revidierte nur meine Sammlung, und da kam mir der alte Major in die Quere, der immer die Geschichten ohne Pointe erzählt.«

Da die Frau diese dunkle Rede gar nicht verstand, so ward ihr dadurch wenig Aufklärung und sie mußte sich ohne Befriedigung ihrer Neugier mit innerlichem Kopfschütteln wieder entfernen. Sie soll übrigens ihrer intimsten Freundin, der geheimen Kanzleisekretärswitwe Kägebein, einmal im Vertrauen mitgeteilt haben, sie glaube, bei ihrem Mietsmann rappele es zuweilen ein wenig.

Die Neigung meines Freundes Abendroth, Menschen zu sammeln, ist nun auf mich übergegangen, und wenn ich darin auch weniger Gewandtheit und Spürkraft besitze, als mein Vorbild, so habe ich doch im Laufe der Zeiten auch ein recht nettes Sortiment zusammengetragen. Zuweilen besuche ich meinen Freund deswegen; wir vergleichen und bestimmen dann unsre Exemplare, tauschen Dubletten aus und erfreuen uns gemeinschaftlich an besonders seltenen und guterhaltenen Musterstücken. Dabei stellte es sich kürzlich heraus, daß wir zufällig beide ein und dasselbe Objekt gesammelt hatten, aber während er es sozusagen im Jugendkleide besaß, hatte ich Gelegenheit gehabt, das ausgefärbte Männchen zu beobachten, woraus sich dann eine sehr anregende und genußreiche Vergleichung ergab, aus der wir beide Gewinn und Belehrung zogen.

Es war dies ein Mensch, Namens Hans Hinderlich, einer der größten Lügner, die mir in meinem Leben begegnet sind, und da ich bereits früher schon aus meiner Sammlung einige bemerkenswerte Exemplare beschrieben und diese Beschreibungen in Druck gegeben habe, so sei es mir gestattet, auch dieser Spezies einige wenige Worte zu widmen.

Lügen und Lügen ist am Ende ein Unterschied. Mein Freund Abendroth versteht sich zum Beispiel ebenfalls wundervoll auf diese Kunst. Er ist ein vortrefflicher Geschichtenerzähler und wendet bei dieser Gelegenheit, um der Sache mehr Lebendigkeit zu geben, gern das Kunstmittel an, alles als eigenes Erlebnis vorzutragen, wodurch der Reichtum an sonderbaren Begebenheiten, der sich in sein kurzes Leben zusammendrängt, wahrhaft staunenswert erscheint. Jedoch hat er meines Wissens niemals Nutzen daraus gezogen und niemals die Naivität besessen, wirklichen Glauben für seine Geschichten zu erwarten. Dies wäre auch zu viel verlangt gewesen für die unglaublichen Erzählungen von den Thaten seines verstorbenen Hundes Polly, dem er alle die bekannten Geschichten aufhalste, die aufschneiderische Jägererfindung je in glücklichen Augenblicken ausgeheckt hat, von dem er behauptet, er habe die warme Stelle auf dem Sofa, die den verbotenen Lagerplatz verriet, vor der Ankunft seines Herrn mit dem Schweife wieder kühl gewedelt und habe einmal, als man ihm mittags sein gewohntes Futter nicht gegeben habe, als Erinnerungszeichen aus dem Garten ein Vergißmeinnicht überbracht. Wie sollte mein Freund auch Glauben erwarten für die geniale Methode, durch die er sein einstmals beim Baden verlorenes Gebiß wieder erhielt, indem er, da alles Tauchen vergeblich war, ein wenig von seinem Lieblingsgericht Thüringische Kartoffelklöße an eine Angel band, worauf es sofort anbiß und emporgezogen werden konnte – wie sollte er dafür Glauben erwarten, zumal er keinen einzigen falschen Zahn besaß und mit seinem gesunden Gebiß Tische aufheben konnte. Auch verlangte er wohl niemals, daß jemand das als historische Thatsache betrachte, was er von dem großen Orkan erzählte, den er in Berlin im Jahre 1869 erlebt haben wollte. Er hatte sich unter den Linden vor der Gewalt des Sturmes an einen Laternenpfahl geklammert, allein die ungestüme Windsbraut riß ihm die Beine unter dem Leibe weg, so daß er eine Weile horizontal wie eine Windfahne an dem Laternenpfahl in der Luft hing, während gleichzeitig eine Droschke in den benachbarten Baum geweht wurde, wo sich das Pferd in den Zweigen verwickelte, indes der Kutscher angstvoll auf der flatternden Droschke saß und voll Entsetzen auf die fliegenden Geheimräte und Schneidermamsellen hinstierte, die die Luft erfüllten. Der Kutscher hatte Glück, denn der Ast brach, Pferd und Droschke fielen herab und er fuhr in einer Atempause des Sturmes nach Hause. Mein armer Freund jedoch, der den schützenden Laternenpfahl nicht zu verlassen wagte, geriet kurz darauf in einen Wirbelsturm, der ihn nötigte, um den Pfahl herum eine Minute lang in horizontaler Lage die große Riesenwelle auszuüben.

Wie gesagt, mein Freund verlangte für diese Dinge keinen unbedingten Glauben und würde von dem Verstande dessen, der ihm solchen geschenkt hätte, am Ende keine allzuhohe Meinung gehabt haben. Hans Hinderlich dagegen, das gemeinschaftliche Exemplar unsrer Sammlungen, betrieb das Geschäft des Lügens in ganz andrer Weise. Er gehörte zu den Menschen, denen die Wahrheit als so etwas Alltägliches, Gewöhnliches und Reizloses erscheint, daß es ihnen förmlich widerlich und gemein vorkommt, von ihr Gebrauch zu machen, da es ihnen doch so leicht wird, durch ihren allzeit erfinderischen Geist das einförmige Leben zu bereichern und zu erweitern. Er log nicht allein, wenn er sich Nutzen davon versprach, wie wir es am Ende ja alle thun, nein er log aus Bedürfnis, aus Liebhaberei, er log, weil er nicht anders konnte. Diese Erscheinung, der man nicht allzu selten im Leben begegnet, scheint mir ein mißgeleiteter Dichtungstrieb zu sein; vielleicht wäre unser Mann bei seiner stets regen Erfindungsgabe durch eine andre und bessere Erziehung ein großer Poet geworden und hätte auf dem Gebiet der schönen Lüge, die wieder zur Wahrheit wird, Beträchtliches geleistet. Jedenfalls verschwendete er auf die Aufrechterhaltung seiner mannigfachen Lügengespinste eine solche Summe geistiger Arbeit und Nachdenkens, daß er, wenn er diese auf etwas Nützliches gewendet hätte, damit sicher erfreuliche Resultate erreicht haben würde. So aber ward seine geistige Kraft durch diese lügnerischen Erfindungen vollständig aufgezehrt, so daß ihm für andres nichts übrig blieb, und er es auch nicht weiter gebracht hatte, als zu einem jener untergeordneten Bauzeichner, die der Bureauwitz, weil sie sich vorzugsweise mit dem mechanischen Durchpausen von Zeichnungen zu beschäftigen haben, mit dem klassischen Namen Pausanias zu bezeichnen pflegt. Wegen seiner allgemeinen Unbrauchbarkeit und einiger andrer Eigenschaften, die bald erwähnt werden sollen, hatte er selten irgendwo auf längere Zeit eine bleibende Stätte. Nur bei einer besonders nachsichtigen und langmütigen Behörde – und dies ist der Ort, wo er meinem Freunde Abendroth ins Netz lief – hat er sich einmal länger als einige Monate gehalten.

Hans Hinderlich betrachtete seine Anstellung bei irgend einer Bahn vor allen Dingen als eine Gelegenheit, Urlaub zu bekommen, womit in diesem Falle freie Fahrt auf allen Eisenbahnen Deutschlands verknüpft war. Da dringende Familienangelegenheiten bekanntlich der beste Grund sind, den man bei Urlaubsgesuchen vorschützen kann, so war er um dergleichen nicht im geringsten verlegen. Er brachte zunächst seinen Vater um, dann seine Mutter und schonte schließlich auch seine Geschwister nicht. Da er seinen Vater in Breslau, seine Mutter in Königsberg, seinen Bruder in Hamburg und seine Schwester in Stuttgart draufgehen ließ, so bekam er durch diese auffallende Familiensterblichkeit ein schönes Stück von Deutschland zu sehen. Als er bemerkte, daß die Sache anfing, eintönig zu werden, schien er in Besorgnisse zu geraten über den Fortbestand seines Geschlechtes und nahm, so bald es anging, Urlaub, um sich zu verheiraten. Er beantragte dafür acht Tage, allein, da ihm die Antwort ward, fünf Tage seien für diesen Zweck vollkommen ausreichend, so begnügte er sich auch damit, und nachdem er auf dem Bureau eine ausschweifende Schilderung von der Schönheit, den Tugenden und dem Reichtum seiner Zukünftigen entworfen hatte, reiste er ab, diesmal nach Halberstadt. Nach Ablauf des Urlaubes kehrte er ziemlich niedergeschlagen wieder zurück und erzählte eine romanhafte Geschichte von unliebsamen Entdeckungen, die er gemacht hätte. Er schmückte sie mit reichlichen Tiraden über die Falschheit der Weiber aus und gestand, daß aus der Sache nichts geworden sei. Jedoch schien ihn dies nicht abgeschreckt zu haben, denn nach einer Weile begehrte und erhielt er wiederum Urlaub zum Zweck seiner Verheiratung mit einer Braut, die er sich – auf welche geheimnisvolle Weise, ist nie aufgeklärt worden – unterdes in dem entfernten Prag angeschafft haben wollte. Da auch dies nicht zum Ziele führte und er nach einiger Zeit zum drittenmale ein Gesuch einreichte, für denselben Zweck, der diesmal in Hildesheim erfüllt werden sollte, riß auch seiner langmütigen Oberbehörde die Geduld und er bekam das Gesuch zwar genehmigt zurück, jedoch mit der Randbemerkung, es sei im höchsten Grade wünschenswert, daß diesmal aus der Sache etwas werde. Aber siehe da, es gelang ihm wiederum nicht.

Genaue Nachforschungen, die wir späterhin anstellten, haben ergeben, daß er innerhalb des an den verschiedensten Anstellungen reichen Zeitraums von zehn Jahren zum Zweck der Erlangung von Urlaub seinen Vater siebenmal, seine Mutter viermal, seinen Bruder und seine Schwester je dreimal umgebracht hatte, und daß trotzdem diese ganze Verwandtschaft frisch und munter war und sich einer zufriedenstellenden Gesundheit erfreute. Den Versuch, eine Lebensgefährtin zu gewinnen, hatte er in dieser Zeit achtmal angestellt.

Als ich ihn kennen lernte, war ihm dies bereits gelungen und zwar hatte sich, was er so oft in der Ferne gesucht hatte, in nächster Nähe erfüllt. Jedoch schien er mit ihr nicht sehr nett umzugehen, denn ich erinnere mich, daß er, um einen Tag Urlaub zu erhalten, ihr einmal plötzlich ein Bein brach. Die Heilkraft, die dem Blute dieser Frau innewohnte, mußte aber grenzenlos sein, denn am andern Tage sah man sie schon wieder ganz munter auf der Straße an seinem Arme wandeln.

In dieser Zeit sprach er gerne von seinen Erlebnissen im französischen Kriege, wozu ich gleich bemerken muß, daß er ganz kriegsuntüchtig war und niemals gedient hatte. Nur mit Mühe konnte er zuweilen verhindert werden, die vernarbte Schußwunde zu zeigen, die er an seinem rechten Schenkel tragen wollte, obgleich seine Beine zu jenen gehörten, von denen die Sage geht, daß sie niemals von einer Kugel getroffen werden, da sie vermöge ihrer krummen Beschaffenheit sich stets an einem Orte befinden, wo man sie nicht vermutet. Die Andeutungen über die Verwüstungen, die er in Frankreich in den Reihen der Männer und den Herzen der Weiber angerichtet hatte, ließen es als ein unsagbares Glück für dieses Land erscheinen, daß dergleichen gefährliche Charaktere unter der Invasionsarmee doch nur verhältnismäßig selten gewesen sind.

Schon lange hatte er sich bitter beklagt über die Ungerechtigkeit in der Verteilung der Ehrenzeichen, bis er eines Tages freudestrahlend hereingestürzt kam und verkündigte, man habe ihm nachträglich doch noch das eiserne Kreuz zuerteilt. Man hat es später freilich niemals an ihm gesehen, und er hatte es auch nicht gern, wenn man sich danach erkundigte.

In Augenblicken, wo eine Ueberraschung durch den Bureauchef nicht zu befürchten war, arbeitete er an einer abscheulich getuschten Fassade einer kleinen unmöglichen Villa, die er weder im Grundriß noch in irgend einem Schnitt dargestellt hatte, und deren Inneres ihm wahrscheinlich selber ein düsteres Geheimnis war. Er erzählte dazu mit großer Wichtigkeit, daß dieses rätselhafte Wohngehäuse bereits auf seinem Grundstück in Lichterfelde im Bau begriffen sei und er seine Frau damit überraschen wolle. Daran knüpfte er weise Belehrungen über die Spekulation mit Grundstücken und rühmte seine reiche Erfahrung in diesem Fache, während er doch in seinem Leben nie mehr Grund und Boden besessen hatte, als den, der sich bei feuchtem Wetter an seine Stiefel hing.

Zuweilen ward er von einem meiner Kollegen in einer abgelegenen Kneipe entdeckt, wo ihn die Leute mit Herr Oberingenieur oder Baurat anredeten und ihn mit Ehrfurcht behandelten. Solche Zusammenkünfte fielen dann meist recht beschämend für ihn aus, und er pflegte diese Kneipe später zu vermeiden.

Zuletzt ereilte ihn sein gewohntes Schicksal und er ward entlassen. Als er fort war, kam noch ein Nachspiel in Gestalt einer fetten, atemlosen Frau, die sich nach dem »Oberingenieur« Hinderlich erkundigte. Als man ihr klar gemacht hatte, daß es einen solchen nicht gebe, sondern nur einen Zeichner dieses Namens, der wegen Unbrauchbarkeit entlassen sei, schnappte sie nach Luft und fiel in Ohnmacht. Als sie sehr bald wieder zu sich kam, verkündigte sie unter kläglichem Gejammer, er sei ja nun doch Oberingenieur geworden und hätte die schöne Dienstwohnung und zwölftausend Mark Gehalt und er hätte doch die Möbel von ihr darauf hin bekommen und hätte doch noch keinen Pfennig bezahlt, und nun sei das alles nicht wahr und sie sei eine geschlagene Frau.

Es muß hierzu bemerkt werden, daß eine Ernennung Hans Hinderlichs zum Oberingenieur ungefähr dieselbe Bedeutung gehabt haben würde und ebenso außer dem Bereiche der Möglichkeit lag, wie die Beförderung des Portiers im Parlamentsgebäude zum Reichskanzler, ja daß dieser sein Amt in solchem Falle vielleicht viel besser ausgefüllt haben würde, als jener.

Ich habe seitdem nichts wieder von ihm gehört. Nur einmal ging die Sage, seine Familie habe ihn auf gemeinschaftliche Kosten nach Amerika spediert, und er sei dort Methodistenprediger geworden. Da aber diese Nachricht wahrscheinlich von ihm selber ausgeht, so ist sie mit Vorsicht aufzunehmen.


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