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Die Versetzung

Herr Oberlehrer Doktor Theophil Rungholt stand mit seiner langen Pfeife in einem ziemlichen »Hecht« an seinem Stehpult und stutzte das schandbare Latein seiner Quartaner zurecht, da ward ihm eine Dame gemeldet, die ihn zu sprechen wünsche.

»Gewiß wieder eine Mutter,« murmelte er, teils mit Ingrimm, teils mit Ergebung, schlachtete mit bluttriefender Feder noch schnell einige besonders fette Böcke und wandte sich dann mit einem Ausdruck strenger, erwartungsvoller Erhabenheit der Thür zu. Er glich in diesem Augenblick mit seinem lockig gesträubten Haare, den hochgezogenen Augenbrauen und dem etwas verwilderten Vollbarte ganz »dem Herrscher im Donnergewölk«, Zeus, und die lange Pfeife trug er in der Faust wie einen Blitz, der bereit war, jeden Augenblick auf das Haupt eines unglücklichen Widersachers niederzufahren.

Nun öffnete sich die Thür, und herein kam unter ziemlichem Schnaufen eine sehr wohlbeleibte Dame in mittleren Jahren, die, ohne eine Aufforderung abzuwarten, auf den nächsten Stuhl sank und sich mit dem Muff Kühlung zufächelte. Dabei stieß sie in kurzen Absätzen heraus: »Verzeihen Sie, Herr Doktor … mein Herz … mein Asthma … drei Treppen … wir wohnen parterre … und dann die Aufregung!«

»Womit kann ich dienen?« fragte der Oberlehrer sehr kühl, indem er in seiner abwehrenden Position verharrte.

»Ich bin eine Mutter!« sagte die Frau mit Nachdruck, »ich bin die unglückliche Mutter von dem Emil Schnäpel, der in Ihre Klasse geht. Ich habe gehört, er soll nicht versetzt werden. Das schneidet tief in mein Herz, noch dazu, wo sonst schon so viel Elend im Hause ist. Mein Mann ist Zahnarzt und hat zu thun, aber der Rheumatismus! Er verdient sein Brot mit Schmerzen. Und dann ich mit meinem Asthma, wo ich dann oft gar keine Luft kriegen kann …«

Herr Doktor Rungholt hatte die Empfindung, daß diese allerdings traurigen Umstände sehr wenig zur Sache gehörten, und da die Frau eine Pause machte, um nach Luft zu schnappen, fügte er ein: »Ja, das ist alles recht schön, aber –«

Die Frau fuhr zusammen, als würde sie von einem Dolchstich getroffen und rief: »Schön? Schön – sagen Sie, Herr Doktor? Schrecklich ist es! Wenn Sie es einmal mit anhören könnten, wie wir nachts auf unserm Schmerzenslager liegen und wimmern, mein Mann, weil er das Reißen hat, und ich, weil ich keine Luft kriegen kann, da würden Sie das nicht sagen. Denken Sie sich nur, die ganze Welt ist voll Luft, nur für mich ist keine da. Und dazu die Sorge um das Kind. O Herr Doktor, wie können Sie da ›schön‹ sagen!«

Der Oberlehrer wand sich ein wenig und sagte dann: »Geehrte Frau, ich wollte nur sagen: Das ist alles recht gut, aber –«

»Gut? Aber Herr Doktor, wie kann das gut sein? Das sind jammervolle Schicksale, das sind Leiden, die einen zur Verzweiflung bringen können. Wie kann das gut sein?«

Rungholt wurde ungeduldig. »Darf ich noch einmal fragen,« sagte er, »womit ich Ihnen dienen kann? Meine Zeit ist beschränkt.«

Die Frau aber fuhr unbeirrt fort: »Mein Mann ist ein energischer Mann, er ist ein talentvoller Mann. Wie oft habe ich schon zu ihm gesagt: ›Karl, ich muß dich bewundern! Wenn du auch das Reißen hast, du leistest doch mehr als andre.‹ Wenn Sie vielleicht mal 'n Gebiß brauchen oder Ihre Frau Gemahlin? Prima sage ich Ihnen. Und außerdem hat er ja das Zahnpulver erfunden, wo wir so gut mit verdienen. Und wie muß es nun kommen? Mein Mann ist doch Zahnarzt, und Herr Kuhlhase uns gegenüber bloß Zahnkünstler. Aber August Kuhlhase, der mit unserm Sohn in eine Klasse geht, der soll versetzt werden und unser Emil nicht. Wo bleibt da die Gerechtigkeit?«

Der Oberlehrer war nicht ohne Sinn für Humor, und allmählich kam ihm diese Sache doch ziemlich lustig vor. Er lächelte ein wenig und sagte dann: »Geehrte Frau, wenn Ihr Mann auch das Zahnpulver erfunden hat und in seinem Berufe Tüchtiges leistet, so muß man doch von Ihrem Sohne sagen, daß er ein sehr mäßiger Schüler ist, August Kuhlhase dagegen einer der besten in der Klasse. Ich glaube nicht, daß wir Ihren Sohn versetzen können. So viel ich weiß, leistet er nur im Turnen Besonderes.«

»Ja, Turnen,« sagte die Frau, und ein Freudenschimmer ging über ihr Gesicht, da sie doch ein Lob hörte, »das hat er von meinem Bruder. Sehn Sie, als der in dem Alter von meinem Emil war, da ging er mehr auf den Händen rum als auf den Füßen, und den großen Totensprung machte er, daß einem das Herz still stand und die Luft weg blieb. Er wollte ja damals auch so eine Spezialität werden, wie in den Reichshallen und im Wintergarten auftreten, aber da ist Gott sei Dank nichts von geworden. Jetzt hat er ja die schöne Destillation in der Neuen Grünstraße, wo er so gut mit verdient, und Hausbesitzer ist er ja auch schon. Und was mein Emil ist, da haben Sie noch vergessen: Geographie. In der Geographie weiß er Bescheid. Zum Beispiel von Afrika, wo ja nun unsre Kolonien sind, von Kamerun und Klein- … na, Sie wissen ja, was ich meine … Wie kann man bloß anständigen Ländern, und wenn da auch nur Schwarze wohnen, solche Namen geben.«

Rungholt lachte laut auf.

»Sie lachen, Herr Doktor? Das ist ein gutes Zeichen. Ich wußte es ja gleich, als ich Sie sah, Sie würden nicht so sein. Nicht wahr, Sie werden eine von Kummer und Elend geplagte Familie nicht noch tiefer niederdrücken. Sie werden meinen Emil versetzen. Denken Sie doch an Kuhlhases, die uns gerade gegenüber wohnen, und der Mann ist noch dazu Konkurrent. Ich könnte nie wieder aus dem Fenster gucken, wenn Emil sitzen bleibt.«

»Ich kann Ihnen wenig Hoffnung machen,« sagte Rungholt, »aber einen Rat kann ich Ihnen geben. Schicken Sie Ihren Sohn auf die Realschule, auf dem Gymnasium wird er schwerlich weiter kommen.«

Da schoß Frau Schnäpel auf von ihrem Stuhl und gab ihrer runden, kugeligen Gestalt alle Würde, die sie auftreiben konnte: »Herr Doktor,« rief sie, »das sagen Sie mir? Wo mein Mann doch Zahnarzt ist und studiert hat, und wir zu den gebildeten Ständen gehören. Herr Doktor, Sie mögen ein sehr gelehrter Mann sein, aber wenn Sie auch noch so viel Vokabeln wissen, und alle unregelmäßigen Verba, die meinem Emil so sauer werden, vor- und rückwärts können, und wenn Sie auch Lateinisch und Griechisch und Hebräisch und meinetwegen auch Chinesisch gelernt haben, eins fehlt Ihnen doch, Herr Doktor – ein Herz haben Sie nicht!«

Und damit rauschte sie plötzlich zur Thür hinaus.

Als die Zeit der Versetzung herangekommen war, geschah das Unerwartete, daß Emil Schnäpel als der Letzte gerade noch mit durchrutschte und zur unbeschreiblichen Freude seiner Mutter und zur nicht geringeren seines Vaters als ein wohlbestallter Tertianer nach Hause kam. Bei der sorgfältigen Abwägung seiner Fähigkeiten hatte sich das Zünglein um »ne lütte Idee von 'n Gedanken von 'ne Papierdickte«, wie die Maschinenbauer in Mecklenburg sagen, auf die gute Seite gestellt, was er aber weniger seinen wissenschaftlichen Verdiensten als dem Umstande zu verdanken hatte, daß er unter den vielen rauhen Schafen in seiner Klasse noch das glatteste gewesen war.

Am nächsten Tage schon ließ sich bei Herrn Oberlehrer Rungholt eine Dame melden, und herein trat zwar atemlos, aber strahlend, wie ein nach Westen gelegenes Fenster bei untergehender Sonne, Frau Schnäpel.

»O, Herr Doktor!« rief sie, »ich habe Sie verkannt. Ich nehme alles zurück. Sie sind ein guter Mann, Sie sind ein edler Mann.«

Rungholt wehrte alles ab und meinte, wenn es allein nach ihm gegangen wäre, so würde Emil Schnäpel gewiß heute noch ein Senior und Häuptling der Quarta sein.

»Das sagen Sie nur so in Ihrer edlen Bescheidenheit!« rief sie, und dabei machte sie mit einem kleinen Päckchen, das sie zwischen beiden Händen trug, einige vergebliche Vorstöße, die aber nicht gelangen, weil der Doktor seine beiden Hände krampfhaft auf dem Rücken gefaltet hielt. In diesem Augenblicke bemerkte sie durch die halb geöffnete Thür des Nebenzimmers die Frau des Doktors, die dort mit ihrem zweijährigen Kinde beschäftigt war. Diese sehen und zu ihr hineinstürzen, war das Werk eines Augenblicks, wie sich denn überhaupt Frau Schnäpel trotz ihrer rundlichen Fülle nicht allein eines lebhaften Gemütes, sondern auch einer merkwürdigen Beweglichkeit erfreute.

»O nun weiß ich,« rief sie, »wem ich all mein Glück zu verdanken habe. Diese schönen Augen, diese Züge voll Sanftmut und Güte sagen mir alles. Sie sind eine Mutter, Sie können einem Mutterherzen nachfühlen. O nehmen Sie dies hier als ein Zeichen meiner ewigen, unendlichen Dankbarkeit!«

Damit drückte sie der jungen Frau das Päckchen in die Hand und war verschwunden, ehe das überraschte Paar nur recht zur Besinnung gekommen war. Sie standen beide und sahen sich recht verblüfft an.

»Ich habe eine schreckliche Angst,« sagte die Frau Doktorin endlich, »daß Geld drin ist.«

»Das schicke ich natürlich sofort zurück!« rief der Doktor, »und schreibe einen furchtbar groben Brief dabei! – Hahnebüchen!« fügte er mit grimmigem Nachdruck hinzu.

Zaghaft und langsam wickelte die junge Frau das Paketchen aus. Als sie endlich den Inhalt in der Hand hielt, brachen beide Gatten zugleich in ein unauslöschliches Gelächter aus, denn was sich ihren Augen zeigte, war eine Schachtel von Karl Schnäpels weltberühmtem Zahnpulver.


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