Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die weißen Ratten

Eine wahre Geschichte aus dem Tiergarten

Der Berliner Tiergarten enthält und bietet viele Merkwürdigkeiten. Vor allem ist er selber eine, die man nicht allerorten findet. Denn einen Wald von dieser Größe, er ist etwa 210 Hektar oder 820 preußische Morgen groß, der vollständig innerhalb einer Stadt liegt, wird man kaum irgend wo anders entdecken. Ich betone das Wort Wald, denn der Tiergarten ist kein Park, wie z. B. die Londoner, sondern ein wirklicher Wald mit nur geringen parkartigen Teilen, und das ist gut, obwohl die Tante Voß es gern anders haben mochte. Darum druckte sie auch mit besonderem Behagen die Aeußerungen eines Indiers ab, der sich über die gräßlichen Dschungeln des Tiergartens baß entsetzt hatte. Auch auf einen andern Lieblingsplan kommt sie ständig zurück. Sie möchte nämlich für ihr Leben gern mitten in diesem Walde eine Restauration haben, wo sie mit ihrem Strickstrumpfe sitzen und Kaffee trinken kann, allein auch die Erfüllung dieses Wunsches scheint glücklicherweise noch in weiter Ferne zu liegen.

Eine weitere Merkwürdigkeit des Tiergartens besteht in einem Mangel, der ihn vorteilhaft vor andern öffentlichen Anlagen dieser Art in Deutschland auszeichnet. Man mag diesen Wald durchstreifen in jeder Richtung, niemals wird man eine Warnungstafel finden. Selbst das beliebte: »Diese Anlagen sind dem Schutze des Publikums empfohlen!« fehlt, und von drakonischen Strafandrohungen ist keine Rede, sowie ebenfalls nicht von Spekulationen auf die Habgier tückischer Angeber, wie jenes berühmte: »Die, die die, die die Anlagen beschädigen, zur Anzeige bringen, erhalten fünf Thaler Belohnung!« Und diesem Vertrauen entspricht der Berliner in vollem Maße, denn sein Tiergarten ist ihm heilig, und die gelangweilten Schutzleute, die dort so sparsam herumwandeln, daß man stundenlang gehen kann, ehe man einen zu sehen bekommt, führen ein beschauliches Dasein.

Das ist um so merkwürdiger, als der Tiergarten zuweilen, besonders um die Herbstzeit, von zahlreichen Indianerbanden durchstreift wird, die sich sämtlich auf dem Kriegspfade befinden und mit ihren Federkronen, Tomahawks, Lassos, Bogen und Lanzen, sowie durch greuliche Kriegsbemalung einen schreckhaften Anblick darbieten. Zumal nach jenem Sommer, als Carver mit seiner »Wild-West-Truppe« in der Nähe des Bahnhofs »Zoologischer Garten« seine Vorstellungen gegeben hatte, war zwischen allen anwohnenden Stämmen das Kriegsbeil ausgegraben worden, und in den einsameren Teilen des Waldes hallte überall Kriegsgeschrei. Die Lieblingswaffe war der Lasso, und welche Verwüstungen in dieser Zeit unter den mütterlichen Wäscheleinen angerichtet wurden, ist einfach unglaublich. Als ich damals einst in die Gegend des sogenannten »Charlottenburger Hippodroms« kam, sah ich über einen Busch hinweg über jenem freien Platze ein sonderbar schwirrendes Gewimmel in der Luft, das ich mir anfangs gar nicht zu erklären vermochte. Beim Nähertreten bemerkte ich, daß dies von Hunderten von Lassos herrührte, die von ebensovielen jugendlichen Cowboys und Indianern mit und ohne Kriegsbemalung geschwungen wurden. Solche fürchterliche Wirkung hatte »Wild-West« auf die Berlinische Jugend ausgeübt. Später sah ich auf einem der sandigen Reitwege in derselben Gegend ein andres Bild. Dort wurde der »Pferdedieb« aufgeführt. Zuerst ein heftiger Streit um die beliebte Titelrolle, aus der ein stämmiger kleiner Stöpsel als Sieger hervorging. Dieser markierte nun den Pferdediebstahl, wurde dann von den andern mit den geschwungenen Lassos verfolgt und nicht ohne Geschicklichkeit eingefangen. Nach dem Beispiel der Cowboys in »Wild-West« warfen sie ihn auf den Rücken und schleiften ihn dann im Galopp an den Lassos durch den Sand, während die andern nebenhersprengten und mit eingebildeten Revolvern auf ihn schossen, wozu sie kräftig »Puh!« machten. Und das bedauernswerte Opfer dieser Lynchjustiz pflügte durch den Sand, daß ihm der feine graue Staub in den Halskragen hinein und bei den Hosenbeinen wieder hinauslief, und war glücklich. Ein wohlwollender Spaziergänger, der ebenfalls dieser Scene voll Teilnahme zuschaute, sagte zu mir mit behaglichem Schmunzeln und wahrscheinlich in liebevoller Erinnerung an die eigene glückliche Jugendzeit: »Na, die Senge, wenn der heute abend nach Hause kommt.«

Doch eigentlich bin ich auf die Tiere aus, die dieser Wald beherbergt, denn auch davon läßt sich merkwürdiges mitteilen. Vor allem sind da die wilden Enten, die sich dort vor Jahren ansiedelten und nun alle Gewässer in Scharen bedecken und sich so zutraulich benehmen, daß sie zum Teil aus der Hand fressen. Es ist in neuerer Zeit ein merkwürdiger Zug in der Vogelwelt zum Vorschein gekommen, der die scheusten Wald- und Wasserbewohner, wie z. B. die Amsel, die Ringeltaube und die Stockente, antreibt, sich geradezu in den Schutz des Menschen zu stellen und sich sozusagen vor seiner Nase anzusiedeln. Das älteste und allgemein bekannte Beispiel dieses Verfahrens bietet der Storch. Sein nächster Verwandter, der schwarze Storch, ist dagegen ein einsamer und scheuer Waldvogel geblieben.

Die oben genannten Vögel haben dies schlaue Verfahren erst in diesem Jahrhundert eingeschlagen und stehen sich gut dabei, insonderheit die Enten im Tiergarten, die von allen Menschen gefüttert werden und die der Berliner mit Stolz jedem Fremden zeigt, als ein neues Beispiel, wie gut es innerhalb seiner Stadt zu wohnen ist.

Mitunter kommen im Tiergarten aber auch höchst merkwürdige Geschöpfe vor, die man dort zu suchen gar keine Berechtigung hat, und solches Beispiel habe ich einmal erlebt, als ich an einem schönen Frühlingstage mit zwei von meinen Knaben spazieren ging An einem schmalen Wege, der von der Berlin-Charlottenburger Chaussee nach dem Bellevuepark führt, sah ich plötzlich an einem Baumstamm zwei schneeweiße Ratten sitzen, die offenbar durchaus nicht wußten, was sie mit sich anfangen sollten. Wir traten ganz nahe hinzu, doch das beängstigte sie nicht im geringsten, sondern sie schnüffelten mit den rosigen Schnäuzchen wie suchend umher, richteten sich zuweilen mit den Pfötchen an dem Baumstamme auf und benahmen sich wie zwei ausgesetzte Königskinder, die nicht wissen, was sie in der weiten, unbekannten Welt beginnen sollen. Ja, ausgesetzt waren sie unbedingt, denn rings um sie war eine Menge Brot gestreut, doch als ich mich unwillkürlich umsah, ob nicht in der Ferne jemand laure, der sich von dem Schicksal der Verlassenen zu überzeugen strebe, sah ich niemand; es war ganz einsam und menschenleer in der Gegend. Es stand fest, daß wir die Tierchen nicht ihrem Schicksal überlassen durften, denn es war nicht unwahrscheinlich, daß dieses dann furchtbar oder grausam sein würde. Es konnten sich herzlose Barbaren ihrer bemächtigen und sie in den benachbarten Kanal werfen, sie konnten Tierquälern oder einem Vivisektor in die Hände fallen, es konnte ein Mann kommen mit einem Rattenbeißer, welcher Köter sie im Umsehen in die Ewigkeit befördert haben würde, es konnten mit einem Wort haarsträubende Dinge mit ihnen geschehen. Die harmlosen und ganz zahmen Tiere hatten etwas Rührendes in ihrer unbeholfenen Verlassenheit, und wir beschlossen, uns ihrer anzunehmen. Ich ergriff sie, die sich nicht im geringsten sträubten, steckte sie in die Tasche meines Sommerüberziehers und ging mit meinen Knaben, die natürlich eine unbändige Freude an diesem Abenteuer hatten, weiter. Wer weiß wie oft hieß es nun auf dem Nachhausewege: »Ach, Vater, laß uns noch mal die Ratten sehen!« Ich schlug dann die Klappe zurück und hielt die Tasche ein wenig geöffnet. Die beiden Knaben standen gebückt und sahen mit großer Teilnahme zu, wie die Tiere, auf den Hinterbeinen stehend, mit den Pfoten an den Wänden der Tasche fingerten und die rosigen Schnäuzchen schnüffelnd hervorstreckten. Wir setzten sie, zu Hause angelangt, in ein Vogelbauer mit Heu, sie tranken mit Behagen Milch, aßen dazu Weißbrot, das sie zierlich zwischen den Pfoten drehten, und waren überaus zahm, wie es solche Tiere werden, wenn sie in der Gefangenschaft aufwachsen und niemals den Gebrauch der Freiheit kennen gelernt haben. An Flucht dachten sie nie – »sie ahnten keine Möglichkeit, kein Wort von so verwegnen Dingen«.

In den nächsten Tagen schon stiegen mir gewichtige Bedenken auf. Ihr zärtliches Benehmen gegeneinander ließ mich schließen, daß wir in Eduard und Kunigunde – so waren sie getauft worden – ein Paar vor uns hatten. Ich schlug im Brehm nach, und durch eine leicht auszuführende Rechnung eröffnete sich mir die fürchterliche Perspektive, daß wir, wenn alles gut ging, bereits im Laufe eines halben Jahres im Besitz von über hundert Nachkömmlingen, Kindern und Enkeln dieses holden Paares sein konnten. Mich schauderte. Wo sollten wir mit all den Ratten hin? Ich konnte Eduard und Kunigunde von nun ab nur noch mit finsterem Nachdenken betrachten und sah trübe in die Zukunft. Mir ward klar, daß hier rechtzeitig etwas zu geschehen habe. Die Tiere mußten wieder aus dem Hause, ehe es zu spät war, und da ergab sich nach weislicher Ueberlegung kein besseres Mittel, als sie wiederum auszusetzen. Es erschien uns zwar ein wenig grausam, aber die Pflicht der Selbsterhaltung zwang uns dazu, denn was sollten wir wohl mit über hundert Ratten anfangen? Die hätten uns ja die Haare vom Kopfe gefressen. Und nun gar nach einem Jahre, da würden es viele Tausende geworden sein. Hier galt es, schnell zu handeln.

Wir wollten aber, den Geboten der Menschlichkeit folgend, die guten Tiere der ungewohnten Freiheit unter günstigeren Bedingungen aussetzen, als unser unbekannter Vorgänger. Wir wollten ihnen die Möglichkeit gewähren, sich in sicherem Schutze aus zahmen Stubentieren in wilde, freie Ratten umzuwandeln, die dem Kampfe ums Dasein gewachsen sind. Zu diesem Zwecke barg ich sie eines Tages wieder in meiner Tasche und trug sie in Begleitung meiner beiden Knaben hinaus zum Tiergarten. Dort hatte ich mir bereits vorher einen jener großen Reisighaufen ausersehen, die sich überall in abgelegenen Gegenden finden und dazu bestimmt sind, die Abfälle des Waldes aufzunehmen. An einer Stelle hatte sich durch übereinander geworfenes dürres Ast- und Buschwerk eine Art Höhle gebildet, die sich, allmählich verlaufend, in den Haufen hineinzog und einen natürlichen Eingang in dieses Zweiglabyrinth bildete. Dort, dachte ich, seien sie gut aufgehoben, dort fanden sie Schutz und Wohnungsgelegenheit die Menge und konnten sich allmählich in die ungewohnte Freiheit einleben. Nachdem wir genügenden Proviant in das Innere der Höhle geworfen hatten, setzten wir die Ratten hinein und sahen, daß die schneeweißen Tiere, einer angeborenen Neigung, sich in Löcher und Winkel zu verkriechen, folgend, lustig zwischen dem verwirrten Gezweige umherkletterten und binnen kurzem unsern Blicken entschwanden. Mit den herzlichsten Wünschen für ihr ferneres Wohlergehen verabschiedeten wir uns und setzten den begonnenen Spaziergang fort.

Nichts war natürlicher, als daß wir uns gegen Abend des nächsten Tages wieder zu dem Reisighaufen begaben, um uns nach den Ausgesetzten umzusehen. Schon von ferne bemerkten wir dort einen weißen Schimmer, und als wir leise näher schlichen, sahen wir, daß das Pärchen in seiner Höhle behaglich vor der Hausthür saß und sich des schönen Frühlingsabends erfreute. Es war ein niedliches Bild, wie sich die schneeweißen Tiere von dem dunklen Hintergrunde abhoben. Eines aber mißfiel mir sehr, nämlich, daß wir ganz nahe hinzutreten konnten, ohne daß sich die Ratten viel um uns kümmerten. Im eigenen Interesse der Tiere mußte dies schöne Vertrauen in die Menschheit beseitigt werden, und eine grausame Pflicht gebot mir, mit rauher Hand dies liebliche Idyll zu stören. Ich sprang schnell vor, schlug mit dem Stock heftig auf die Büsche und hatte die Freude, daß die Ratten mit ziemlicher Geschwindigkeit im Innern des Reisighaufens verschwanden. Indem ich dies Verfahren einige Abende wiederholte, hatte ich sie bald so weit, daß sie zuletzt bei dem geringsten Geräusch wie der Blitz davonhuschten.

Der Grund, weshalb die Ratten von uns so regelmäßig an ein und derselben Stelle vorgefunden wurden, war der, daß wir Futter dort ausstreuten, jedoch nach einigen Tagen fiel es uns auf, daß wir immer nur eine dort bemerkten. Ich stellte die Vermutung auf, daß dies Eduard sei, und Kunigunde wahrscheinlich durch häusliche, oder sagen wir es gerade heraus, mütterliche Pflichten im Innern der großen Wohnung zurückgehalten werde. Welche Aussichten thaten sich uns auf. Sollten durch uns die Merkwürdigkeiten des Tiergartens um eine weitere vermehrt werden, so daß im Laufe der Jahre alle Reisighaufen von weißen Ratten bewohnt waren?

Eins hatte ich leider bei der Auswahl dieser Wohnung außer acht gelassen, und das fiel mir schwer auf die Seele, als heiße, trockene Tage eintraten – es war nämlich kein Wasser in der Nähe. Wir warfen den Ratten zwar Aepfel hin, die sie auch verzehrten, allein konnte dies auf die Dauer genügen? Ich erinnere mich, daß ich einst nach einem sehr heißen Tage in der Nacht aufwachte und hörte, wie der Regen in den Blättern der Gartenbäume rauschte und auf dem Fensterbleche trommelte. »Wie gut,« dachte ich, »nun haben sie was zu trinken,« und schlief sehr befriedigt wieder ein.

Jedoch, wie das so zu gehen pflegt, im Laufe der Zeit kamen wir immer seltener dazu, die Ratten aufzusuchen, und schließlich vergingen Monate darüber, ohne daß wir uns dort hatten sehen lassen. Ich wußte ja auch, daß sie nun so weit waren, sich allein durchbringen zu können, und daß eine richtige Ratte wie Unkraut nicht so leicht zu Grunde geht.

An einem schönen, sonnigen Tage im Herbst aber erinnerten wir uns zufällig wieder unsrer früheren Schützlinge und beschlossen, unsern Spaziergang dorthin zu lenken, um uns nach ihnen umzusehen, obwohl ich eigentlich nicht die Hoffnung hegte, sie dort noch Vorzufinden. Unterwegs begegneten wir einigen Weibern, die dort die Steige fegten. Sie schwatzten miteinander, und ich fing ein Bruchstück ihres Gespräches auf, das mir nachher wieder einfiel, als ich mir den Zusammenhang erklären konnte. »Jräßlich sah et aus,« sagte die eine, »det janze Jesicht voll Blut.« Als wir dann in die Nähe des großen Reisighaufens kamen, bemerkten wir eine Anzahl von Leuten, die sich auf dem Wege angesammelt hatten, dort hinüberstarrten und ihre Unterhaltung mit gedämpften Stimmen führten. In demselben Augenblick sah ich, daß dort, gerade an der Stelle, wo wir die Ratten ausgesetzt hatten, steif aufgerichtet zwei Schutzleute standen, die etwas zu bewachen schienen. Zu ihren Füßen lag gerade quer vor dem Eingang der uns so wohl bekannten Höhle eine längliche, dunkle Masse ausgestreckt. Ein Selbstmörder war es, den man vor kurzem dort erschossen gefunden hatte, nachdem der Knall des Schusses einige Spaziergänger aufmerksam gemacht hatte.

Seitdem haben wir uns nie wieder nach den weißen Ratten umgesehen, und was aus ihnen geworden ist, kann ich nicht sagen.


 << zurück weiter >>