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Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Kurze Zeit nach der für Reuben Butler so großen Ueberraschung durch Jeanies Reichtum sollte die launische Göttin Fortuna sich auch gegen Jeanie selbst hold erweisen. Reuben hatte in der Voraussicht, daß sich seine Geldgeschäfte nicht so schnell erledigen würden, daß er bis Ende Mai wieder zurück sein könnte, schon zu Ende Februar Knocktarlitie verlassen. Als Jeanie nun ein paar Tage darauf im Oberstock ihres Hauses nach dem Rechten sah, hörte sie unten zwischen den Kindern Streit, der bald so laut wurde, daß sie sich hinunter begab, ihn zu schlichten. Femie, die nun bald zehn Jahre alt war, klagte die beiden Brüderchen an, daß sie ihr ein Buch hätten fortnehmen wollen, wogegen David der ältere geltend machte, das Buch passe sich für Femie noch nicht, und Reuben der jüngere altklug beifügte: »es stünde was darin von einem bösen Weibe.«

»Und wo hast Du das Buch her, Femie?« fragte die Mutter; »an Vaters Büchern darfst Du Dich doch nicht vergreifen, wenn er nicht da ist?« Aber Femie ihrerseits beteuerte, einen Bogen Papier in den Händen zerknüllend, es sei ja gar keins von Vaters Büchern, sondern nur Papier, das May Hettly von dem großen Käse abgenommen habe, der von Inveravy herübergeschickt worden; zwischen Jungfer Dolly Dutton, die inzwischen zu einer Frau Mac Corkindale aufgerückt war, und ihrer einstigen Reisegefährtin Jeanie hatte sich nämlich ein freundschaftliches Verkehrs-Verhältnis herausgebildet, das durch Austausch kleiner Aufmerksamkeiten warm gehalten wurde. Jeanie nahm ihrem Töchterchen den zerknüllten Bogen aus der Hand, um sich über seinen Inhalt zu vergewissern, schreckte aber förmlich zusammen, als sie beim ersten Blicke las: »Die merkwürdige Beichte der Margarethe Max Craw oder Murdockson, die sie am Tage ihrer Hinrichtung Anno 1737 auf dem Harabeeberge bei Carlisle vor allem Volke hielt.« Es war eines von den Zeitungsblättern, die Archibald, wie seinerzeit erwähnt, bei einem Krämer aufgekauft, und die Dolly Dutton aus Sparsamkeit zur Ausfütterung ihres Reisekoffers verwendet, jetzt aber zufälligerweise zum Einpacken des Käselaibes benutzt hatte. Schon dieser Titel reichte hin, Jeanies Aufmerksamkeit zu fesseln; der Inhalt selbst aber erschien ihr so wichtig, daß sie die Kinder sich selbst überließ und die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer eilte, um dort ohne Störung lesen zu können. In der Druckschrift stand, Margarethe Murdockson sei wegen Raubes und Mordes vor zwei Jahren, begangen in Gemeinschaft mit dem berüchtigten Frank Levit und Thomas Tuck, gewöhnlich Tyburn Thoms genannt, zum Tode durch den Strang verurteilt und hingerichtet worden. Dann folgte eine kurze Beschreibung ihres sündigen Lebenslaufes, auf Grund der von ihr vor Gericht gemachten Aussagen, aus welchen Jeanie vor allem interessierte, daß sie ein Jahr vor ihrem Tode in der Vorstadt von Edinburg gewohnt habe, daß ihr dort ein Mädchen zur Pflege übergeben worden sei, das einem Kinde männlichen Geschlechts das Leben gegeben habe. Dieses Kind sei von ihrer Tochter, die seit dem Verlust ihres eigenen Kindes nicht mehr recht bei Verstande gewesen, gleich nach der Geburt fortgetragen worden, in dem Wahne, es sei ihr Kind, dessen frühen Tod sie sich nie habe einreden lassen wollend Eine Zeitlang habe sie nun geglaubt, ihre Tochter habe das fremde Kind in einer Anwandlung von Wahnsinn umgebracht; sie, habe diese Vermutung auch dem Vater des Knaben gegenüber geäußert. Später aber habe sie in Erfahrung gebracht, daß eine Zigeunerin ihrer Tochter das Kind abgenommen habe.

Endlich also hielt Jeanie den unbestreitbaren Beweis für ihrer Schwester Unschuld an dem Morde ihres Kindes in der Hand! Hatten auch weder sie noch ihr Mann und ihr Vater Effie solcher Grausamkeit jemals für fähig gehalten, so hatte doch ein dunkler Schleier über dem Falle gelegen; und wer konnte wissen, ob nicht doch in einem Augenblick von geistiger Umnachtung das Schreckliche geschehen sei? Es bedünkte sie nach einiger Ueberlegung für das richtigste, die Beichte dieses Weibes auf der Stelle ihrer Schwester zuzustellen, damit sich diese mit ihrem Manne über die Schritte, die hiernach zu unternehmen seien, beriete. Ungeduldig sah sie nun einer Antwort auf diese Benachrichtigung entgegen. Es verging aber längere Zeit, ohne daß eine solche eintraf, und sie begann schon zu befürchten, daß dies wichtige Zeugnis für Effies Unschuld in unrechte Hände gefallen sei. Da sah sie sich, als sie sich schon mit dem Gedanken trug, ihrem Manne über den Fall nach Edinburg zu schreiben, durch einen neuen Vorfall hiervon zurückgehalten.

Sie ging am Morgen mit den Kindern am Ufer des Meerbusens spazieren, als der kleine David des Hauptmanns »Kutsche mit Sechsen« in der Ferne erspähte, die, wie er sagte, gerade auf sie zukäme, mit Frauen darin. Bald erkannte auch sie zwei weibliche Gestalten neben dem am Steuer befindlichen Hauptmanne. Um der Höflichkeit zu genügen, begab sie sich nach dem Landungsplatze, wo der Hauptmann inzwischen schon angelegt hatte und sich eben anschickte, den beiden fremden Damen beim Aussteigen zu helfen, von denen sich die größere, ältere auf die Schulter der andern lehnte, die augenscheinlich ihre Kammerfrau war. »Frau Butler,« begann der Hauptmann wichtigtuerisch, »ich habe die Ehre, Ihnen hier Lady Lady ei, ich hab' Ihrer Gnaden Namen vergessen.«

»Es hat nichts auf sich,« sagte die fremde Dame, »Frau Butler wird wohl nicht in Ungewißheit sein? Sie haben Ihr doch den Brief Seiner Herrlichkeit gestern abend übergeben, Herr?« fragte sie, nicht frei von Verdruß, als sie Jeanies Verlegenheit bemerkte. »Nein, Euer Gnaden, ich bitte um Entschuldigung; aber es war gerade kein Boot zur Hand, und so dachte ich, es würde Zeit haben bis heute, weil ja Frau Butler immer zu Hause ist. Hier ist der Brief von Seiner Herrlichkeit.«

»Geben Sie ihn her,« sagte die fremde Dame, »da Sie es gestern nicht für notwendig hielten, ihn zu besorgen, will ich es selbst tun.«

Aufmerksam und mit ganz eigenartigen Gesinnungen betrachtete Jeanie diese Dame, die so streng und stolz mit einem Manne wie Knockdunder sprach, der dieser sonst so störrische, ja grobe Vertreter herzoglicher Jurisdiktion jetzt förmlich demütig den Brief überreichte.

Sie war von etwas über Mittelgröße, neigte ein wenig zur Fülle, wies aber trotzdem ein schönes Ebenmaß auf; ihr Wesen war frei und vornehm und schien auf edle Abkunft und ständigen Umgang mit den besten Kreisen der Gesellschaft zu deuten. Sie trug ein Reisekleid, einen Biberhut und einen Schleier von Brüsseler Spitzen. Zwei Lakaien in reicher Livree stiegen mit ihr aus der Barke, blieben aber in einigem Abstande hinter ihr, Reisekoffer und Mantelsack in den Händen haltend.

»Da Sie den Brief nicht erhalten haben, der mir als Einführung bei Ihnen dienen sollte, Frau Pfarrerin Sie sind doch Frau Butler, nicht wahr? so will ich ihn nun erst abgeben, nachdem ich gesehen, daß Sie mir auch ohne ihn den Willkomm nicht versagen.« »Ihnen den Willkomm zu verweigern, wird sich Frau Butler, gnädigste Frau, wohl nicht einfallen lassen,« sagte Hauptmann Knockdunder; »Frau Butler,« setzte er hinzu, »dies ist Lady ... Lady diese vermaledeiten südlichen Namen wollen mir nicht in den Kopf; aber die gnädige Frau ist eine geborene Schottin, ich glaube aus dem Hause.«

»Der Herzog von Argyle ist mit meiner Familie gut bekannt, Herr,« fiel ihm die Dame, mit einem Tone, der ihm Schweigen gebot, ins Wort.

Jeanie kam sich vor, als durchlebte sie einen jener seltsamen Träume, die uns durch ihre täuschende Aehnlichkeit mit der Wirklichkeit schlimme Qual bereiten. Im Ton und im Wesen der fremden Dame lag etwas, das sie an ihre Schwester Effie erinnerte; und als dieselbe jetzt den Schleier lüftete, kamen Züge zum Vorschein, an die sich unsägliche Erinnerungen knüpften. Die Dame war wenigstens dreißig Jahre alt, konnte aber in der vornehmen Toilette gut und gern für einundzwanzig gehalten werden. Ihr Auftreten aber war so sicher und fest, und sie hielt sich so voll in der Gewalt, daß Jeanie, so oft sie eine neue Aehnlichkeit mit ihrer unglücklichen Schwester herausfühlte, eben so oft an ihren Mutmaßungen irre wurde. In maßloser Verwirrung, und ohne ein Wort zu sprechen, geleitete sie die Dame zum Pfarrhause, die der schönen Gegend, wie jemand, der mit Natur und Kunst gleich vertraut ist, volle Bewunderung schenkte. Endlich lenkten die Kinder ihre Aufmerksamkeit ab.

»Zwei hübsche Knaben, wohl die Ihrigen, Frau Pfarrerin?« sagte sie. Jeanie bejahte. Die Fremde seufzte, und seufzte wieder, als ihr die Namen der Knaben genannt wurden. »Komm doch her, Femie,« sagte Jeanie, jetzt auch die Tochter vorstellend. »Wie heißt sie eigentlich, Frau Pfarrerin?« »Euphemia, gnädige Frau.« »Ich dachte, die gewöhnliche Abkürzung sei Effie?« sagte die Dame in einem Tone, der Jeanie das Herz zerriß; denn in diesem einzigen Worte lag mehr von ihrer Schwester, mehr von alten, längstvergangenen Zeiten als in allen Erinnerungen, die Wesen und Züge der Dame bereits in ihr geweckt hatten.

Im Pfarrhause angekommen, drückte die Dame ihr den Brief in die Hand und bat um etwas Milch. Frau Butler hieß die alte May Milch besorgen und eilte mit dem Briefe auf ihr Zimmer. Es waren zwei Schreiben in dem Umschlage. Das eine war vom Herzog von Argyle, der Frau Butler ersuchte, einer Freundin seines verstorbenen Bruders, Lady Staunton von Willingham, die eine Zeitlang in Roseneath zur Molkenkur verweilen wolle, während ihr Gemahl eine kleine Geschäftsreise in Schottland mache, freundliche Aufnahme zu gewähren. Das andere war von Lady Staunton selbst, die der Schwester schrieb, ihr Mann habe sich infolge ihrer Mitteilung vorgenommen, selbst nach Carlisle zu gehen und dort weitere Erkundigungen über die Murduckson einzuziehen. Seine Bemühungen seien nicht ganz erfolglos gewesen, sie habe ihn aber erst durch viele Bitten und das Gelöbnis strenger Verschwiegenheit zu der Erlaubnis, ein paar Wochen bei ihrer Schwester zuzubringen, bestimmen können. Jeanie eilte, als sie den Brief gelesen, die Treppe hinunter, halb von Furcht befangen, sich zu verraten, halb von dem heißen Verlangen erfüllt, der Schwester um den Hals zu fallen. Effie stand auf, als Jeanie eintrat, und sah sie liebevoll und doch warnend an nahm auch, um aller Gefahr vorzubeugen, gleich das Wort, auf den Hauptmann zeigend, der sich inzwischen eingefunden hatte. »Liebe Frau Butler, ich habe dem Herrn Hauptmann Knockdunder eben gesagt, daß ich lieber hier bleiben möchte als in Roseneath; da, wo die Ziegen weiden, sollen ja die Molken am kräftigsten wirken.« »Ich habe der gnädigen Frau aber gesagt,« bemerkte Duncan, »daß sie drüben besser wohnen werde, und daß die Tiere herübergeholt werden könnten; es sei doch schicklicher, die Ziegen warten der gnädigen Frau auf, als umgekehrt.« »Meinetwegen bemühen Sie die Ziegen nicht,« sagte Lady Staunton; »zumal ich überzeugt bin, hier bessere Milch zu bekommen.« Sie ersuchte ihn kurz und bündig, ihr Gepäck von Roseneath herüberschaffen zu lassen, und das mußte ihm, wenn es auch ihm nicht zu gefallen schien, daß er wie ein Lakai behandelt wurde, als Zeichen gelten, daß man seine Entfernung wünsche. Ein paar Worte über englische Arroganz brummend und mit dem Bescheide an die Pfarrersfrau, daß er ihr das Wildbret mitschicken werde, das er selbst für die hohen Gäste geschossen habe, empfahl er sich. Die Schwestern überließen sich nun ganz der Wonne des Wiedersehens; jede bekundete ihre Freude auf die ihrem Wesen eigentümliche Weise: Jeanie, von Erstaunen und Verwunderung überwältigt, still und in sich gekehrt; Effie bald weinend, bald lachend, bald schluchzend, bald schreiend, bald in die Hände schlagend, der ihr angeborenen Munterkeit, die sie sonst in zeremoniellen Schranken halten mußte, freien Lauf lassend. Jeanie konnte, je länger sie die Schwester betrachtete, desto weniger ihrer Verwunderung Herrin werden über den Unterschied zwischen jenem hilflosen, in Not und Verzweiflung versunkenen Mädchen, das auf dem Strohlager im Kerker einem schimpflichen Tode entgegensah, und dieser schönen vornehmen Dame, die alle gesellschaftlichen Formen beherrschte und über eine so hohe Bildung verfügte. Als sie den Schleier abgelegt hatte, kamen Jeanie die Züge ihres Gesichtes viel vertrauter vor als ihr Wesen, Blick und Benehmen. Sie gab ihrem Staunen darüber, daß Effie als Lady Staunton sich so zu beherrschen, daß sie in allen Situationen ihre Rolle zu behaupten wisse, unverhohlenen Ausdruck.

»Ich begreife, daß Du Dich darüber wunderst, liebe Jeanie,« sagte sie; »bist Du doch, von der Wiege an, die Wahrheit selbst gewesen! Mir gegenüber darfst Du jedoch nicht vergessen, daß ich schon fünfzehn Jahre lang Verstellung und Lüge kultivieren, in meiner Rolle also nachgerade zu Hause sein muß.«

Jeanie wurde, als sich der erste Tumult ihrer Empfindungen einigermaßen gelegt hatte, bald inne, daß das Verhalten ihrer Schwester im vollen Widerspruch zu der Niedergeschlagenheit stand, die aus ihren Briefen sprach. Der Anblick von ihres Vaters Grabe, der schlichte Grabstein, der von seiner Gottesfurcht und Rechtschaffenheit sprach, ergriff sie freilich tief und drängte ihr Tränen in die Augen; aber anderen Eindrücken gab sie sich eben so leicht hin, amüsierte sich köstlich in der Milcherei, die in früherer Zeit so lange ihr Bereich gewesen, und hätte sich um Haaresbreite der alten May gegenüber verraten als sie sich hinreißen ließ, über das wichtige Geheimnis der Bereitung von Dunlop-Käse in ausführlicher Weise zu sprechen. Alles dies gewann ihr aber nur solange Interesse ab, als es neu war, und nur zu bald merkte Jeanie, daß die glänzende Außenseite, hinter der sie ihr Herzeleid verbarg, ihr so wenig wahren Trost gewährte, wie dem Krieger die bunte Uniform, die seine Todeswunde verdeckt. Nur aus einer Quelle schöpfte Lady Staunton wahre Freude: aus der herrlichen Gottesnatur; wenn sie den Fuß ins Freie setzte, hörte sie auf, die Rolle der feinen Dame zu spielen; und mit ihren beiden Neffen als Führern unternahm sie lange, ermüdende Wanderungen durch das nahe Gebirge, zu den Seen und Wasserfällen, durch Täler und Schluchten, so daß es bald keinen irgend wie hervorragenden Punkt mehr gab, den sie nicht in Augenschein genommen hätte. Auf einer dieser Wanderungen führte David Butler sie zu einem Wasserfalle, höher und gewaltiger als alle, die sie bis jetzt gesehen. Ein beschwerlicher Weg von etwa dreiviertel Stunden Länge, auf dem sich die herrlichsten Durchblicke boten, bald auf den Meerbusen und seine Eilande, bald auf ferne Seen oder drohende Felsen und Abgründe, führte dorthin. In einem einzigen Strahle von mächtiger Höhe an einem schwarzen Bergrücken hernieder, dessen dunkle Farbe wunderbar gegen den weißen Schaum des Gischtes abstach, schoß die Wasserflut; in zwanzig Fuß Tiefe sprang ein zweiter Felsen vor, den Blick des Beschauers hindernd, bis zum Boden des Falles zu dringen; rund um den Vorsprung herum wälzte sich und goß sich das Wasser in weißem Gischt die Kluft hinunter.

Lady Staunton fragte den kleinen David, ob man nicht den Abgrund sehen könnte, in den sich das Wasser ergösse. David sagte, es gäbe wohl einen Fleck, einen Vorsprung am äußersten Ende des unteren Felsens, wo der ganze Wassersturz sichtbar sei, aber der Weg dahin sei steil und gefährlich und man könne leicht ausgleiten. Lady Staunton wollte aber ihre Neugierde durchaus befriedigen, und so führte sie der Knabe über Stock und Stein; bald mußten sie mehr klettern als gehen, und endlich gelangten sie, wie Seevögel sich an die Felsen klammernd, zur anderen Seite hinüber, von wo sie den vollen Anblick des grandiosen Falles hatten, der heulend und donnernd aus einer Hohe von annähernd hundert Fuß in einen schwarzen, dem Schlund eines Vulkans ähnlichen Kessel stürzte. Das Getöse, das Sprühen des Gischtes, das allen Gegenständen rings ein schwankes Ansehen gab, so daß der mächtige Fels, auf dessen Kuppe sie standen, gleichsam zu zittern schien, alles dies zusammengenommen übte auf Lady Stauntons Phantasie eine so gewaltige Wirkung, daß es ihr war, als müsse sie fallen; und hätte David sie nicht gehalten, so wäre sie tatsächlich in die Tiefe gestürzt. David besaß zwar Kraft und Mut, war aber doch erst ein Junge von vierzehn Jahren, dessen Hilfe ihr wenig Vertrauen einflößte, und in richtiger Erkenntnis der großen Gefahr ihrer Lage schrie sie laut auf vor Angst, wenn sie auch kaum Hoffnung hatte, Hilfe dadurch zu gewinnen. Zu ihrem Erstaunen antwortete aber ein scharfer, heller Pfiff aus der Höhe, und aus einer Felsenkluft über ihnen blickte ein dunkles Menschengesicht, mit schwärzlich-grauem struppigen Haar, das über Stirn und Wange hing und sich mit Kinn- und Backenbart von gleicher Farbe mischte, auf sie herab.

»Der Teufel ist's!« rief David, kaum noch im stände, die Dame zu stützen.

»Nein, nein,« sagte sie, vor übernatürlichen Dingen weniger in Furcht als vor natürlichen, »es ist ein Mensch wie wir. Um Gottes willen, Freund, steht, uns bei!«

Das Gesicht starrte sie an, der Mund gab aber keine Antwort. Im andern Augenblick erschien ein anderes Gesicht daneben: das eines jungen Burschen, ebenfalls schwarzbraun und rußig, mit schwarzem, borstigen Haar, das in dichten, wirren Locken um den Kopf wallte, ihm ein wildes, grimmiges Ansehen gebend. Lady Staunton, sich fester an den Felsen klammernd, wiederholte ihre Bitten, die aber von der brausenden Wasserflut dem Anschein nach verschlungen wurden, denn auch sie sah wohl, daß die Lippen des Jünglings sich bewegten, aber kein Laut gelangte bis an ihr Ohr; ihre Gebärden hatten jedoch den Sinn ihrer Worte verdolmetscht; der Bursche verschwand, ließ aber gleich darauf eine Leiter aus Weidengeflecht zu ihnen hinunter, dem Knaben winkend, sie festzuhalten. Verzweiflung macht Mut; die Lady zögerte nicht, das schwanke Werkzeug zur Rettung zu benutzen; der wilde Bursche, der ihr auf so seltsame Weise zu Hilfe gekommen, stand ihr auch weiter bei, so daß sie glücklich den Gipfel wieder erreichte. Doch wagte sie erst wieder zu atmen, als sie auch ihren Neffen oben sah, der ihr gewandt und behend folgte, obgleich jetzt niemand mehr die Leiter unten hielt. Schaudernd betrachtete sie nun den Ort, wo sie sich befanden, und die Menschen, die dort hausten. Sie standen auf einer Art von Felsaltan, der, von allen Seiten mit schroffen Klüften und Schluchten umschlossen, keinen Weg weder hinauf noch hinunter zeigte. Ein mächtiger Felsblock, der zwischen zwei Kuppeln eingeklemmt lag, daß er ein schräges Dach über der hinteren Felsplatte bildete, auf der sie standen, hinderte jeden Blick, von außen hierher, und von hier nach außen. Ein paar Haufen dürren Laubes boten unter diesem rauhen Obdach den Bewohnern dieses Geierhorstes denn einen anderen Namen verdiente die Stätte nicht ein karges Lager. Zwei von ihnen sah Lady Staunton jetzt hier. Der eine, eben der, der ihr zu so rechter Zeit zu Hilfe gekommen, ein langer junger Bursche, aussehend wie ein Wilder, stand vor ihr, in einem zerrissenen Schottenmantel, mit kurzem Unterkleid, barfuß, barhäuptig aber mit einem Haarbusch so dicht, daß er wohl einen künstlichen Helm ersetzen und einen Schwerthieb abhalten konnte, darunter wölbte sich eine stolze Stirn und blitzte ein kühnes Augenpaar und die Haltung, in der er dastand, war frei und edel. Er schenkte David Butler kaum einen Blick, stierte aber mit maßloser Verwunderung auf die Dame, die wohl das schönste Wesen sein mochte, das er bis jetzt gesehen. Der Alte, dessen wildes Gesicht zuerst über den Felsen geguckt hatte, lag noch immer auf den Boden der Felsplatte gestreckt, mit träger Gleichgültigkeit, die im schroffen Widerspruch zu dem wilden Ausdruck seines rauhen Gesichtes stand, das er ihnen zukehrte. Es schien ein Mann von ungewöhnlicher Größe zu sein, und sein Anzug, nur wenig besser als der seines jungen Gefährten, bestand aus einem weiten Oberrock, wie er im Unterlande, und Unterkleidern, wie sie im Hochlande getragen wurden.

Die ganze Umgebung zeigte ein Bild seltsamer, unheimlicher Rauheit: unter dem Schirmdach des überhängenden Felsblockes brannte ein Steinkohlenfeuer, auf dem ein Brennkolben dampfte, dessen Glut den Gischt des Wasserfalles rötlich überhauchte; Blasebalg, Hämmer und Zangen, ein beweglicher Amboß und anderes Schmiedewerkzeug lagen oder standen daneben; an der Felsmauer lehnten drei Flinten, ein paar Säcke und Tonnen, auch ein Dolch, zwei Schwerter und eine Streitaxt. Nachdem der junge Wilde die Dame lange genug angestiert hatte, schleppte er einen irdenen Krug und einen großen Hornbecher heraus. Von dem Getränk, das eben erst aus dem Brennkolben gekommen schien, goß er aus dem Kruge in den Becher und bot den letztern erst der Dame, dann dem Knaben. Aber beide dankten, worauf er den Becher selbst in einem Zuge leerte. Dann verschwand er in einen Winkel der Höhle, kam mit einer andern Leiter wieder, die er an den quer überhängenden Felsblock lehnte, und winkte, während er die Leiter hielt, der Dame, hinaufzusteigen. Sie gelangte auf diesem schwanken Werkzeuge zu einer breiten Felskuppe, nahe dem Rande des Schlundes, in den sich der gewaltige Wasserstrom mit Schaumstreifen, die an die Mähnen eines wilden Renners erinnerten, hinunter ergoß. Allein die niedriger liegende Felsenfläche, die sie eben getragen hatte, lag ihren Blicken vollständig verborgen. David wurde der Aufstieg nicht so leicht gemacht der wilde Bursche mit dem wilden Haarbusch schüttelte, sei es aus Schadenfreude oder aus Schabernack, die Leiter, an der Angst sich weidend, die den Knaben und die Dame erfüllten, kräftig hin und her was erklärlicherweise zur Folge hatte, daß sie einander mit nichts weniger als freundlichen Blicken maßen, als beide endlich oben waren. Der junge Zigeuner, oder was er sein mochte, half der Dame fürsorglich zu einer zweiten gefährlichen Höhe hinauf, wohin auch David folgte, bis sie endlich, den Klüften und Abgründen entronnen, auf dem Gipfel eines nicht übermäßig steilen Berges standen, dessen Hänge dicht mit Heidekraut bedeckt waren. Der Kamin aber, den sie eben überwunden hatten, war so schmal und eng, daß nur am äußersten Bergrande eine Spur davon sichtbar war; auch der Wasserfall war nicht mehr sichtbar, aber sein dumpfes Brausen traf noch immer das Ohr.

Eben den dräuenden Felsen und Bergströmen entronnen, fand Lady Staunton hier neuen Grund zu Angst und Bangen. Die beiden Knaben, die ihr als Führer gedient, standen sich zornsprühend gegenüber. David, wenn auch jünger und kleiner als der wilde Bursche, war kühn und mutig und scheute vor niemand zurück.

»Du bist der Pfarrersjunge von Knocktarlitie,« sagte der Zigeuner; »kommst Du mir hier oben noch einmal ins Gehege, so schmeiße ich Dich in den Schlund wie einen Ball.« »Oho, Bursche, Du bist tatsächlich so kurz wie Du lang bist,« versetzte David unerschrocken und maß des Gegners Höhe mit zornigen Blicken; »gehörst doch sicher zur Bande des schwarzen Donacha? Kommt ihr uns unten noch einmal ins Gehege, so schießen wir euch nieder wie wilde Böcke.« »Sag nur Deinem Vater,« sagte der andere wieder, »daß er die Bäume zum letztenmal hat grün werden sehen. Uns verlangt's nach Rache für den Schaden, den er uns angetan hat.« »Hoffentlich geht noch mancher Sommer drüber ins Land,« sagte David, »daß wir euch noch öfter 'mal was zu Schaden tun können!«

Um dem Zwist ein Ende zu machen, trat Lady Staunton mit der Börse in der Hand dazwischen, nahm eine Guinee heraus und bot sie dem Zigeunerjungen.

»Das weiße Geld, das weiße Geld,« rief der junge Wilde, der vermutlich mit dem Werte des Goldes unbekannt war, als er das Silbergeld durch das Netz der Börse schimmern sah. Lady Staunton schüttete ihm alles Silbergeld, das in der Börse war, in die Hand; gierig langte er danach und machte etwas wie eine Verneigung zum Zeichen des Dankes und Abschieds.

»Lassen Sie uns eilen, Lady,« sagte David, »denn seit der Kerl Ihre Börse gesehen, wird uns die Bande, zu der er gehört, nicht lange Ruhe lassen.«

So schnell sie konnten, rannten sie den Abhang hinunter, aber schon nach wenigen Schritten hörten sie lautes Geschrei hinter sich. Ein Blick rückwärts zeigte ihnen die beiden Zigeuner im wilden Rennen hinter ihnen her, den älteren mit einer Flinte auf der Schulter. Zum Glücke zeigte sich im selben Augenblick ein herzoglicher Jäger auf der Berghöhe. Als die Räuber ihn sahen, machten sie Halt, und Lady Staunton winkte ihn heran und bat ihn um sein Geleit nach dem Pfarrhause, das sie aber erst in später Stunde erreichten.


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