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Die Begebenheit, die ich hier erzählen will, hat sich in Berlin wirklich zugetragen.
Eine kleine Gesellschaft von Künstlern und Architekten hatte, durch wechselnde Gespräche vielfach angeregt, weit über die Mitternachtsstunde hinaus in einem kleinen Weinhause beisammen gesessen. Der Angesehenste unter ihnen, ein Baumeister, den ich Hubert nennen will, ein Mann von Geist und Empfindung und auf vielerlei Gebieten zu Hause, gehörte zu jener immer seltener werdenden Klasse von Architekten, die mehr Künstler als Geschäftsleute sind. Die Gabe der Rede stand ihm in hohem Grade zu Gebote, und durch anregende Einfälle wußte er immer wieder das Gespräch zu beleben, so daß schließlich, als die Gesellschaft aufbrach, die Stunde nicht mehr spät, sondern früh zu nennen war. In die heitere und angeregte Stimmung, mit der die Freunde in die warme Mainacht hinaustraten, paßte sehr wenig der finstere Anblick eines Leichenwagens, der, von sechs schwarzgekleideten Trägern begleitet, langsam auf der menschenleeren Straße dahergerumpelt kam. Verwundert darüber, daß man zu so ungewöhnlicher Stunde jemanden zu Grabe bringe, und seltsam berührt durch den Gegensatz des eigenen schäumenden Lebens zu der finsteren Feierlichkeit des Todes, standen die jungen Männer eine Weile und ließen das düstere Gefährt herannahen. Hubert redete den einen der Träger an und erfuhr, daß man einen Selbstmörder in dieser stillen Stunde, um Aufsehen zu vermeiden, zu Grabe brächte. Wie so oft in seinem Leben, einem plötzlichen Antriebe auf der Stelle folgend, wandte sich Hubert leise, aber eindringlich fragend an seine Genossen: »Soll dieser Unglückliche seine letzte Fahrt ohne Geleit machen?« Und hingerissen von der Wirkung des Augenblicks, schlossen sich alle stillschweigend und paarweise dem einsamen Leichenwagen als Gefolge an. Die Träger sahen sich anfangs wohl bedenklich um; doch als sie die feierliche Stille und Gemessenheit dieses unerwarteten und seltsamen Trauergeleites bemerkten, ließen sie die jungen Männer gewähren.
Es war gerade jener kurze Zeitraum eingetreten, in dem selbst eine so große Stadt, wie Berlin, wirklich zu schlafen scheint und die wenigen Menschen auf den Straßen sich in letzte Nachtschwärmer und erste Frühaufsteher einteilen, wo nur zuweilen ein einsamer Schritt durch die Nacht hallt. Der kleine Zug ging langsam die Straßen entlang und bog dann zur Seite ab, wo die Bäume eines großen Parkes ihre düsteren Zweige über die Mauer streckten und sich finster abhoben von dem nächtlichem Himmel, den die leise anbrechende Dämmerung bereits heller färbte.
Endlich hielt der Wagen vor dem Kirchhofe; die Träger schroteten den Sarg herab, und während ein Totengräber mit der Laterne voranging, begab sich der kleine Zug in das finstere Schweigen der Gräber. Hier war es ganz still, und man hörte nur die taktmäßigen Schritte der Träger, das sanfte Klirren der Laterne und das leise Knirschen der Sarggriffe. Zuweilen fiel das Licht der Laterne auf ein helles Kreuz oder eine schimmernde Marmorfigur, die sogleich wieder in den schwarzen Schatten der Zypressen versank. Dann wendete der Zug sich zur Seite, bis an einer abgelegenen Stelle des Kirchhofes das harrende Grab erreicht war. Die Freunde nahmen schweigend um den Hügel der ausgeworfenen Erde ihren Stand, während der Sarg hinabgelassen ward, und schon ergriff der Totengräber den Spaten, um sein Werk zu beginnen, als er durch eine abwehrende Handbewegung Huberts unterbrochen ward und das blinkende Pflanzeisen des Todes wieder sinken ließ. Als der junge Baumeister seinen Hut abnahm, folgten die übrigen seinem Beispiele, und nun sprach er folgende Worte:
»Meine lieben Freunde und Genossen! Wir haben hier einem Manne das letzte Geleit gegeben, den wir nicht kennen, und den vielleicht keiner von uns in seinem Leben je gesehen hat. Wir waren nicht zu solchem Zwecke zusammengekommen, sondern hatten uns am gestrigen Abend vereinigt als froh ins Leben schauende Männer, um in heiterer Rede und Gegenrede fröhlicher Geselligkeit zu pflegen. Wir haben uns unterhalten von unsern geringen Thaten und von unsern hochfliegenden Plänen, von kleinen Erfolgen und großen Hoffnungen. Wir alle sind Männer, die nicht sehnend zurückblicken in den Mondscheindämmer der Vergangenheit, wo die selige Insel der Kindheit liegt, – nein, mit festem Fuße stehen wir im klaren Sonnenlichte der Gegenwart, und frohen Mutes denken wir, die Zukunft uns zu unterwerfen. Wir sind Männer voller Hoffnungen und voller Entwürfe, wir sind erfüllt von ihnen, wie die leuchtenden Obstbäume, die dieser milde Mai mit schimmernden Blüten überdeckt hat. In solcher Stimmung und also freudigen Mutes traten wir hinaus, als uns dieser stille Wanderer begegnete auf seiner letzten Fahrt, als eine Mahnung, die lautet: Was sind Hoffnungen, was sind Entwürfe? In tausend Blüten steht der Apfelbaum, aber wie wenige wird der Herbst als reife Früchte sehen!
Ueberfluß der jungen Kräfte
Bei des Lebens holdem Drang,
Vollgefühl gesunder Säfte
Schafft der Jugend Ueberschwang.
Wollt ihr danach schon bemessen,
Wie die Frucht gerät am Ziel.
Ach, so wollet nicht vergessen:
Wurm und Sturm vernichten viel!
Wir dürfen überzeugt sein, daß einst auch Hoffnungen und Entwürfe das Herz dieses stillen Mannes bewegten. Was sie aber zerstört hat, das wissen wir nicht, ob es ein Wurm war, der in seinem Innern nagte, ob der Sturm widriger äußerer Umstände sie hinweggerissen hat, – wir wissen nur, daß er den Sprung in den gewissen Tod vorgezogen hat einem zweifelhaften Leben voller Qual. Es steht uns nicht an, ihn zu verdammen, denn wir kennen nicht die Größe der Last, die ihn erdrückt hat; wir sind nicht berufen, ihn zu richten, denn nur Gott weiß die Stärke seiner Schuld, – aber wohl geziemt es uns, ihn zu bemitleiden, denn was er auch war, das eine ist sicher: er war ein Unglücklicher. Der Mann stand wohl einsam hier im Leben, denn weder ein Verwandter, noch ein Freund hat ihn auf seiner letzten Fahrt geleitet. Da wir nun, meine lieben Genossen, einem augenblicklichen Antriebe folgend, diese Pflicht übernommen haben, so fordere ich euch auf, diesem einsamen Toten die letzte Ehre zu erweisen, ihm eine Handvoll Erde nachzuwerfen in sein Grab und mit mir ihm den Wunsch nachzurufen: Schlafe in Frieden!«
Der Totengräber, der, zwischen Verwunderung über dieses ungewöhnliche Ereignis und zwischen Zweifeln über die Zulässigkeit dieser Handlung schwankend, erst beim Schlusse der kurzen Rede recht zur Besinnung kam, reichte unwillkürlich, dem Triebe der Gewohnheit seines Gewerbes folgend, den gefüllten Spaten dar, und alle warfen in feierlichem Schweigen drei Hände voll Erde auf den dumpf tönenden Sarg hinab. Dann, dem Beispiele ihres Anführers folgend, standen sie, den Hute vor dem Gesichte, eine Weile lautlos da.
Unterdessen war es heller geworden, eine sanfte graue Dämmerung war rings verbreitet, und ein Atemzug des Morgens rauschte durch das junge Frühlingsgrün. Ueber dem Häusermeere der unendlichen Stadt stand das Morgenrot und hatte in dem blassen Himmel einige goldene Wölkchen angezündet; fern vom Felde her klang das Tirelieren einer frühzeitigen Lerche, die aufgestiegen war, um die Sonne als die erste zu begrüßen.
Die Freunde bedeckten ihr Haupt, drückten im Vorübergehen Hubert schweigend die Hand und kehrten, ohne viel zu reden, in die Stadt zurück. Bald wurde das Häuflein immer kleiner, denn einer nach dem andern verlor sich mit stillem Gruße in eine Seitenstraße und wanderte nachdenklich der Gegend zu, wo er zu Hause war.