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Lorelei

Er hieß Heinrich Tannhäuser und war wie sein halb sagenhafter Namensvetter ein fahrender Sänger, wenigstens so ein Stück davon. Seine Wanderlust hatte ihn noch nirgends ausdauern lassen; in verschiedenen Städten Deutschlands und Italiens hatte er gelebt und gewirkt, komponiert und gedichtet, doch nirgendwo war er auf die Dauer geblieben. Zu seiner Doppelbegabung als Wort- und Tondichter kam noch, daß er eine leidliche Stimme besaß und sehr gut Klavier spielte, insonderheit auch als Improvisator seinesgleichen suchte. In den Städten, wo er bekannt war, ließ er sich denn auch zuweilen bewegen, ein Konzert zu geben zur großen Ergötzung derer, die Vergnügen am Besondern haben, das man nur selten hört und sieht. Denn einen solchen Tausendsassa, der sein ganzes Konzert als Dichter, Komponist, Sänger, Klavierspieler und Improvisator allein bestritt, fand man nicht alle Tage, zumal da alle diese Leistungen sich über das Gewöhnliche erhoben, ja zum Teil sogar sehr hohen Ranges waren. Weil er sich nun aber wohl hütete, aus diesen Künsten ein Gewerbe zu machen, vielmehr im stillen emsig weiter an seiner Ausbildung und an großen musikdramatischen Werken arbeitete, so geschah es, daß sein Name weniger genannt wurde, als er es verdiente, und daß die großen Schafdarmstreicher, Tastenhauer und Stimmritzenvirtuosen, die eben nichts weiter gelernt hatten als ihr einseitiges Handwerk, dazu kamen, ihn über die Achsel anzusehen. Denn in diesem Zeitalter der Spezialisten ist man von vornherein geneigt, den, der mehr kann als ein Ding, für einen Dilettanten zu halten.

Dies kümmerte aber Heinrich Tannhäuser sehr wenig, und er lebte ruhig so weiter, wie es ihm behagte, im sichern Vertrauen, daß sich in Zukunft schon ausweisen werde, was an ihm sei. Bei seiner Bedürfnislosigkeit erwarb er sich mit Leichtigkeit so viel, wie er brauchte, that, was ihm behagte, und lebte, wo es ihm gefiel; und da es gerade in Berlin im Herbst nicht übel ist, so hatte er sich einmal wieder in dieser mächtigen Stadt, wo ihm viele gute Freunde wohnten, eingefunden und in der Westvorstadt sich zwei behagliche Zimmer gemietet.

Eines Tages im Oktober, da der Himmel glänzend blau und rein war, und die Luft würzig und frisch, fuhr er hinaus nach der Station Grunewald, um den schönen Herbstnachmittag im Freien zu verbringen. Im Grunewald ist es wie überall in der Welt; wenn man nicht den beliebten Bierstraßen folgt, kann man bald in der Einsamkeit und aus dem Bereiche des niedergetretenen Rasens, der Eierschalen und Butterbrotpapiere sein. Der junge Mann wußte von früher her einen grünen Fußpfad, der schließlich über die Eisenbahnbrücke nach Westend führte, und diesen fand er auch glücklich wieder. Nachdem er eine Weile tapfer vorwärts geschritten war, umfing ihn die Stille des Waldes. Der letzte Drehorgelton war verhallt und selbst der Donner der fahrenden Eisenbahnzüge war hier nicht mehr vernehmlich. Ueberall war es einsam und grün, und zwischen den rötlichen Kiefernstämmen, deren unendliche Wiederholung sich wimmelnd in die Ferne verlor, floß das Sonnenlicht still hernieder. Nicht weit vom Wege stand ein Rudel Damwild; an zwanzig Köpfe waren aufmerksam unserm einsamen Spaziergänger zugewendet. Als dieser, scheinbar ohne sich um die bunten Tiere viel zu kümmern, weiter schritt, senkten sie wieder die Köpfe und zogen ruhig äsend weiter. Jetzt that sich zur Seite eine kleine Lichtung auf, und der junge Mann wandte seine Schritte dorthin, um in dem weichen Grase eine Weile zu ruhen. Hier schwebten noch einige späte Schmetterlinge, fliegender Sommer schwamm in der sonnigen Luft, und zwischen den Stämmen hatten Kreuzspinnen ihre Netze gebaut, deren Fäden wie Silber glänzten. Der junge Mann streckte sich nieder, und während er die Hände unter das Hinterhaupt legte, zogen gleich den silbernen Sommerfäden Melodien durch seinen Sinn. Er hatte den Tag über in Erks Volksliedern studiert, und nun kam die Nachwirkung davon. Es waren nicht die Klänge, die draußen in der Welt für das höchste gelten, sondern einfache Weisen. Der Ausspruch Storms im »Immensee« ging ihm durch den Kopf: »Das sind Urtöne, sie schlafen in Waldesgründen; Gott weiß, wer sie gefunden hat.« Fürwahr, wie schal kam ihm in diesem Augenblicke manches vor, das er selbst mit Feuer und Begeisterung im Herzen geschrieben hatte, wie hohl vor dieser edeln Einfalt, holden Schalkhaftigkeit und verhaltenen Leidenschaft. War nicht die Kunstproduktion oft zu vergleichen einem durch Pumpwerke hoch getriebenen Springstrahl, während hier ein Quell daher rieselte, freiwillig entsprungen aus dem Herzen der Natur, weil er nicht anders konnte? So saß er lange und summte und sang vor sich hin in der Einsamkeit, während ein zartes Säuseln durch die Kiefernwipfel ging und der Tag sich langsam neigte.

Endlich erhob er sich und wanderte weiter. Er gelangte auf die Chaussee und über die Eisenbahnbrücke in den sandigen und dürftigen Kiefernwald unmittelbar vor Westend. Bald erreichte er die ersten Häuser, wo sich diese traurige Einöde durch Kunst und sorgliche Pflege unvermittelt in üppige Gärten, schwellende Rasenflächen und laubigen Schatten verwandelt, und schlenderte zwischen den zierlichen Landhäusern dahin, die mit rotem Schmuck des wilden Weins oder von dunklem Epheu umsponnen so behaglich dalagen und in ihren Fenstern den letzten Glanz der versinkenden Oktobersonne freundlich widerspiegelten.

Da schlugen aus einem Hause, das in besonders reicher Gartenumgebung schön und vornehm dalag, durch das geöffnete Fenster Töne an sein Ohr, die eine fast elektrische Wirkung auf ihn ausübten. Zur Begleitung eines Flügels sang dort eine angenehme weibliche Stimme ein leidenschaftliches Lied, ein solches, das Sturm und Aufruhr der heftigsten Gefühle darstellte; allein sie sang es ganz falsch in einem zu langsamen Tempo und mit gänzlich unverstandenem Ausdruck. Das konnte niemand bester beurteilen als Heinrich Tannhäuser, denn das Lied war von ihm.

»O – o – o,« dachte er fast laut, »müssen doch die kleinen Mädchen immer gerade solche Sachen singen und spielen, denen sie nicht gewachsen sind.«

Seine träumerische Stimmung war von ihm gewichen und die gewöhnliche Lebhaftigkeit seiner Empfindungen, die ihn so oft schon zu schnellem Handeln getrieben hatte, kam wieder zum Vorschein. »Rascher, rascher!« murmelte er und schlug unwillkürlich den Takt, »und dann heraus mit der Stimme! O du grundgütiger Schöpfer, es handelt sich hier nicht um Heine Pensionsmädchengefühle, sondern um Katarakte, die von Felsen niederbrausen. Aber was weiß diese sanfte Lämmerseele von den Stürmen einer Menschenbrust!«

Er hatte unter dem Fenster Halt gemacht und sah nun zufällig, daß die Thür dieses Landhauses nicht verschlossen, sondern leicht angelehnt war, und erinnerte sich zugleich, daß er kurz zuvor ein hübsches Dienstmädchen aus dem Hause hatte über die Straße huschen sehen. Den jungen Komponisten befiel ein übermütiger Gedanke. »Ich werd's ihr mal vorsingen!« sagte er vor sich hin, und fast in demselben Augenblicke war er auch schon auf dem schöngeschmückten Hausflur. Er klopfte an die Thür, hinter der der Gesang erschallte, allein da man ihn nicht hörte, trat er schnell ein. Der Gesang und das Spiel ward plötzlich unterbrochen, und von dem Flügel erhob sich ein schönes und schlankes junges Mädchen, das aus großen, schwarzbraunen Augen mit Verwunderung und zugleich ein wenig Schreck auf ihn hinschaute.

»Mein gnädiges Fräulein,« sagte Tannhäuser mit großer Schnelligkeit, »verzeihen Sie, daß ich hier so plötzlich eindringe. Ich hörte Sie ein Lied singen, das mir wohl bekannt ist. Sie haben eine schöne sympathische Stimme, aber dies Lied singen Sie grundfalsch. Erlauben Sie nur einen Augenblick, ich will Ihnen das beweisen!« Und damit schritt er ohne weiteres auf den Flügel zu.

Das junge Mädchen that im ersten Schreck ein paar Schritte und hatte schon die Hand nach dem Klingelzuge des Haustelegraphen ausgestreckt, als ihr einfiel, daß sie allein zu Hause sei und das einzige Mädchen, das zu ihrer Bedienung geblieben war, soeben auf eine Besorgung fortgeschickt habe. Und als sie zögerte, ob sie auf die Straße hinauslaufen und um Hilfe rufen sollte, denn dieser Mensch war offenbar wahnsinnig, da ertönten auch schon die ersten Accorde und Läufe und bannten sie fest, als sie schon die Thürklinke in der Hand hatte. Und nun, als das Lied begann, gesungen von einer Stimme, die zwar nicht gerade schön war, durch die Kunst und die hinreißende Wärme des Vortrages dies aber ganz vergessen ließ, als mit gewaltiger Steigerung diese kleine leidenschaftliche Tonschöpfung vor ihr aufstieg, da trat sie unwillkürlich einige Schritte näher, süße Schauer überliefen sie, und die schönen braunen Augen verschleierten sich von Thränen. Ja, das war richtig, das Lied mußte anders gesungen werden, als es ihr noch soeben vorgekommen war. Und obwohl sie in Konzerten die berühmtesten Künstler gehört hatte, die in letzter Zeit in Berlin aufgetreten waren, so schien ihr doch, solche Musik, die so unmittelbar aus der Seele quoll, hätte sie noch nie vernommen.

Als der wunderliche Mensch dort am Flügel nun sein Lied beendet hatte, ließ er die Begleitung langsam verrauschen, die Wogen der Leidenschaft legten sich allmählich, und nur noch wie mit funkelnden Lichtern flimmerte es auf einer beruhigten See. Und während er nun leise und sanft weiter spielte, dazwischen allerlei Motive aus Volksliedern anschlug und leicht variierte, sprach er in abgerissenen Sätzen, indem er sich halb nach der jungen Dame umwandte:

»So ungefähr muß das Lied gesungen werden … Aber für Sie ist das nichts … Sie kriegen die Forsche nicht raus … Uebrigens ein vorzüglicher Westermeier, Ihr Flügel … Sind meine Lieblingsinstrumente … Man kann darauf so pianissimo spielen, daß man es kaum noch hören kann … Achten Sie mal auf …«

Und nun glitten seine Finger wie ein Frühlingshauch über die Tasten, und doch zeichnete sich klar und bestimmt das zarte Tongebilde ab.

Das junge Mädchen hatte noch kein Wort gesprochen, denn so etwas Verblüffendes war ihr noch nie begegnet. In den Kreisen, wo sie sich bewegte, ging alles so wundervoll förmlich und geschniegelt zu, und wenn sie dort einmal in Gesellschaft etwas sang, so konnte es sein, was es wollte, immer kamen die Herren Referendare und säuselten wohllautende Komplimente, die Leutnants schlugen mit hörbarem Ruck die Hacken zusammen und dankten für den hohen Genuß, und die jüngern und ältern Damen hauchten: »Entzückend!« – einen Ausdruck, den sie besonders lieben, weil er einen kleinen Mund macht. Und nun kam dieser wildfremde, unvorgestellte Mensch hier plötzlich hereingebrochen, sagte ihr Grobheiten und benahm sich ganz, als wenn er zu Hause wäre. Und doch konnte sie ihm nicht zürnen. Wie sonderbar! Es war etwas Leuchtendes und Siegreiches in seinem Wesen, das für ihn einnahm, und offenbar war er auch ein großer Künstler, das ging aus der genialen Sicherheit hervor, mit der er das Instrument und seine Stimme beherrschte. Aber sie nahm alle ihre Würde und Hoheit zusammen, suchte einen strengen Ton in ihre Stimme zu legen und sagte:

»Ich danke Ihnen aufrichtig, mein Herr, für die Belehrung, die Sie mir erteilt haben, aber …«

»O, bitte, bitte,« fuhr der junge Mann dazwischen, »ich hätte mich ja weiter über die Sache gar nicht aufgeregt, wenn Sie nicht wirklich eine anmutige Stimme hätten. Aber Sie müssen etwas anderes singen, als solche Sachen. Sie müssen einfache, herzliche Lieder singen, Volkslieder zum Beispiel.«

Es war noch hell draußen, doch begann schon die schmale silberne Sichel des Mondes siegreich aus dem Abendrot hervorzutreten.

»Was nehmen wir denn nun gleich? Jawohl die Lorelei, die kann jeder. Passen Sie auf, ich mache eine kleine Einleitung, und wenn ich Ihnen zunicke, dann legen Sie los!« Sofort begann er zu spielen, während das Fräulein, wiederum aufs äußerste verblüfft, sich vornahm, so stumm zu bleiben wie ein Fisch. Aber das Vorspiel zog sich etwas in die Länge, und eine wunderbare Stimmung kam über sie, als sie den Tönen folgte. Sie sah ihn ruhig dahinfließen, den alten Rhein, sie hörte das sanfte Rauschen seiner Wellen, und eine süßmelancholische Abendstimmung, wie sanfte Erinnerung an alte vergangene Zeiten lag darüber hingebreitet. Allmählich trat die Melodie des Liedes hervor, immer deutlicher und dringender, und endlich, als der junge Mann mit halber Seitenwendung freundlich auffordernd nickte, da setzte das schöne Mädchen ein, halb gegen ihren Willen, aber sie mußte:

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Daß ich so traurig bin …

Wie sang es sich herrlich zu dieser Begleitung, die in zarten Tonbildern den Text des Liedes malerisch begleitete und auf spielenden Wellen ihre Stimme dahintrug wie einen leichten Kahn im Schimmer des Abendrots. Der Klavierspieler nickte zuweilen beistimmend und voller Wohlwollen, und als das Lied beendet war, ließ er wie traumverloren die Begleitung ausklingen, indem er die Melodie des Liedes in kunstvoller Weise variierte. Durch das Fenster schaute die leuchtende Sichel des Mondes freundlich herein.

Dann erhob er sich schnell, verbeugte sich und sprach: »Das war schön, mein Fräulein! Ich danke Ihnen. Und nun, da ich meine Mission erfüllt habe, erlaube ich mir, mich Ihnen vorzustellen.« Er nahm eine Karte heraus und überreichte sie ihr.

»Heinrich Tannhäuser,« las sie verwundert und ihre Augen glitten fragend zu dem Namen des Komponisten auf dem Liederhefte, aus dem sie vorhin gesungen. »Sie selbst?«

Der junge Mann verbeugte sich zustimmend. Da ging ein schalkhaftes Leuchten über das Antlitz des schönen Mädchens, sie eilte zu einem Tischchen, nahm eine kleine Tasche auf und eine Karte hervor, die sie dem Komponisten mit erwartungsvoller Miene überreichte.

»Lore Ley.«

las dieser zu seiner lächelnden Verwunderung.

»Sie selbst?« fragte er dann launig, »fürwahr ich habe sie mir immer blond vorgestellt!«

* * *

Diese kleine Geschichte habe ich meinem Spürsinn zu verdanken, der angeregt wurde durch eine Anzeige, die ich vor kurzem in der Vossischen Zeitung las. Eine sonderbare Zusammenstellung von Namen erregte meine Neugier, und ich ruhte nicht eher, bis ich das kleine Abenteuer in Erfahrung brachte, das ich soeben erzählt habe. Die Anzeige aber lautete;

Lore Ley,
Heinrich Tannhäuser,
Verlobte.


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