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Neuntes Kapitel.

Allein mit sich, überlegte Jeanie, welchen Weg sie am klügsten einschlüge. Einerseits verzehrte sie die Ungeduld, ihre Wanderung fortzusetzen, anderseits hatte sie aus den wirren Reden der unglücklichen Madge, wie aus der in der Scheune erlauschten Unterredung zwischen Madges Mutter und dem Wegelagerer, den diese Frank Lewitt genannt, sattsam ersehen, daß ein rachsüchtiger Plan im Werk sei, sie an der Fortsetzung ihrer Wanderung zu hindern; wenn sie aber nicht auf den Beistand des Predigers rechnen durfte, an wen sollte sie sich wenden? Endlich ging die Tür auf und zu ihrer nicht geringen Freude sah sie eine Person ihres eignen Geschlechts eintreten, eine Frau in vorgerückten Jahren von mütterlichem Aussehen, in der sie die Hausverwalterin vermutete. Jeanie erklärte ihr mit wenig Worten ihre Situation und bat sie um Hilfe und Beistand. Aber mit einer Person sich ohne weiteres zu befassen, die auf die Pfarrei gebracht wurden, um amtlich vernommen zu werden, wollte sich mit der Würde der alten Dame nicht vereinbaren, und so antwortete sie höflich, aber zurückhaltend: Der junge Herr sei mit dem Pferde gestürzt, leide überhaupt an häufigen Ohnmachtsanfällen, und darum sei es leicht möglich, daß Hochwürden das Mädchen warten lassen müßten; aber Jeanie möchte sich deshalb nicht beunruhigen, denn was recht und in Ordnung sei, und was in seinen Kräften stünde, würde der Herr gern tun, sobald er irgend Zeit dazu gewönne. Zum Schlusse bot sie Jeanie ein Stübchen an, wo sie sich so lange aufhalten könne, bis Hochwürden sie rufen lasse.

Jeanie nahm das Anerbieten dankbar an und bat die würdige Frau um einige Dinge, die ihr zur Säuberung und Ordnung ihres Anzuges von nöten waren. Die Hausverwalterin gab sie ihr gern, denn Reinlichkeit und Ordnungsliebe rechnete sie zu den ersten menschlichen Tugenden. Die Veränderung, die auf diese Weise mit Jeanie vorging, gewann ihr das Herz der alten Frau, denn aus der unsaubern, fast liederlich aussehenden Person, die im Geruch der Landstreicherei stand, war eine schmucke, adrette, bescheidene kleine Schottin geworden, die die ehrsame Frau Dalton – so stellte sich ihr die Hausverwalterin jetzt vor – gern bat, ihr Mittagbrot zu teilen; und durch das artige, zurückhaltende Wesen, das Jeanie bei Tische zeigte, wurde sie noch um vieles mehr zu ihren gunsten eingenommen.

»Da, Kind, kannst Du ein bißchen lesen,« sagte Frau Dalton, als sie abgeräumt hatte, und legte die Hand auf eine große Bibel; »Du kannst's doch?«

Verwundert über solche Frage, antwortete Jeanie: »O, der Vater hätte lieber alles entbehrt, als mich solches Unterrichts ermangeln zu lassen.«

»Brau, recht brav von Deinem Vater! Nun, so nimm das Buch und lies mir draus vor, denn meine Augen sind trübe. Schlage nur auf, was Du willst. Die Bibel ist ja das einzige Buch, worin Du auf nichts Unrechtes stoßen kannst.«

Zuerst wollte Jeanie die Parabel vom barmherzigen Samariter lesen, aber ihr Gewissen hielt ihr vor, es möchte so aussehen, als ob sie die heilige Schrift nicht zur Erbauung allein, sondern in der Absicht, anderer Gemüter für sich einzunehmen, lesen wolle; mit strenger Rücksicht auf reine Pflichterfüllung wählte sie darum einen Abschnitt aus dem Propheten Jesaias, las mit so andächtiger Frömmigkeit, daß Frau Dalton sich höchst erbaut fand, und sagte, wenn alle schottischen Mädchen so wären wie sie, statt barfuß in die Stadt hinein zu kommen und sich auf allen Jahrmärkten herumzutreiben, dann möchte sich freilich für manche mehr als jetzt ein guter Dienst in England finden.

Toms Eintritt unterbrach sie. »Der Herr wolle das Mädchen aus Schottland sehen,« meldete er.

»Nun, so geh schnell, meine Liebe,« sagte Frau Dalton, »und erzähle ihm nur alles so wie mir. Ich habe ein Zeichen in das Buch gelegt und will in der Zeit eine Tasse Tee mit etwas Brot zurechtmachen, wie Du es in Deinem Schottland wohl noch nicht gegessen haben dürftest.«

»Der Herr wartet,« mahnte Tom ungeduldig.

»Schön, Sie Naseweis,« sagte Frau Dalton; »müssen Sie sich in alles mischen? Uebrigens habe ich Ihnen doch schon oft genug gesagt, Sie sollen von Herrn Staunton nicht anders als von Hochwürden reden! Es schickt sich nicht, ihn bloß als Herr zu titulieren.«

Jeanie stand schon an der Tür, und der Diener schritt ihr voraus, vor sich hin brummend, es gäbe nun einmal mehr denn einen Herrn hier, und ließe man Frau Dalton allen Willen, noch eine Herrin dazu den Gang entlang bis zu einem Zimmer, das von außen so gut wie abgesperrt war dadurch, daß alle Läden geschlossen waren. Ein Bett stand darin, dessen Gardinen ebenfalls zugezogen waren.

»So! Da ist das Mädchen,« sagte Tom.

»Recht,« fügte eine Stimme vom Bette her, die aber nicht die des geistlichen Herrn war »und nun geh, Tom, und warte draußen, bis ich klingle.«

Verwundert darüber, sich in einer Krankenstube zu sehen, sagte Jeanie: »Hier muß ein Irrtum vorwalten; der Diener sagte mir, der Herr Prediger.«

»Seien Sie unbesorgt,« sagte die gleiche Stimme wieder, »von Irrtum ist keine Rede. Ich weiß von Ihren Angelegenheiten mehr als mein Vater und kann mit besserm Rate dienen als er, Tom, laß uns allem!« rief der Kranke, und Tom verschwand aus der Stube. »Zur Sache!« fuhr er fort, »es ist schon zuviel Zeit verloren gegangen. Oeffnen Sie den Laden ein wenig!« Sie gehorchte, und da er nun auch die Bettgardine zurückstreifte, fiel helles Licht auf sein bleiches, durch Kopfbinden halbverhülltes, erschöpftes Gesicht.

»Sehen Sie mich an, Jeanie Deans,« sagte er; »besinnen Sie sich auf mich?« – »Nein,« erwiderte sie verwundert; »war ich doch nie zuvor in diesem Lande!« – »Aber ich könnte drüben in Schottland gewesen sein,« sagte er; »besinnen Sie sich! Ich möchte einen Namen nicht nennen, der Ihnen bitter verhaßt sein muß.«

Eine schreckliche Erinnerung stieg blitzesgleich in Jeanies Geiste auf, die zusammen mit dem Klange seiner Stimme und mit den Worten, die er nun sprach, zur Gewißheit wurde. »Hören Sie mich ruhig an, Jeanie! und gedenken Sie der Muschatsteine!«

Die Hände über der Brust faltend, von Todesangst geschüttelt, sank Jeanie auf einen Stuhl.

»Ja,« rief er, »hier liege ich wie ein zertretener Wurm, und krümme mich vor Unrast und Ungeduld. Da liege ich, während ich in Edinburg sein und alles versuchen sollte, ein Leben, mir teurer als mein eigenes, aus Not und Pein zu retten! Wie steht's um Ihre Schwester? Zum Tode verurteilt! Ich hab's vernommen. Ha! Daß mein Pferd, das mich zu so vielen Sünden sicher führte, mit mir stürzen mußte auf dem einzigen gerechten Wege, den ich seit Jahren gegangen. Sagen Sie mir – o! ich darf nicht so wild sein, mein Körper hält's nicht mehr aus, und ich habe noch gar viel zu reden – geben Sie mir ein paar Tropfen aus dem Glas hier, zur Stärkung – Jeanie, sagen Sie mir, was Sie hierher führt, kurz und bündig – es ist schon zuviel Zeit vertrödelt worden – Sie zittern? Lassen Sie Tropfen Tropfen sein! Ich fühle mich wieder besser ... Was hat Sie hierher gefühlt, Jeanie? Sprechen Sie! sprechen Sie! Ich will Ihnen beistehen, und niemand kann es wie ich, sprechen Sie also! Und ohne Furcht! Wenn ich auch Ihrer Schwester schlimmster Feind gewesen, so will ich doch jederzeit mein Herzblut für sie vergießen.«

»Ich fühle mich frei von Furcht, Herr,« antwortete Jeanie mit Ruhe, »denn ich baue auf Gott. Möge es Ihm gefallen, der Schwester die Freiheit zu geben, sei das Werkzeug auch, welches es wolle! Aber Ihren Rat, Herr, wenn er nicht mit der Lehre übereinstimmt, der ich anhänge, darf ich nicht annehmen.«

»Hol der Teufel die Muckerei!« rief Georg Staunton, wie wir ihn jetzt nennen müssen; »Jeanie, mir hat die Natur ein wildes Temperament gegeben, und Ihre Worte machen mich rasend! Wie kann es Ihnen zum Nachteil sein, mir Kunde zu geben von der Lage Ihrer Schwester, und von den Hoffnungen, die sich ihr vielleicht noch bieten? Meinen Rat abzuweisen, haben Sie allemal noch Zeit, wenn er Ihnen verwerflich erscheint. Jetzt spreche ich ruhig mit Ihnen, obgleich das sonst meine Art nicht ist. Aber, Jeanie, Sie dürfen mich nicht zur Ungeduld treiben! Es würde mich außer stand setzen, für Effie etwas zu tun.«

Nach einem kurzen Bedenken kam Jeanie zu der Einsicht, daß es ihr nicht gezieme, ihm die traurigen Folgen seines Verbrechens zu verheimlichen, auch nicht, seinen Rat zu verwerfen, der doch vielleicht einen Wink zur Hilfe enthielt. So gedrängt wie möglich erzählte sie ihm deshalb den Verlauf der Gerichtsverhandlung, das über Effie gefällte Urteil und die Gründe, die sie zu ihrer Wanderung bestimmt hatten. Er lauschte ihr mit äußerster Anstrengung, vermied alles, was Jeanie hätte stören können, aber das tiefe Leid, das ihm das Herz zerriß, verriet sich durch das Beben seiner Glieder, das krampfhafte Aufeinanderschlagen seiner Zähne. Als sie zu den Ereignissen kam, die ihre Wanderung hier unterbrochen, schienen diese Anzeichen von Reue zu verschwinden und einem maßlosen Staunen das Feld zu räumen. Er erkundigte sich genau über das Aussehen der beiden Wegelagerer, ließ sich das Gespräch wiederholen, das sie zwischen dem einen von ihnen und der alten Frau belauscht, und rief, als sie von dem Säugling sprach, dessen Amme sie gewesen: »Es ist leider wahr, die Quelle, die mir die ersts Lebensnahrung reichte, muß mir den verderblichen Hang zum Bösen eingeflößt haben, der meiner Familie bis dahin fremd war.«

Jeanie berührte ihr Zusammensein mit Madge Wildfire nur flüchtig, weil es ihr nicht behagte, das zu wiederholen, was Madge vielleicht nur im Wahnsinn gesprochen, und war somit bald am Schlusse. Staunton saß ein paar Augenblicke in tiefem Sinnen. Dann sagte er, mit größerer Fassung als bisher: »Jeanie, Sie sind ein Mädchen, gefühlvoll und gut, und ich will Ihnen von meinem Leben erzählen, was ich bisher noch keinem Menschen erzählte. Es ist eine trübe Geschichte, ein Gewebe von Torheit, Schuld und Elend. Aber ich tue es, weil ich hoffe, mir dadurch Ihr Vertrauen zu gewinnen, weil ich von Ihnen erwarte, daß Sie in dieser schrecklichen Sache nach meinem Rat und Winke handeln werden.«

»Alles will und werde ich gern tun, Herr,« antwortete sie, »was einer Schwester, Tochter und Christin geziemt. Aber von Ihren Geheimnissen sagen Sie mir nichts! denn auf Ihren Rat zu hören, geziemt mir so wenig, wie auf die Lehre, die zum Irrtum verleitet.«

»Törin!« rief der Jüngling unwillig, »sehen Sie mich doch an! Habe ich etwa Pferdefuß oder Hörner und Klauen? Und wenn ich der Teufel nicht bin, was könnt ich damit bezwecken, die Einbildungen zu zerstören, mit denen Sie sich trösten oder betrügen? Hören Sie mich ruhig an, und Sie werden erkennen, daß mein Rat Ihnen kein Hindernis ist, bis zum siebenten Himmel zu gelangen, denn er wird Ihren Flug um kein hundertstel Quentchen erschweren.«

Was er nun erzählte, las er zum Teil aus einem Hefte vor, vielleicht bestimmt, nach seinem Tode seinen Verwandten Aufschluß über sein Geschick zu geben. »Um mich kurz zu fassen,« begann er, »jenes greuliche Weib, die Grete Murdockson, war mit einem Diener meines Vaters verheiratet und meine Amme. Ihr Mann war tot, und sie wohnte in einer unserm Wohnhause nahe gelegenen Hütte. Sie hatte eine Tochter, die zu einem hübschen Mädchen heranwuchs, aber eitel und hoffärtig war. Die Mutter wollte sie zu einer Heirat mit einem alten, reichen Geizhals in der Nähe drängen; das Mädchen ließ sich mit mir ein und ich mit ihr. So abscheulich wie gegen Ihre Schwester gehandelt war's ja nicht, aber doch immer unrecht genug, denn schon ihre Torheit hätte ihr ein Schutz sein sollen. Bald darauf mußte ich außer Landes gehen, mein Vater bestand darauf; ich muß ihm die Gerechtigkeit lassen, daß ihn die Schuld nicht trifft, wenn ich zum Bösewicht wurde, daß er im Gegenteil alles getan, was mich zum Besten führen konnte. Als ich wiederkam, waren Mutter und Tochter aus dem Orte gejagt; meine Schuld war offenbar geworden, mein Vater stellte mich zur Rede, wir gerieten aneinander, und ich verließ das Vaterhaus, um mich einem wilden Abenteuerleben zu ergeben, entschlossen, nicht mehr wiederzukehren. Mein Hang war, glaube ich, besonderer Art, und hätten frühe Ausschweifungen ihn nicht entarten lassen, so wäre ich vielleicht zum Bessern zu lenken gewesen. Das tolle Treiben und die unbeschränkte Freiheit stand mir nicht so sehr zu Sinne, als der abenteuerliche Schwung, die Geistesgegenwart in Momenten der Gefahr und der Scharfsinn, der bei allen Unternehmungen aufgeboten werden mußte, in die ich mich mit meinen Kameraden einließ. Jeanie, haben Sie die Pfarrei sich angesehen? Ist's nicht eine freundliche, angenehme Stätte?«

Jeanie, wenn auch von dem jähen Wechsel der Rede überrascht, antwortete bejahend. »Nun, Jeanie! Ich wünschte, sie wäre zehntausend Klafter unter der Erde, mit all ihren Aeckern und Zehnten und was sonst zu ihr gehört. Wäre sie nicht gewesen, und der Profit, den sie abwirft, und den meine Familie nie hat missen wollen, obwohl sie es recht gut gekonnt hätte, dann wäre ich Soldat geworden, hätte bloß die Hälfte von all dem Mut und der Gewandtheit aufzubieten brauchen, den ich unter Wilddieben und Schmugglern aufbieten mußte, und mir noch immer einen ehrenvollen Platz in der Welt gesichert. Mein abenteuerliches Leben führte mich nach Schottland, und hier schloß ich Bekanntschaft mit Wilson, einem merkwürdigen Menschen, der in jeder Lebenslage einen ruhigen, festen Sinn zeigte und mit ungewöhnlicher Leibeskraft und einer natürlichen Beredsamkeit begabt war, die ihm ein Uebergewicht über all seine Gefährten gab. Zu seinem und meinem Unglück wollte es das Schicksal, daß er, trotz der Verschiedenheit unserer Herkunft und Erziehung, einen faszinierenden Einfluß auf mich gewann, den ich nur der Ueberlegenheit seines ruhigen Charakters über meine maßlose Heftigkeit zuschreiben kann. Wohin er ging, mußte ich ihm folgen; sein Mut und seine List hielten mich in seinem Banne. Verstrickt unter seiner erstaunlichen Leitung in die verwegensten Abenteuer, machte ich die Bekanntschaft Ihrer Schwester auf einem Ball in der Vorstadt, den sie heimlich besuchte, und ihre Verführung bildete nur einen Akt in dem Drama von Schändlichkeiten, das ich nun, tiefer und tiefer sinkend, aufführte. Aber es war nicht das Werk eines abgefeimten Planes, der mir ihre Schwester zu Willen machte, nein! das dürfen Sie mir glauben, und der Entschluß, ihr allen Ersatz durch Heirat zu leisten, sobald ich mich aus meinen Sünden gerissen, stand bei mir fest. Ich hatte tolle Träume, malte mir aus, wie ich sie nach einer armseligen Hütte führen und von da plötzlich zu Rang und Reichtum führen wollte; und in diese Zeit fallen die Bemühungen eines Freundes, mich mit meinem Vater auszusöhnen. Der Augenblick war nahe, da erfuhr, Gott weiß wie, mein Vater, wie tief ich gesunken sei, schrieb mir, er hätte keinen Sohn mehr, sandte mir eine nicht unbedeutende Summe und riet mir, damit aus England zu verschwinden. Ich geriet in Verzweiflung, und um mich zu betäuben, ließ ich mich mit Wilson in ein Schmuggelgeschäft ein, das aber fehlschlug.

»Beute lockte mich nicht; ich überließ sie willig den Gefährten und bestand nur darauf, daß man mich auf den gefährlichsten Posten stellte. Ich besinne mich noch recht gut, als sie mich mit gezücktem Säbel Wache stehen ließen, daß ich mit keinem Atem an die eigene Sicherheit dachte, sondern nur in dem Gefühle schwelgte, wie angenehm es in den Ohren der hochmütigen Familie Willingham klingen werde, wenn sie hörten, daß einer ihres Geschlechts, der wahrscheinliche Erbe all ihrer Ehren und Würden, unter den Händen des Henkers sterben solle deshalb, weil er ein Zollhaus an der schottischen Grenze ausgeraubt hätte!

»Wir wurden, wie ich nicht anders erwartet, ergriffen, prozessiert und verurteilt. Aber je näher der Tod rückte, desto gräßlicher erschien er mir, und das Bewußtsein, Ihre Schwester hilflos zurückzulassen, rüttelte mich Zu dem Entschlusse auf, meine Rettung zu versuchen. In Edinburg hatte ich, wie ich zu erwähnen vergessen, die Grete Murduckson mit ihrer Tochter wiedergefunden. Sie war in ihrer Jugend Marketenderin gewesen und stand, unter dem Deckmantel eines kleinen Handels, mit allerhand Gaunervolk in Verbindung. Die erste Auseinandersetzung verlief höchst stürmisch, aber ich gab, was ich hatte, und so schien sie vergessen zu wollen, was ich ihrer Tochter angetan, deren Verstand, wie sie sagte, durch eine schwere Niederkunft gelitten habe. Daß dem so war, erkannte ich bald selbst, denn als ich ihr gegenüber trat, wußte sie nichts mehr von mir und von dem, was ich ihr angetan. Aber jeder Blick des unglücklichen Wesens, jedes Wort aus ihrem Munde, die unklaren Andeutungen auf Vorgänge, die so scharf in meinem Gedächtnis standen, waren ebensoviel Dolchstiche für mich, ich mußte es ertragen und habe es ertragen. Doch nun zu den Qualen, die mich im Gefängnisse folterten.

»Nicht die geringste darunter war die nahende Niederkunft Ihrer Schwester; wie sehr sie fürchtete, daß ihre Schande Ihnen und dem Vater zu Ohren käme, wußte ich; oft sagte sie, lieber wolle sie tausendmal sterben, ehe sie das erlebte und doch mußte für ihr Wochenbett Fürsorge getroffen werden.

»Daß die Grete Murdockson ein Teufel sei, wußte ich; ich glaubte aber, sie sei mir zugetan und würde mir um des Geldes willen, mit dem ich ihr gegenüber nicht geizte, treu bleiben. Sie übernahm es, für Effie zu sorgen, nachdem sie mir und Wilson Feilen ins Gefängnis zugeschanzt hatte. Effie sollte, bis ich entwichen und wieder im stande sei, Bestimmungen zu treffen, in ihrer Obhut bleiben. Ich setzte Effie hiervon in Kenntnis. Unser Fluchtversuch mißlang, durch Wilsons Eigensinn; aber die unerschrockene und selbstlose Art, wie er denselben wieder gut machte, hat in Schottland lange genug den Gesprächsstoff gebildet. Es war ein kühnes Unterfangen von ihm und er führte es mit der größten Bravour aus. Ich mag viele Fehler haben; aber Undankbarkeit und Feigheit gehören nicht dazu. Ich nahm mir vor, ihm seine Großmut zu lohnen, und hinter dieser Aufgabe mußte die Sorge um Ihre Schwester momentan zurücktreten. Doch vergaß ich über der Befreiung des Freundes die Geliebte nicht; die Spürhunde der Polizei waren scharf hinter mir her, so daß ich mich nicht in die Stadt hinein wagen durfte; es gelang mir, die Murdockson in einer Vorstadt zu sprechen, und nun erfuhr ich von ihr, daß Effie einem Knaben das Leben geschenkt habe. Ich gab ihr Geld über Geld mit der Bitte, es ihr an nichts mangeln zu lassen, und verwendete den ganzen Rest der mir vom Vater gesandten Summe dazu. Dann suchte ich Wilsons Kameraden in ihren Schlupfwinkeln auf und erklärte mich bereit, den zu seiner Befreiung geplanten Ueberfall der Stadtwache zu leiten. Er wäre uns auch gelungen, hätte nicht die Stadt-Obrigkeit, auf Anraten des schurkischen Hauptmanns Porteous, die Hinrichtung um eine halbe Stunde früher angesetzt, so daß wir zu spät kamen, denn wir hatten ausgemacht, uns erst zu sammeln, wenn Wilson zum Schafott geführt würde; wir hatten vermeiden wollen, Aufsehen zu wecken, was leicht möglich gewesen wäre, wenn wir den Markt früher besetzten. Aber noch immer gab ich nicht alles auf, sondern erstürmte das Schafott und schnitt Wilsons Leiche los, mit eigner Hand! Es war zu spät! Der beherzte Schmuggler hatte ausgelitten, und wir konnten ihm bloß ein ehrliches Begräbnis schaffen. Nun blieb uns nur die Rache.«

»O Herr!« rief Jeanie ein, erschüttert von dem Gehörten, »und Sie gedachten des Bibelwortes nicht: Mein ist die Rache; ich will vergelten, spricht der Herr?« – »Bibel?« fragte Georg Staunton höhnisch, »was soll sie mir? »Ich habe sie seit fünf Jahren nicht aufgeschlagen!« – »Heiliger Gott! Weh mir!« rief Jeanie, »und solche Rede aus dem Mund eines Predigersohnes?«

»Daß Sie so reden, ist begreiflich« nahm er wieder das Wort; »aber lassen Sie mich meine Erzählung, so fluchwürdig sie ist, zu Ende bringen. Porteous, der Stadtgarden-Hauptmann, wurde durch die übertriebene Pflichterfüllung sowohl mir als der ganzen Edinburger Bevölkerung verhaßt, besonders dadurch, daß er auf den Pöbel schießen ließ und selbst schoß, als gar keine Notwendigkeit mehr dazu vorlag. Alles schwor ihm Rache, aber Vorsicht war von nöten; denn mir war es so vorgekommen, als ob mich einer von den Fronen erkannt hätte. Ich verhielt mich also in der Nähe der Stadt, setzte aber keinen Fuß hinein, bis es mich zuletzt nicht länger hielt, mich nach Effie und ihrem und meinem Knaben umzusehen. Die Wohnung fand ich, aber weder Effie noch das Kind – beide waren verschwunden, und die Murdockson sagte mir, sobald Effie gehört habe, Wilsons Befreiung sei fehlgeschlagen, und die Polizei sei scharf hinter mir her, sei sie in ein hitziges Fieber verfallen und, kaum genesen, bei der ersten Gelegenheit, die sich ihr bot, entflohen. Ich überschüttete sie mit Vorwürfen, drohte mit der Polizei; aber sie blieb kalt, meinte, ich hätte mehr auf dem Kerbholze als sie, und Rache, mit der ich nun drohte, hätte ich nach allem, was zwischen ihr und mir vorgefallen, mehr zu fürchten als sie. Ich raste hinweg und betraute einen Kameraden, sich nach Effie in Sankt-Leonard zu erkundigen. Nach einem fernen Schlupfwinkel – denn die Polizei verfolgte mich unablässig – brachte er mir die Nachricht, daß Porteous zum Tode verurteilt und Effie in den Kerker abgeführt worden sei. Noch einmal wagte ich mich in die Wohnung der Murdockson und sagte ihr ins Gesicht, sie hätte Effie tückisch in Elend und Jammer gebracht, bloß um sich auch noch des Geldes, das ich Effie dagelassen, zu bemächtigen. Jetzt aber hat mir Ihre Erzählung von der Verfolgung, der Sie ausgesetzt gewesen, das rechte Licht gebracht; jetzt weiß ich, daß Rachedurst das Motiv ist, das sie leitet. Herrgott! Warum hat sie nicht mich dem Schafott überliefert!«

»Aber was sagte sie von Effie und ihrem Kinde, die Elende?« fragte Jeanie, trotz aller Schrecknisse der Erzählung noch immer gefaßt und besonnen genug, um diejenigen Punkte zu erfassen, die Licht in die unglückliche Lage der Schwester zu bringen vermöchten.

»Sie weigerte alle Auskunft, meinte, ihres Wissens sei Effie mit ihrem Kind auf dem Arm bei Mondschein entwichen und habe das arme Ding vielleicht in die See geworfen.« – »Aber Sie halten es für nicht wahr?« rief Jeanie zitternd; »und warum nicht?« – »Weil ich diesmal die Tochter traf und von ihr herausbrachte, das Kind sei während Effies Krankheit weggeschafft oder ermordet worden. Aber all diese Auskünfte waren zu unsicher, als daß sich Weiteres hätte in Erfahrung bringen lassen. Bloß läßt mich der teuflische Charakter dieser alten Furie alles befürchten.«

»Die letzte Kunde stimmt mit der Aussage meiner armen Schwester überein,« sagte Jeanie; »aber, Herr, ich bitte Sie, Ihre eigene Erzählung fortzusetzen.«

»Daß Effie, so lange sie bei Verstand gewesen, keinem sterblichen Wesen ein Leid hat zufügen können, davon bin ich überzeugt,« erklärte Staunton, »was aber konnte ich tun, sie zu rechtfertigen? Nichts – und das brachte mich außer mir! Ich versuchte alles, sie zu retten, kroch demütig vor der alten Hexe, in deren Hand ja auch mein Leben lag, tat als ob ich ihr vertraute, aber ob sie mir auch Proben ihrer Treue gab, gelangte ich doch durch sie zu nichts Bestimmtem für Effies Rettung. Da brachte mich die Wut, die in ganz Edinburg über die dem Schufte Porteous bewilligte Galgenfrist herrschte, die ja immer nur das Vorspiel gänzlicher Begnadigung ist, auf den Einfall, mit dem Pöbel den Kerker von Edinburg zu stürmen, und so nicht bloß den Schuft der verdienten Strafe zu überantworten, sondern Ihre Schwester, Jeanie, den Klauen der Justiz zu entwinden. Als die Gärung den Höhepunkt erreicht, stürzte ich unter die rasende Menge, die mich zum Anführer wählte, und führte den Plan aus. Einem Vertrauten gab ich Auftrag, Effie, sobald die Meuterei das Gefängnis verließen, an einen sichern Ort zu geleiten, von wo ich mit ihr über See fliehen wollte. Aber alle Überredungskunst, die ich in der Eile des Augenblicks aufwandte, scheiterte an ihrem Starrsinn. Die Ehre sei verloren, sagte sie, und so habe auch das Leben für sie keinen Wert mehr.«

»Es war recht von ihr gehandelt,« sagte Jeanie, »zu bleiben, und ich liebe sie darum nur mehr.« – »Was soll das heißen?« rief er. – »Es wäre müßig, Ihnen Gründe darzulegen, für die Sie doch nicht Verständnis finden würden, denn wer nach dem Blute seines Feindes dürstet, hat keinen Sinn für den innersten, heiligsten Bronnen des Lebens.«

»So wurden meine Hoffnungen,« fuhr Staunton fort, »zum zweiten Male getäuscht. Mein nächster Versuch war, durch Ihre Hilfe dem wider Effie angehängten Prozesse einen günstigen Ausgang zu geben. Aber darüber brauche ich Ihnen nichts zu sagen, denn diese Vorgänge sind Ihnen ja so bekannt wie mir. Meinen Sie meinetwegen, es auch in mir mit einem Wahnsinnigen zu tun zu haben! Ich wußte nicht, wohin mich wenden, da alle meine Anstrengungen umsonst waren; und so floh ich aus Schottland, erreichte das Vaterhaus, mein elendes Aussehen erwärmte das Herz des Vaters, und er gewährte mir Verzeihung. Hier habe ich nun in Seelenangst, wie sie schlimmer kein dem Tode geweihter Verbrecher fühlen kann, den Verlauf des Prozesses gegen Effie abgewartet.« – »Ohne Schritte zu ihrem Heile zu tun?« fragte Jeanie. – »Ich hatte noch immer Hoffnung, es werde einen glücklichen Ausgang für sie nehmen,« antwortete er, »und erst vorgestern erreichte mich die Unglückskunde. Ich wußte, was mir allein noch zu tun blieb, und saß im Nu auf meinem besten Rosse, nach London zu jagen und von dem Staatssekretär der Justiz, Robert Walpole, Effies Leben zu erkaufen durch Auslieferung des berüchtigten Georg Robertson, des Spießgesellen von Andrew Wilson und Anführers des Edinburger Pöbels im Porteous-Aufruhr.«

»Und Sie meinen, das hätte meiner Schwester das Leben gerettet?« fragte Jeanie.

»So, wie ich die Sache eingefädelt hätte, ja!« antwortete er mit Festigkeit; »Rache ist ein Gift, das den Gaumen des Fürsten kitzelt wie den des Bauern. Was kann dem Staate liegen am Leben eines schlichten Landmädchens? Aber für das Haupt solch frecher Verschwörung gegen die Landesgesetze hätte man mir die Kronjuwelen nicht geweigert. Doch auch dieser Plan, der nicht mißlungen wäre, mußte scheitern, denn keine zehn Stunden von hier stürzte mein sonst so sichres Roß in eine Schlucht, wie von einer Kanonensalve niedergestreckt. Der Himmel ist gerecht und wollte mir den Mut nicht gönnen, freiwilligen Ersatz für Ihre Schwester zu stellen. Ich litt schweren Schaden an meinem Leibe und wurde in dem Zustande aufgefunden und zurückgebracht, in welchem Sie mich hier sehen.«

Kaum hatte Georg Staunton geendigt, als die Tür aufging und Toms ängstliches Gesicht sich in ihrem Rahmen zeigte. »Seine Hochwürden sind auf dem Wege die Treppe herauf, um Ihnen einen Besuch zu machen, gnädiger Herr!«

»Ums Himmels willen, Jeanie, verstecken Sie sich!« rief der junge Staunton, »dort im Ankleidezimmer!« – »Nein, Herr,« versetzte Jeanie, »ich bin nicht in böser Absicht hier und kann die Schande nicht auf mich laden, mich vor dem Herrn des Hauses zu verstecken.« – »Aber, Gott im Himmel, so bedenken Sie doch!«

Doch ehe er ausgesprochen hatte, ging die Tür auf, und sein Vater trat herein.


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