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Nach langjähriger Abwesenheit war ich nach Berlin zurückgekehrt und schweifte eines Tages planlos durch die Straßen, vertieft in die wehmütig heitre Beschäftigung, die Stätten vergangener Jugendfreuden wieder aufzusuchen.
Dabei war ich allmählich in unbekannte Gegenden gelangt und hielt an, um mich zu orientieren. Der Name der Straße, in der ich mich befand, war mir nicht fremd, obgleich ich noch niemals dort gewesen war, und außerdem hatte ich eine dunkle Vorstellung, daß sich mit dieser Straße für mich etwas Besonderes verknüpfe. Ich zog mein Notizbuch hervor, und richtig, dort stand eine Bemerkung: »… Straße Nr. 84, der Leichenmaler.« Kurz vor meiner Abreise nach Berlin hatte mein Freund Ringwald mir diese Adresse aufgegeben und mir auf die Seele gebunden, diesen Maler, der unter seinen Freunden die sonderbare Bezeichnung führte, aufzusuchen, da er mit ihm besonders befreundet sei und dringend wünsche, auch unsre Bekanntschaft herbeizuführen.
Ich fand das Haus bald. Es war ein zweistöckiges, langweiliges Gebäude, in dem nüchternen Stil errichtet, der zu Anfang dieses Jahrhunderts herrschte, und hob sich seltsam ab gegen die riesigen Mietkasernen mit Mansardendächern, die die neue Zeit ringsum emporgetrieben hatte.
Es war ganz einsam und tot in dieser abgelegenen Straße, kein Mensch ließ sich sehen, und das einzige im ganzen Umkreis, das sich bewegte, war in dem an dem alten Hause hängenden Schaukasten eines Zahnarztes zu sehen, nämlich ein paar rote Gummikiefer mit blendend weißen Zähnen, die, durch ein verborgenes Uhrwerk getrieben, fortwährend auf- und zuklappten und ewig an einem unsichtbaren Etwas kauten.
Ich trat in den geräumigen Thorweg und stieg eine mächtige alte Holztreppe mit gewundenem Geländer und tief ausgetretenen Stufen hinan. Ein muffiges, altes Haus; es roch darin nach aufgewärmtem Kohl und Cichorienkaffee. Auf den oberen Stufen rührte sich was und ich fand dort ein altes schlumpiges Weib, das, scheinbar ohne wesentliches Resultat, die Treppe scheuerte. Auf meine Frage nach dem Maler ward ich von ihr über den Hof in den Garten gewiesen.
Auf dem Hofe war es lebendiger, denn ein Tischler, dessen Aushängeschild mit einem unendlich langen, perspektivischen Sarg, in dem man in einer Reihe hintereinander eine ganze Familie bequem hatte unterbringen können, draußen von mir bereits bemerkt war, hatte seine Werkstatt im Hinterhause aufgeschlagen, und seine Gesellen hobelten und nagelten in einem offenen Schuppen und sangen lustig zu ihrer Arbeit. Es roch dort nach frischem Holz und Firnis, und in einem halbfertigen Sarge lag auf Hobelspänen ein kleines rosiges Kind und schlief, während seine Geschwister daneben saßen und mit Sargnägeln und alten Florfetzen spielten.
Das Atelier befand sich in einem Gartenhause. Eine seltsame Beklommenheit hatte mich befallen und ich zögerte einen Augenblick, ehe ich den einfach mit dem Namen Morlin gezeichneten Klingelzug ergriff, worauf das heisere Gebelfer einer gesprungenen Glocke mit so geflissentlicher Ausdauer ertönte, daß es offenbar war, sie suche den Mangel an Klang durch ihre emsige Beharrlichkeit und Arbeitsamkeit zu ersetzen. Der Maler öffnete mir selbst, und ich war enttäuscht über seine Erscheinung, es war nicht das geringste Ungewöhnliche in ihr. Eine schlanke, durchaus modern gekleidete Gestalt von nachlässiger Haltung, ein blasses Gesicht mit wenig Bart an Kinn und Lippen, etwas müde blickenden grauen Augen und kurzgehaltenem, emporstrebendem dunklem Haar, so stand er vor mir und fragte nach meinem Begehren.
Als ich den Namen meines Freundes genannt hatte, ging ein freundlicher Schein über die Züge des Malers und er forderte mich auf, in seine Werkstatt zu treten. Gegenüber der Thür ragte mir der Rücken einer gewaltigen Leinwand entgegen. Morlin deutete darauf hin und sprach, indem ein feiner Zug von schalkhafter Ironie in seinen Mundwinkeln lauerte: »Sie werden das Bild sehen, das ich eben vollendet habe. Ich störe Sie anfangs nicht dabei, ich werde mir anderweitig zu thun machen. Vielleicht brauchen Sie einige Zeit, sich an den dargestellten Gegenstand zu gewöhnen.«
Damit schritt er an einen Tisch, der, mit einer Unzahl von Sachen bedeckt, dicht an dem von unten halb verhängten Atelierfenster stand, und überließ mich meinem Schicksal. Ich darf wohl sagen, daß ich mit einem Gefühl ängstlicher Spannung an die bezeichnete Leinwand trat, und ich dankte, als es geschehen war, dem Maler für seine Rücksicht, denn kaum konnte ich eine Aeußerung des Entsetzens zurückhalten. Auf dem Bilde war, wie ich sofort erkannte, das Innere des Leichenkellers der Berliner Anatomie dargestellt, jenes furchtbaren Ortes, wo die eingelieferten Körper für die Zwecke des Studiums aufbewahrt werden. Auf schrägen Pritschen hingestreckt, lagen die nackten Gestalten, aus dem ungewissen Dämmer in fahlem Scheine hervorleuchtend, Kinder, Greise und Jünglinge, wie sie ein grausames Schicksal an diesen furchtbaren Strand geworfen hatte. Sie führten keinen Namen und keinen Stand mehr, sie waren wissenschaftliche Objekte und trugen nur noch eine Nummer, die auf Papier geschrieben an eine Zehe gebunden war. Im Vordergrunde lag ein Weib mit einem nassen Tuch bedeckt, das die Form des verhüllten Leibes hervortreten ließ; unheimlicher als all das nackte Elend wirkte dieser verdeckte Jammer.
Entsetzen und Abscheu waren die Empfindungen, die mir dieses Bild einflößte, nachdem ich in kürzester Frist die geschilderten Beobachtungen gemacht hatte. Aber zu meinem eigenen Erstaunen bemerkte ich, daß sich diese Eindrücke in geringer Zeit milderten und sich eine Art von Bewunderung einmischte, die durch die außerordentliche Kunst des Malers bei der Vorführung dieser furchtbaren Gegenstände hervorgerufen wurde. Es gibt eine Art der Darstellung, die selbst das Entsetzliche, das Häßliche und Gemeine adelt, es gibt eine liebevolle Weise der Vertiefung in die Natur, die auch über die verachtetsten Gegenstände einen Schimmer der Schönheit breitet, jener Schönheit, die ein Abglanz der ewigen Wahrheit ist. Diese armen Kinder des Todes, wie sie so starr und hilflos im bleichen Dämmerlichte ruhten, es war ein ergreifendes Bild von der Unzulänglichkeit alles Menschlichen und der Grausamkeit, mit der das Schicksal seine Lose streut.
»Nun, seien Sie aufrichtig,« sagte Morlin plötzlich, »ich bin an starke Ausdrücke gewöhnt.«
Ich machte ihn mit dem Gange meiner Gedanken bekannt, allein es schien ihm nicht viel Eindruck zu machen.
»Es ist wohl ein Fehler in meiner Organisation,« meinte er, »aber eine unwiderstehliche Kraft treibt mich hin auf diese Dinge. Eigentliches Grauen habe ich niemals empfunden, nur ein tiefes und starkes Interesse an diesen Gegenständen. Im vorigen Herbst besuchte ich einen befreundeten Mediziner in der Anatomie, da drängte sich mir plötzlich die Idee zu diesem Bilde auf und verließ mich nicht wieder. Manchen Vormittag habe ich dann allein in dem Keller gesessen und Studien gemacht. Der Herbstwind brauste draußen in den Kronen der halbentblätterten Bäume und zuweilen kam ein Windstoß und warf knallend eins der stets offenen Fenster zu, oder jagte eine Wolke von welken Blättern herein, die raschelnd die schrägen Flächen der Lichtöffnungen herabkamen und flüchtig über ihre menschlichen Genossen hinwegtanzten. Sonst war dort nichts, als das stille, starre Schweigen des Todes und der stiere Blick auf ewig erloschener Augen, der unablässig auf mir ruhte. Da kam mir oft plötzlich der Gedanke, wenn nun einer von diesen hier anfinge sich zu bewegen und sich aufrichtete, um mit entsetzten Augen um sich zu schauen – was dann? Und es schien mir, als rege sich dort eine Hand oder hier ein Arm, aber ich richtete meine Augen fest darauf und sah wieder nichts, als die kalte, starre, unabänderliche Ruhe des Todes.«
Unterdes waren meine Augen weiter gewandert und hatten noch andre Bilder entdeckt, teils vollendete, teils noch in den Anfangsstadien begriffene, und es befiel mich ein Staunen über die Verschiedenartigkeit dieser von dem zuerst gesehenen. Kaum begriff man, daß es derselbe Maler war, der jenes schöne, sinnende Mädchen gemalt hatte, das mit träumendem Blick und knospendem Herzen durch den blühenden Frühlingsgarten wandelt. Und doch verleugnete er seine Natur nicht, denn wenn man das Bild näher betrachtete, so war der Garten ein Kirchhof und die blühenden Rosen wuchsen aus einem verfallenen Grabhügel hervor.
»Ich habe draußen ein Bild für Sie gesehen,« sagte ich, »in der Werkstätte des Tischlers …«
»Ich glaube, ich weiß schon, was Sie meinen,« sagte er lächelnd, indem er eine an die Wand gelehnte Leinwand umkehrte und auf eine Staffelei setzte. Wahrhaftig, da war das rosige, blühende Kind, das in dem Sarge schlief, wie ich es draußen gesehen hatte. Da waren die andern Kinder, die fröhlich mit Emblemen und Gerätschaften des Todes spielten.
Dann holte Morlin von einem Sims zwischen einem Totenkopf und dem Skelett eines seltsamen Vogels eine wunderliche, gebauchte grüne Flasche hervor, die mit einem Etikette geziert war, das ein memento mori und die rote Inschrift: »Gift!!!« zeigte, und füllte zwei altertümliche Gläschen daraus.
»Daran dürfen Sie sich nicht stoßen,« sagte er, »das dient nur zur heilsamen Abschreckung für die Aufwärterinnen, die gewöhnlich viel Sympathie für einen guten Likör haben. Es wird mir übrigens sehr schwer, eine Aufwärterin zu finden, die es bei mir aushält,« fuhr er fort, »sie graulen sich alle und mögen in dem Atelier nicht allein sein, besonders mit dem da hinten mögen sie nichts zu thun haben.« Dabei zeigte er auf eine mannshohe Nische in der Wand, die von einem kunstreichen, altertümlichen Eisengitter verschlossen war. Hinter diesem stand aufrecht ein Skelett und stierte mit dem weißen Knochenantlitz durch das eiserne Schnörkelwerk.
Wahrhaftig, ich konnte mir vorstellen, daß sich die armen, abergläubischen Weiber in diesem Atelier nicht wohl fühlten, denn es glich eher der Behausung eines mittelalterlichen Nekromanten, als der Werkstatt eines Malers. Es fehlte selbst nicht das ausgestopfte Krokodil, das von der Decke herabhing, es fehlten nicht die Hunderte von seltsamen und abenteuerlichen Dingen, die rings wie aus einem grausigen Märchen von den Wänden stierten und dem ganzen Raume etwas von dem gespenstischen Reiz eines Wachsfigurenkabinetts oder eines Raritätenmuseums verliehen. Der Abenteuerlichkeiten, die sich hier vorfanden, hätte sich ein solches Museum nicht zu schämen gebraucht. An der Wand hing unter vielen andern Dingen eine braungedörrte Menschenhand, die mir wegen ihrer zierlichen Form besonders auffiel. Morlin nahm sie von ihrem Nagel und reichte sie mir hin. Es war offenbar eine Frauenhand, die schlanke Weichheit der Formen war noch vollständig erkennbar und an den sanft nach vorn sich verjüngenden Fingern zeigten sich die wohlgepflegten Nägel noch gänzlich unverletzt.
»Ein Geschenk eines Freundes,« sagte Morlin. »Dieser fand während des letzten französischen Krieges die Hand in dem Park einer verlassenen Villa mitten in einem Rosengebüsch an einem Zweige hängend.«
Unterdes war die Dämmerung hereingebrochen und ich fand es an der Zeit, meinen Besuch zu beenden. Der Maler hatte ein großes Kirchenwachslicht angezündet, um mir über den dunklen Flur zu leuchten, jedoch als seine Blicke zufällig über die Wände schweiften, hielt er plötzlich inne und sagte: »Ach, dürfte ich Sie, bevor Sie gehen, noch um eine Gefälligkeit ersuchen?« Dabei deutete er auf ein Bort, das in Thürhöhe an der Wand entlang lief und ganz bedeckt war mit einer Reihe von Totenmasken und Gipsabgüssen von Köpfen berühmter Verbrecher, die mit leeren Augen aus brutalen Gesichtern finster in die Welt starrten. »Wenn Sie mir nur einen Augenblick das Licht hier unten halten wollen, wie ich es Ihnen angebe. Sie glauben nicht, welche wunderbaren Effekte das gibt, wenn man diese Kerls so von unten beleuchtet.«
Ich hielt das Licht und er trat zurück.
»Ein wenig näher an die Wand!« rief er. »So, nun noch mehr links … etwas höher das Licht … so, halt! … Köstlich … herrlich … wie dem da statt der Augen zwei große Finsternisse im Gesicht stehen, und diese Uebergänge, diese Reflexlichter! Sehen Sie, wie die Schlagschatten lang an der Wand in die Höhe schießen … Famos!«
Ich sah von meinem Standpunkte ebenfalls hinauf und muß gestehen, selten eine schauderhaftere Gesellschaft von Galgengesichtern beisammen gesehen zu haben. Das finstere Brüten in diesen stieren Augen ward durch die Beleuchtung ins Fratzenhafte verstärkt und durch das flackernde Licht kam ein unheimliches Leben in die starren Züge; es regten sich scheinbar die knochigen Kinnladen, und um wulstig aufgeworfene Lippen zuckte es wie ein dämonisches Grinsen.
Danach verabschiedete ich mich und habe später den Maler nicht wiedergesehen. Aber unvergeßlich hat sich dieser eine Besuch in meine Seele geprägt.
Die Menschen sind ein sonderliches Geschlecht; was dem einen ein Greuel, ist dem andern ein Labsal, und kein Abgrund ist so tief und schauerlich, daß nicht jemand gefunden würde, an seinem schwindelnden Rande furchtlos Blumen pflückend, wie ein spielendes Kind.