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Zehntes Kapitel.

Jeanie stand sogleich auf, um dem Prediger, dessen Verwunderung, sie in Gesellschaft seines Sohnes zu finden, schier keine Grenzen fand, einen artigen Knicks zu machen.

»Ich sehe, daß ich Sie doch nicht recht beurteilt habe,« sagte er, sich an sie wendend, »und hätte es wohl dem jungen Manne überlassen sollen, Sie zu examinieren und Ihnen die erlittene Unbill weit zu machen, denn es scheint, die beiden Personen sind alte Bekannte.«

»Daß ich hier bin,« antwortete Jeanie, »ist ganz wider meinen Willen; der Diener sagte, der Herr wollte mich sprechen, und hat mich hierher geführt.«

»Na,« murmelte Tom vor sich hin, »auf die Weise muß ich's wieder ausbaden! Die Schwerenot über das Frauenzimmer! Muß sie auch gerade die Wahrheit reden! Jeder andere Bescheid hätte es doch auch getan!«

»Georg!« wandte sich Herr Staunton an seinen Sohn, »wenn Du auch von Deinen Gewohnheiten noch immer nicht gelassen hast, so hättest Du doch Deinem Vater und Deinem Hause solch unangenehmen Auftritt ersparen können!«

»Bei meinem Leben, meiner Ehre, Vater,« rief der Jüngling. »Wenn Sie in allen Hinsichten auch recht haben, mich zu tadeln, in dieser haben Sie unrecht! Bei meiner Ehre, unrecht!«

»Bei Deiner Ehre!« wiederholte der Vater, sich geringschätzig von ihm weg und, zu Jeanie wendend. »Von Ihnen, junge Person, begehre und erwarte ich keine Erklärung; aber als Vater dieses jungen Menschen und Herr dieses Hauses befehle ich Ihnen, sich aus diesem Hause zu entfernen.«

»Nein, Vater,« rief Georg, trotz aller Schmerzen, die ihn plagten, aufspringend, »Sie sind von Herzen gut und human, und meinetwegen sollen Sie nicht grausam und inhuman werden! Heißen Sie den Aufpasser dort gehen!«»sagte er, auf Tom zeigend, »und geben Sie mir ein paar von den stärkenden Tropfen; dann will ich Ihnen die Geschichte meiner Bekanntschaft mit dem Mädchen erzählen, die um meinetwillen ebenfalls nicht in schlimmen Verdacht geraten soll! Dazu habe ich ihrer Familie schon zu schweres Leid angetan, und hab's nur zu gut empfunden, wie tief der Verlust eines guten Namens schmerzt.«

»Gehen Sie,« sagte der Prediger, zu Tom und schloß hinter ihm die Tür ab. Dann wandte er sich zu seinem Sohne: »Ich bin bereit, die neue Ehrlosigkeit von Dir zu hören.«

Der junge Staunton wollte eben zu sprechen anfangen, als ihm Jeanie, in einem jener Momente besonnenen Mutes, der starke Seelen auszeichnet, das Wort vom Munde abschnitt, indem sie sich an Staunton den Vater wandte: »Mein Herr! Sie haben wohl das Recht, Ihren Sohn über sein Betragen zur Rede zu stellen; aber ich bin hier bloß Passantin und als solche Ihnen in keiner Weise verpflichtet, es sei denn für die Mahlzeit, die Sie mir freundlich reichen ließen; die wir in Schottland aber für jeden übrig haben, ob reich oder arm, und die ich gern bezahlt hätte, wenn ich nicht hätte fürchten müssen, mit solcher Zumutung zu beleidigen.«

»Alles ganz gut und schön,« antwortete, nicht wenig erstaunt, der Geistliche, »aber wir wollen bei der Sache bleiben; es gefällt mir wenig, daß Sie sich herausnehmen, dem jungen Manne den Mund zu verbieten, als er willens war, sich seinem Vater zu offenbaren über ein Verhältnis, das nicht eben erfreulich zu sein scheint.«

»Von seinen eignen Angelegenheiten mag er sprechen, was und soviel er will,« antwortete Jeanie; »aber von den Meinigen soll nichts bekannt werden ohne ihr Wissen und ihren Willen, und ich muß mir ausbitten, daß Sie Herrn Georg Ro – oder Staunton – wie sein Name nun heißen mag – nicht über die Meinigen ausfragen; denn sofern er auf den Namen eines Christen oder Edelmannes Anspruch erhebt, darf er solcher Aufforderung nicht nachkommen.«

»Ich fühle, Vater,« sagte der Jüngling, »mit meinem Worte zu rasch gewesen zu sein, denn es steht mir wirklich kein Recht zu, über ihre Angehörigen etwas auszusagen, sofern sie mir die Erlaubnis dazu verweigert.«

Wieder ließ der Prediger seinen Blick erstaunt vom einen zur andern gleiten. »Ich fürchte, was hier spielen mag, ist schlimmer als alles, was meine Ohren bis jetzt über Dich hörten, Georg! Ich bestehe aber gerade darum darauf, dies Geheimnis zu erfahren.«

»Ich habe schon erklärt, daß ich ohne Erlaubnis des Mädchens nicht sprechen darf,« sagte der Sohn.

»Und ich verfüge über keine Geheimnisse,« sagte Jeanie, »sondern habe Sie nur noch zu bitten, Herr, als Prediger des Evangeliums und rechtschaffener Mann, mich nach dem nächsten Gasthause auf der Londoner Straße führen zu lassen.«

»Für Ihre Sicherheit werde ich sorgen,« rief der Jüngling; »Sie sollen nicht notwendig haben, von anderen, was meine Pflicht ist, als Gunst zu erbitten.«

»Wagst Du so in meiner Gegenwart zu sprechen?« rief der jetzt mit Recht erzürnte Vater. »Willst Du durch eine Mißheirat das Maß Deiner Vergehen füllen? Aber nimm Dich in acht, ich rate es Dir.«

»Wenn Sie das im Hinblick auf mich befürchten, Herr,« sagte Jeanie, »so kann ich Ihnen nur sagen, daß ich für alles Land von einem Ende des Regenbogens zum andern Ihren Sohn nicht zum Manne nähme.«

»In all diesen Dingen steckt etwas, was ich mir nicht erklären kann,« sagte der Prediger; »komm mit mir in das andere Zimmer, Mädchen!«

»Höre mich erst an, Jeanie Deans,« rief der Sohn ihr zu; »nur ein Wort, ich baue auf Deinen Verstand. Entdecke meinem Vater soviel Du willst von diesen Dingen, durch mich soll er nicht mehr erfahren.«

Sein Vater warf ihm einen unwilligen Blick zu, der sich aber zu gramvoller Sorge milderte, als er ihn, erschöpft von dem Vorgange, auf sein Lager zurücksinken sah. Er ging aus der Stube und Jeanie folgte ihm. Als sie über die Schwelle ging, erhob sich Georg Staunton und rief ihr mit feierlich ermahnendem Tone nach: »Bleib eingedenk!«

»In Deiner Miene und Deinem Wesen,« sagte der Prediger, als er mit Jeanie allein war, »liegt etwas, das auf Verstand und Unbefangenheit und auch Unschuld schließen läßt, sofern ich nicht irre – Du müßtest denn auch die größte Heuchlerin sein, die mir je vor Augen gekommen. Ich will Dich nach keinem Geheimnis fragen, am wenigsten nach solchem, die meinen Sohn betreffen. Seine Aufführung hat mir schon zu viel Kummer bereitet, als daß ich je Trost oder Freude von ihm erwarten dürfte. Glaube mir aber, Deine Verbindungen mit ihm seien, wie sie wollen, je eher Du ihnen entsagst, desto besser.«

»Ich verstehe Sie, Herr,« versetzte Jeanie! »da Sie selbst aber so freimütig über Ihren Sohn sprechen, muß ich Ihnen sagen, daß ich ihn heute erst zum zweitenmal in meinem Leben gesprochen; und was ich hier aus seinem Munde hörte, legt mir den Wunsch nahe, nie wieder Aehnliches zu hören.«

»So ist es also Deine ernstliche Absicht, diese Gegend auf der Stelle zu verlassen und nach London zu gehen?«

»Allerdings, Herr; denn ich kann in gewissem Sinne sagen, daß mir der Bluträcher nachjage; und wäre ich nur gegen Unheil auf dem Wege geschützt – –«

»Ich habe über jene verdächtigen Menschen, die Du mir beschrieben, Erkundigungen einziehen lassen; sie sind nicht mehr in ihrem Schlupfwinkel angetroffen wurden; doch könnten sie in der Nachbarschaft lauern, und da Du persönliche Gründe hast, vor ihnen auf der Hut zu sein, will ich Dich der Fürsorge eines sichern Begleiters überantworten, der Dich nach Stamford bringen und Dir dort Gelegenheit verschaffen soll, mit der Landkutsche weiter zu kommen.«

»Eine Kutsche schickt sich nicht für Leute meines Standes,« sagte Jeanie, denn sie wußte nichts von Postwagen, die damals nur in der unmittelbaren Nähe Londons gebräuchlich waren. Herr Staunton gab ihr einige Auskunft über diese bequemere, wohlfeilere und sichrere Art zu reisen; und sie gab ihrer Dankbarkeit hierfür so aufrichtigen und unbefangenen Ausdruck, daß er sich zu der Frage veranlaßt fühlte, ob es ihr auch nicht an Geld fehle? Sie sagte indes, sie habe noch so viel, als sie brauche, um bis London zu kommen; und wirklich war sie auch mit ihrer kleinen Barschaft sehr sparsam umgegangen.

Herr Staunton befragte sie dann, nach welchem Stadtviertel von London sie zu gehen wünsche.

»Zu meiner Muhme, der Frau Glas, die einen Rauch- und Schnupftabak-Laden »zum Dornbusch« in London hat,« antwortete Jeanie, nicht ohne einen Anflug von Selbstgefühl, denn sie meinte nicht anders, als daß dieser Bescheid dem Geistlichen imponieren müsse.

»Und ist das Deine einzige Bekannte dort, mein armes Kind?« fragte dieser mitleidig. »Weißt Du wirklich keine bessere Adresse, als Du hier angibst?«

»Ich will auch zum Herzog von Argyle,« sagte Jeanie; »wenn Sie indessen meinen, es sei besser, erst zu diesem zu gehen, so könnte ich ja einen von dessen Leuten bitten, mir meiner Muhme Laden zu zeigen.«

»Hast Du Bekannte unter der Dienerschaft des Herzogs?«

»Nein, Herr.«

»Es scheint doch nicht ganz richtig mit ihr,« dachte der Geistliche, »sonst könnte sie sich wohl nicht einbilden, bei solchem Herrn ohne alle Fürsprache vorgelassen zu werden«. »Aber,« wandte er sich zu ihr, »wenn ich den Grund Deiner Reise nicht wissen darf, dann kann ich Dir doch auch nicht raten. Merke Dir aber, daß die Gasthofswirtin, bei der Du einkehren wirst, eine brave, anständige Frau ist; ich kenne sie, denn ich steige, hin und wieder bei ihr ab und will Dir ein Paar Worte an sie mitgeben.«

Jeanie dankte ihm für diese Güte.

»Mit dem Brief von Euer Gnaden,« fügte sie, »und dem von der braven Frau Bickerton von den sieben Sternen zu Durk kann's mir ja kaum in London fehlen.«

»Und nun willst Du wohl so bald wie möglich fort?«

»Wäre ich in einem Gasthof oder sonst einer schicklichen Raststelle abgestiegen, würde ich am Tage des Herrn meine Wanderung nicht fortsetzen. Da ich aber einen Weg der Barmherzigkeit vorhabe, wird es mir hoffentlich nicht als Sünde angerechnet werden, daß ich es tue.«

»Wenn es Dir recht ist, kannst Du den Abend bei Frau Dalton bleiben; ich möchte bloß nicht haben, daß Du mit meinem Sohn noch einmal sprächest, der keinesfalls ein Mensch ist, auf dessen Rat Du etwas geben solltest, möge Deine Situation noch so schlimm sein.«

»Euer Gnaden haben recht, und durch mich ist auch die Unterhaltung, in der Sie mich mit ihm trafen, nicht herbeigeführt worden. Ich wünsche dem jungen Herrn alles Gute, doch es wäre mir lieber, ich sähe ihn in meinem Leben nicht wieder.«

Der Geistliche ließ Frau Dalton rufen und bat sie, für Jeanie aufs beste zu sorgen. Dann verabschiedete er sich ernst und würdevoll von ihr, indem er ihr nochmals Geleit für den anderen Morgen nach Stamford zusicherte. Die Hausverwalterin führte sie wieder zu ihrem Stübchen, der Abend sollte indes nicht vorübergehen, ohne daß sie nochmals von Georg Staunton belästigt wurde. Thomas drückte ihr nämlich einen Zettel in die Hand, der ihr den Wunsch oder vielmehr das dringende Verlangen des jungen Mannes meldete, ihm auf der Stelle eine nochmalige Unterredung zu gewähren; er habe dafür Sorge getragen, daß keine Störung zu erwarten sei.

»Sage Deinem jungen Herrn,« erwiderte Jeanie laut, ohne sich durch die Winke und Zeichen das Lakaien irre machen zu lassen, »daß ich seinem ehrenwerten Vater fest versprochen habe, mich nicht mehr mit ihm zu befassen.«

Thomas zog sich darauf kleinlaut zurück, zumal auch Frau Dalton die günstige Gelegenheit nicht vorüber gehen ließ, ihm einen derben Denkzettel zu erteilen.

Nach einer ruhigen Nacht verließ Jeanie früh am andern Morgen die gastliche Pfarrei; auf einem Reitkissen saß sie hinter einem rüstigen, wohlbewaffneten Landmann auf einem tüchtig ausschreitenden Pferde. Eine Zeitlang ging es einen Feldweg entlang, der aber bald auf die Landstraße führte; bis dorthin war kein Wort zwischen ihnen gefallen. Nachher aber fragte sie der Bauer, ob sie nicht die Jeanie Deans sei, die Pächterstochter von Sanct Leonard. Verwundert bejahte sie die Frage.

»So hab' ich hier was für Euch,« sagte der Mann und reichte ihr ein Zettelchen über die linke Schulter; »es kommt, glaub ich, von unserem jungen Herrn, dem ja bei uns in Willingham jeder gern zu Gefallen tut, aus Liebe oder aus Furcht, was er ihm von den Augen absehen kann – wird er ja doch einmal unser Herr, mögen auch die Leute von ihm reden, was sie wollen.«

Jeanie erbrach das Siegel und las: »Sie wollen mich nicht sehen, wahrscheinlich weil Sie sich bangen; ich hätte Ihnen doch vielleicht manches nicht sagen sollen; aber meine Aufrichtigkeit zeigt Ihnen, daß ich, mag ich noch so schlecht sein, zum wenigsten kein Heuchler bin, Sie haben gesehen, daß ich meine eigene Ehre, die Ehre der Meinigen, ja mein Leben für Ihre Schwester zu opfern bereit bin, und Sie weigern sich doch zu kommen? Sie achten mich zu gering, halten mich nicht für wert, etwas für Sie zu tun. Nun, wollen Sie auch von mir nichts wissen, so ist doch das Opfer, das ich bringen will, einiger Beachtung wert; wer weiß, ob nicht die vergeltende Gerechtigkeit des Himmels mir den traurigen Ruhm versagt, das Opfer aus eigenem freien Willen zu bringen? Da Sie nun von mir nichts wissen wollen, müssen Sie eben selbst zusehen, wie Sie bei der Sache, die mich soviel beschäftigt, wie Sie zurecht kommen. So gehen Sie denn zum Herzog von Argyle, und sollten alle Ueberredungskünste nichts helfen, so sagen Sie ihm, es stünde in Ihrer Macht, den Mann der Obrigkeit zu überliefern, der den Edinburger Pöbel im Porteus-Aufstande angeführt hat. Wenn Sie ihm das sagen, so predigen Sie keinen tauben Ohren: das kann ich Ihnen versichern. Stellen Sie die Bedingungen, wie Sie wollen: Wo ich zu finden bin, wissen Sie; daß ich nicht fliehen werde, wie einst bei den Muschat-Steinen, um der Gefahr zu entrinnen, wissen Sie auch. Im Vaterhause werde ich bleiben – will mich gleich von dem Hasen zerreißen lassen, wo man mich aufjagt. Daß Sie als Lohn für die Auslieferung dieses Verbrechers das Leben Ihrer Schwester fordern können, fordern müssen, brauche ich Ihnen nicht zu sagen, aber daß Sie auch Amt und Einkommen für Butler fordern dürfen, will ich Ihnen noch sagen, denn man wird Ihnen alles gewähren, wenn Sie dem Henker einen Menschen überliefern, der zwar jung an Jahren, aber alt an Sünden ist und der kein anderes. Verlangen mehr hat, als nach den Stürmen eines wilden Lebens sein Haupt niederzulegen und zu schlafen.«

Dieser wunderliche Brief war mit den Anfangsbuchstaben G. S. unterschrieben. Jeanie las ihn zweimal mit größter Aufmerksamkeit durch; dann aber zerriß sie ihn in lauter kleine Schnippelchen, die sie dem Winde als Beute ließ, um zu verhindern, daß ein so gefährliches Geheimnis in fremde Hände gerate. Dann ging sie mit sich zu Rate, ob sie im äußersten Falle das Recht habe, den Mann, von dem ihr das Schreiben zugegangen, für die Schwester zu opfern. Einerseits wollte es ihr als gerechte Wiedervergeltung bedünken, daß derjenige, der ihre Schwester ins Unglück gebracht, auch die Strafe dafür leide. Anderseits aber widerstrebte es ihrem strengen Sittlichkeitsgefühl, daß Effie als die Mitschuldige nicht bloß straffrei ausgehen, sondern ihr Leben behalten, weil Staunton es verlieren sollte. Zudem betrachtete sie die am Hauptmann Porteous verübte Rache als Schottin, mithin durchaus nicht als ungehörig oder gar als straffälligen Verstoß gegen Recht und Gesetz, sondern zitterte vielmehr bei dem Gedanken, durch eine Denunziation des Rädelsführers als Verräterin an ihrem Volke angesehen zu werden. Und doch wieder war es eine schreckliche Marter für ihr liebendes Herz, das Mittel zu Effies Rettung in der Hand zu haben und nicht brauchen zu dürfen.

»O, daß Gott mich leiten und mir helfen möge!« rief Jeanie, »sofern es Sein Wille ist, mich solchen Prüfungen auszusetzen, unter denen meine Kraft schier zu erliegen droht.«

Während Jeanie sich in diesen Betrachtungen erging, schien ihr Führer, ein braver, rechtlicher Mensch, dessen Empfindungsvermögen aber nicht über den Stand hinausging, dem er angehörte, des Schweigens müde und mitteilsamer zu werden; sein Horizont reichte nicht über Willingham hinaus, und so beschränkte er seine Unterhaltung auf die Familie, der Willingham gehörte. Auf diese Weise erfuhr indes Jeanie mancherlei Umstände, von denen sie bisher keine Kenntnis hatte, und deren Kenntnis auch für unsere Leser vorteilhaft sein wird, indem sie ihnen den bisherigen und auch den künftigen Verlauf unserer Erzählung leichter verständlich machen werden.

Georg Stauntons Vater hatte in seinen jüngeren Jahren in dem britischen Heere gedient, war nach Westindien versetzt worden und hatte sich dort mit der Erbin eines reichen Pflanzers verheiratet. Aus dieser Ehe war ein einziges Kind hervorgegangen, eben der unglückliche junge Mann, der im Verlaufe unserer Erzählung schon allzu oft eine Rolle gespielt hat. Georg Staunton verlebte seine Kindheit im Elternhause, abgöttisch geliebt von seiner schwärmerischen Mutter und verhätschelt von der Dienerschaft, die ihm alles an den Augen abzusehen beflissen war. Sein Vater war ein würdiger und kluger Mann, der aber von seinem Dienste so stark in Anspruch genommen wurde, daß ihm wenig Zeit blieb, sich um seine Häuslichkeit und die Erziehung seines Sohnes zu kümmern. Wohl entging ihm nicht, daß seine Frau dem Knaben allen Willen ließ; es fiel ihm aber sehr schwer, sie darüber zur Rede zu stellen, weil sie einen krankhaften Eigensinn besaß und, auf ihre Schönheit pochend, vor häuslichen Szenen nicht zurückscheute, wenn es ihr darauf ankam, ihren Willen durchzusetzen; ihm ging nun für die wenigen Stunden, die er in seiner Häuslichkeit verbringen konnte, die Ruhe über alles, und so neigte er mehr dazu, fünf gerade sein zu lassen, als daß er sich energisch aufgerafft und seinen Willen zur Geltung gebracht hätte. Das hinderte ihn freilich nicht, dann und wann es doch mit einem Versuche zu wagen, Wandlung in die verkehrte Erziehung seines Kindes zu bringen; aber diese Versuche schadeten mehr, als sie besserten; denn er war dann in der Regel heftig und ungeduldig, und die Mutter, wenn sie sich dadurch gekränkt oder verletzt fühlte, besaß nicht Taktgefühl genug, dem Knaben gegenüber darüber zu schweigen, sondern ließ sich zuweilen vom Zorne verleiten, vor dem Kinde über den Vater zu schelten, so daß dieses sich früh daran gewöhnte, in dem Vater keinen liebenden Berater und Führer, sondern einen nörgelsüchtigen Pedanten zu erblicken, dessen Nähe er verabscheute, weil er sich bedrückt und behindert in derselben fühlte.

Als er zehn Jahre alt war, starb die Mutter, und sein Vater kehrte mit gebrochenem Herzen nach England zurück. Um das Maß ihrer verkehrten Erziehung voll zu machen, hatte die Mutter dem verzogenen Knaben eine erhebliche Summe zur selbständigen Verwendung testamentarisch sicher gestellt, und dieser, kaum in England warm geworden, hatte es nicht fehlen lassen, die ihm dadurch geschaffene Unabhängigkeit nach Kräften auszunützen. Der Vater hatte ihn, um ihn auf bessere Wege zu führen, in ein Seminar gebracht; dort hatte jedoch, während seine Fähigkeiten alle Lehrer befriedigten, seine Zügellosigkeit in kurzer Zeit soviel Unheil angerichtet, daß dem Anstaltsdirektor nichts anderes übrig blieb, als ihn zu relegieren.

Der Vater, seit dem Tode seiner Frau ohnehin zu Trübsinn geneigt, nahm sich die schlimmen Erfahrungen mit seinem Sohne so zu Herzen, daß er sich entschloß, in den geistlichen Stand überzutreten. Sein Bruder William setzte ihn in den Genuß der Pfründe Willingham, was für ihn auch insofern noch von nicht unerheblicher Wichtigkeit war, als er selbst von dem Vermögen seiner Frau wenig geerbt und als jüngerer Sohn der Familie keinerlei Anrecht auf ein väterliches Erbe hatte. Er nahm den Sohn zu sich nach Willingham, sah jedoch bald ein, daß dessen Ausschweifungen bereits ein Zusammenleben mit ihm unmöglich machten, und so entschloß er sich, den Sohn ins Ausland zu schicken. Von dort kam derselbe aber nicht gebessert, sondern noch schlechter zurück, und bald war er nun Stammgast in allen Spielhöllen und Lasterhöhlen; kaum einundzwanzig Jahre alt, hatte er das von der Mutter ererbte Vermögen verpraßt und noch Schulden über Schulden obendrein gemacht ...

»Schade um den jungen Herrn! wirklich recht schade!« sagte der ehrliche Bauer, »denn eine offne Hand hat er immer, und wenn er was hat, dann darf es keinem Armen fehlen; er ist auch ein gar gescheiter Kopf, der aus allen Verlegenheiten sich herauszuhelfen weiß; aber es kann eben auch zu nichts Gutem führen, wenn Kinder in ihrer Jugend zuviel freien Willen haben. Das Fohlen schlägt nun einmal gern über die Stränge.«

In Stamford schied der redselige Führer von unserer Heldin, der er einen Platz in der Landkutsche besorgte; aber obgleich dieselbe den vielsagenden Namen Eilpost führte und sechsspännig fuhr, so verging doch der ganze und der nächste halbe Tag, bis Jeanie in London eintraf. In dem Gasthofe, wo die Postkutsche hielt, fand Jeanie freundliche Aufnahme, denn Reverend Staunton schien dort sehr angesehen zu sein, und die Wirtin half ihr auch, die Adresse ihrer Muhme, der Frau Glas, aufzufinden, bei der sie den herzlichsten Willkomm fand.


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